Mensching mit und ohne Wenzel

Zu den ausgestorbenen Wörtern, denen wohl selbst die Wochenzeitung ZEIT auf ihrer letzten Seite kein nostalgisches Memento widmen wird, gehört ohne jeden Zweifel „Namensträgertreffen“. Ein solches ereignete sich in Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, am 10. und 11. Mai 1986. Es versammelten sich aus der gesamten DDR Vertreter von Kollektiven, Institutionen und Sonstigem, soweit diese Kollektive, Institutionen und Sonstige den Namen „Herbert Baum“ trugen. Der 1912 geborene Baum war 1942 führend an einem Brandanschlag auf die Nazi-Ausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten beteiligt. Viele Vertreter seiner Widerstandsgruppe wurden bald darauf verhaftet, es ergingen zahlreiche Todesurteile, Herbert Baum selbst starb in der Haft.

Aus heutiger Sicht scheint es eher erstaunlich, dass die DDR, die mit den Namen von hauptsächlich kommunistischen Widerstandskämpfern nicht nur bei der Benennung von Kollektiven und Straßen fast kultisch umging, dieser Gruppe, zu der viele Juden gehörten und deren bekannteste Aktion letztlich eine terroristische war, so viel Zuwendung widmete. Die FDJ-Grundorganisation der Technischen Hochschule Ilmenau trug ebenfalls den Namen „Herbert Baum“ und als einer ihrer Vertreter, der nicht ganz freiwillig im wenig jugendlichen Alter reaktiviert worden war (was eine eigene Geschichte ist), reiste ich nach Berlin. Trotz all meiner Sammelleidenschaft für Dokumente besitze ich von diesen Berliner Tagen lediglich einen Brief, in dem ich in Berlin anfragte, ob ich eventuell einen Tag eher anreisen dürfe, um diverse Dinge erledigen zu können. Und ich besitze ein schmales Buch von 91 Seiten Umfang inklusive Inhaltsverzeichnis, das mir die ganze Angelegenheit überhaupt erst wieder in Erinnerung rief.

Steffen Mensching, im Mai 1986 noch keine 28 Jahre alt (wie mein Sohn heute) und unabhängig von der Jahreszeit fast sieben Jahre jünger als ich, war so etwas wie der kulturelle Stargast des Treffens, gemeinsam mit seinem dann langjährigen Partner Hans-Eckhardt Wenzel. Wie auch immer im Detail es geschah, ich kann mich nicht erinnern, kam ich am 9. Mai, also reiste ich tatsächlich einen Tag vorzeitig an, in den Besitz eines hübschen Autogramms in Menschings erstem Gedichtband nach dem Debüt im Poesiealbum 146, Titel „Erinnerung an eine Milchglasscheibe“. Mein Exemplar entstammt schon der zweiten Auflage, Gedichtbände erlebten damals solche Wunder. Und Mensching, dessen Haupthaar schon früh nicht in Neigung zu Üppigkeit brillierte, malte mir ein grünes Männchen mit wenig Haar über seinen nur ahnbaren Namen und schrieb darunter das erinnerungssichernde Datum 9. Mai 1986. Ich weiß, dass wir eine Weile redeten, vom Dichten, von Poetenseminaren, von den Herausgebern des Poesiealbums, das war damals Richard Pietraß, wenn mich nicht alles täuscht, vorher Bernd Jentzsch, der die DDR in Richtung Schweiz verließ. Ob wir über meinen ersten Literaturbeitrag in der Berliner Zeitung sprachen, weiß ich nicht mehr, er war zwei Tage zuvor am 7. Mai erschienen und dem 125. Geburtstag von Rabindranath Tagore gewidmet, dem indischen Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1913.

Am 23. September 1988 fragte Leonore Brandt für den „Sonntag“ bei mir an, ob ich bereit wäre, über eine Rostocker Konferenz zum Thema „Soziale Erkundungen in der Literatur der DDR – Das Individuum in den gesellschaftlichen Bedingungen“ zu berichten. Den letzten Satz des Briefes lese ich heute beinahe mit Rührung: „Mit dem Wunsch nach weiteren provokanten Texten, herzliche Grüße, Ihre Leonore Brandt.“ Am 5. Oktober teilte sie mir dann mit, im Kulturbund sei man „ein bißchen pikiert“, weil sie nicht selbst schreibe. Ein handschriftlicher Zettel erbittet meinen Bericht dann spätestens für den 14. November. In diesem finde ich folgenden Passus: „Und am Abend gab sich die Konferenz fröhlich: Steffen Mensching, neuerdings auch Schauspieler mit Filmpremierenerfahrung, las aus einem „Pygmalion“ betitelten Manuskript von den wundersamen Abenteuern eines Schriftstellers in geheimer Mission. Machte Appetit auf sein Spiel mit den Mitteln der Kolportage.“ Aus meinen Notizen während der Konferenz in der ungeliebten Stadt meines NVA-Grundwehrdienstes geht hervor, dass Mensching sich schon vor seiner abendlichen Lesung an der Arbeitsgruppendiskussion beteiligte, mehr als die Notiz „Medien, Zeitungen“ finde ich dazu jedoch nicht bei mir. Auch in Rostock sprachen wir kurz miteinander, worüber, ist mir nicht mehr erinnerlich. Das packende Hauptreferat hielt damals Karin Hirdina, die am 2. September 70 Jahre alt geworden wäre, einer der eifrigsten Diskutanten war Horst Matthies.

Schon Freiberufler war ich und Kritiker in euphorischer Stimmung, weil die Auftragslage mir beste Aussichten eröffnete, als ich Mensching, diesmal wieder im Duo mit Wenzel, in der Mensa der TH Ilmenau traf, die Mensa III war es, bilde ich mir ein, und ehe es losging, verlasen sie (wer, weiß ich nicht mehr) die berühmte Erklärung der Unterhaltungskünstler, die eine andere, eine bessere DDR wollten. Geschrieben habe ich darüber nicht, weil die heute immer noch existierende Tageszeitung „Freies Wort“, die einzig ein Abnehmer hätte sein können, in Linietreue erstarb und mich mit dem Verweigern meiner Besprechung zu Landolf Scherzers „Der Erste“, es wäre die erste in der DDR geworden, die sie sogar selbst bei mir bestellt hatte, endgültig zum Abbruch der Beziehungen nötigte. Und doch wurde „Freies Wort“ die Zeitung, die den einzigen Artikel veröffentlichte, den ich je über Mensching schrieb. Er erschien am 20. April 2000* unter der Überschrift „Steffen Mensching war allein da“, die Unterzeile lautete „Wenig Publikum spendete viel Beifall“. Da aber hatte die DDR schon ziemlich lange sämtliche Bürgersteige hochgeklappt. Und mir fiel eher der Unterschied zwischen Arnstadt und Ilmenau ins Auge.
 *Der damalige Artikel zum Nachlesen in meiner Rubrik „Alte Sachen“


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