Reto Flückiger und die Migräne

Es fällt schwer, die Prozedur nicht als demütigend zu empfinden. Der 16 Jahre alte Nigerianer, der eingangs Befragung und Leibesvisitation über sich ergehen lassen muss, liegt zwei Jahre später erstochen unter einer Brücke in Luzern. Er hat neben der Stichverletzung eine weitere an der Stirn, die etwas älter ist. Wie die zustande kam, weiß der Fernsehzuschauer des inzwischen achten Schweizer Tatorts mit Retö Flückiger, des siebenten mit Liz Ritschard. Ein Maskenmann schlug ihm mit der Pistole gegen die Stirn, während er eine Drogenwerkstatt überfiel und ausraubte. Dass genau dieser Mann gar keiner war, gehört zur Lösung des Falles, der Luzern mit Facetten zeigt, die man der Stadt gar nicht zutrauen möchte, selbst wenn man sie auch abseits der ausgetretensten Touristenpfade recht gut kennt. Die Kamera will Bilder von Trostlosigkeit und Beklemmung und findet sie an realen Schauplätzen. Was mag sonst in dem bunkerartigen Bau sich befinden, in dem die jungen Asylbewerber ihre betreute Heimunterkunft haben? Oder ist sie das gar selbst? Dass Polizeichef Mattmann wie immer der Unsympath des Abends ist, überrascht nicht mehr. Mehr Negativ-Klischee geht kaum, das kann also nur pure Realität sein.

Für diesen Polizeichef ist der Fall des toten Asylbewerbers aus dem Drogenmilieu ein Fall, auf den nur der geringstmögliche Ermittlungsaufwand angewendet werden soll. Seine der Verachtung preisgegebene Sicht auf die Schweizer Welt ist so krass angelegt, dass sie selbst staatsfrommen Beamten den Protest in den Kreislauf drücken muss. Die Luzerner Drogenabteilung ist wie alle Polizeiabteilungen in allen Krimis chronisch unterbesetzt, die notorische Erfolglosigkeit im Ganzen prägt selbst bei großen Erfolgen im Detail eine ganz bestimmte Dauerresignation aus, die sich in Zynismus Luft macht. Man kommt wie immer in der Drogenszene nur an die kleinen bis höchstens mittleren Fische, deren Wege man kennt und beobachtet, die Drahtzieher und Drahtzieherinnen erwischt man nicht. Und wenn doch einmal wie an diesem Luzerner Abend, dann sieht man im nächsten Schnitt, wie unberührt die Dealer-Geschäfte weiter laufen, man erkennt sogar die Gesichter der Akteure wieder vom Vorspann und den ersten Szenen.

Für die jungen Nigerianer wie die anderen im Heimbunker auch gibt es eine bürokratische Kurzbezeichnung: UMA. Das heißt unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber. Ihre Perspektive ist die Abschiebung, wenn sie die Volljährigkeit erreicht haben. Ausnahmen sind nicht die Regel. Man weiß als geschulter Fernsehzuschauer, dass man herzlose Bürokratie der Kritik ausgesetzt sieht. Man hört die Leerformeln, die so leer gar nicht sind, nur herzlos sind sie in der Tat. Bürokratie mit Herz muss noch erfunden werden, homöopathischen Herzenselemente in derartigen Abläufen tragen den wenig poetischen Namen Ermessensspielraum. Im Film steht die Aussage am Pranger, dass eine Vergewaltigung keinen Asylgrund darstellt. Niemand wird dem nicht sofort zustimmen wollen. Aus Indien, dem Land der Massenvergewaltigungen und der sexuellen Frauenverachtung erwürben sich umgehend dreihundert oder mehr Millionen Frauen Asylrecht in Europa. So lautet die Logik, angesichts derer die europäische Empfangskultur sofort rapide abkühlt, falls sie die Frage überhaupt zulässt. Dieser Schweizer Tatort macht es sich zum Glück nicht zu einfach.

Dafür hat Retö Flückiger plötzlich Phänomene, die ihn einen Hirntumor befürchten lassen. Man hofft inständig, dass das nicht der Fall ist, einen Tumor-Kriminalisten hatten wir ja erst in Felix Murot alias Ulrich Tukur. Der Arzt tippt auf Migräne und empfiehlt dem Ermittler als Soforthilfe Gesichtsmuskeltraining, er soll grimassieren, am besten grinsen. Auch das tut Flückiger nur einmal, dann lässt er es. Dass die Schmerzattacken mit Brechanfällen verbunden sein können, hört man dagegen als Geräuschkulisse aus dem Nebenraum, nachdem er fluchtartig aus dem Bild verschwand. Die Beeinträchtigung hält ihn jedoch nicht davon ab, gegen den Rat seiner wie immer bildschönen Kollegin Liz Ritschard den Rücksitz ihres Autos zu verlassen, während sie seine Pillen holt, um, nun um eben zu observieren. Das Mädchen Jola, dem der Junge Navid in fürsorglich-schüchterne Liebe zugetan ist, hat nicht nur Schlimmes hinter sich und ist deshalb zutiefst misstrauisch. Jola ist die Schwester des ermordeten Jungen.

„Wenn das Volk verschärfte Asylgesetze will, müssen Sie sich beim Volk beschweren“, sagt der Beamte, der kein Sozialarbeiter ist, sondern Beamter. Natürlich weiß er, dass Generalverdacht schlecht ist, aber alle vernünftig Denkenden wissen auch, dass Generalabsolution nicht minder schlecht ist. Die Drogenszene mit ihrer vorgeführten Struktur ist eben nicht wegzudiskutieren, die böse Not in Afrika, die mit der Ölverseuchung verbundene Vernichtung von Lebensgrundlagen in Nigeria, die kurz am Laptop-Bildschirm eingespielt ist, das alles ändert ja nichts an der brutalen Realität, dass nicht alle Armen dieser Erde in einem der reichsten Länder der Erde, eben in der Schweiz, Platz finden können. Dieser Luzern-Krimi führt mitten hinein in Debatten, deren Ende eben nicht längst bekannt ist. Und er präsentiert im Finale einen Täter, der auf höhere Art unschuldig ist. Mord unter irrtümlichen Voraussetzungen, Mord, der gar kein Mord im herkömmlichen Sinne ist und alle, denen man ihn eher zugetraut hätte, in einer Weise entlastet, die allem Gerechtigkeitsgespür widerspricht. Diese Art Happy End wäre freilich zu billig. Nachdem es 2012, 2012 und 2014 je zwei Schweizer Tatorte gab, wird das 2015 nicht anders sein. „Sniper“ heißt die nächste Folge schon am 6. September, damit rahmen die Eidgenossen aus Luzern die diesjährige Sommerpause von beiden Seiten ein.


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