Reto Flückiger unter den Tschetschenen

Man sieht einen Grenzübergang. Man sieht einen weißen Kleinlaster. Mit dem Logo einer Spargel-Firma. Ein Fahrer öffnet die Hecktür, lässt ein junge Frau aussteigen. Sie fragt: Luzern? Er bellt sie an, dass hier für ihn Schluss sei. Der Zuschauer muss sich, wenn er den Akzent der Fragenden hört, die abgelegene Tankstelle sieht, nicht lange überlegen, was er sieht: einen illegalen Grenzübertritt. Der jungen Frau gelingt es, einen jungen Mann, der eigentlich nach Zürich will, mittels eines eindeutigen, geflüsterten Angebotes dazu zu bringen, sie bis Luzern mitzunehmen. Sie hat dort Familie. Der Schweizer Tatort bliebt konsequent bei seiner Linie, keinen touristischen Hochglanz zu zeigen. Im Krimi sieht Luzern aus, als wäre es gar nicht Luzern, allenfalls mal als Schwenk, bei dem man, wenn man aufpasst, das Verkehrshaus der Schweiz erkennt. Sonst öde Randgebiete, die Bauten, die man traditionell sieht, wenn einem soziale Brennpunkte suggeriert werden sollen. Merke: Auch die Schweiz sieht nicht überall aus wie eine Freiluft-Puppenstube. Immerhin, der Bruder der jungen Frau wohnt mit Frau und Kleinstkind in einer ansehnlichen Wohnung.

Man sieht Reto Flückiger bei einer sexuellen Aktivität. Also man sieht so viel nicht, es ist Schweiz, aber immerhin. Dann steht er mit Freundin auf dem Hotelbalkon, es fliegt von oben etwas nach unten, das Flugobjekt ist ein Mann, der unten auf ein Autodach knallt und tot ist. Danach. Reto Flückiger saust nach oben, bekommt dort etwas gegen den Kopf und ist erst einmal außer Gefecht. Als er aufwacht, schaut ihm Liz Ritschard ironisch-besorgt ins Gesicht. Es gibt eine Nebenhandlung. Denn die Frau ist eine verheiratete Frau. In zirka dreitausend Krimis verweigern vorübergehend Verdächtige die Auskunft, wer es ist, der ihnen ein Alibi geben könnte, weil derjenige, diejenige sich kompromittieren würde. Hier ist mal der eine nicht der Verdächtige und die andere kommt gar nicht erst dazu, sich aus allem herauszuhalten, sie ist schon als Zeugin erfasst. Flückiger steht später vor dem Haus, in dem sich eine Szene abspielt: der betrogene Ehemann fuchtelt, die ihn betrügende Ehefrau fuchtelt auch. Später will der Mann sich umgehend scheiden lassen und er will auch die Kinder. Liz Ritschard würde ihren Reto gern glücklich sehen.

Delia Mayer, wir wissen es, ist, wenn wir nicht gerade aus den Augen eines Grünschnabels schauen, eine rasend attraktive Frau. Stefan Gubser wäre passförmig, aber das wäre eben allzu passförmig. Erst einmal ist natürlich der Tote wichtig, der ein investigativer Journalist war. Es besteht eine ganz direkte Korrelation zwischen der Brisanz eines Recherche-Themas und der Lebenserwartung des Recherchierenden. Bald kommt die Konstellation in den Film, die die Fußangeln so dicht nebeneinander legt, dass die Macher kaum anders können, als sich in mindestens einer zu verfangen. Wohl deshalb hat die Mutter aller investigativen Programm-Zeitschriften den Film zum „Tipp des Tages“ ernannt, weil er die Meidbewegungen angesichts der Fußangeln ziemlich gut in Wort und Bild setzt. Denn die Tschetschenen sind schon lange kein Volk mehr, das sich auf einen pauschalen Mitleidsvorschuss und sonst komplette Vorurteilslosigkeit verlassen kann. Die Russen auf der anderen Seite sind zwar immer noch das Böse schlechthin oder wieder sind sie es, was sehr praktisch für alle ist, die davon Nutzen ziehen, aber sie sind es nicht ausschließlich.

Man sieht noch an der Frisur des russischen Diplomaten, der den guten Jean-Pierre Cornu als Mattmann ein wenig unter Druck setzen möchte mit einem Auslieferungsersuchen, dass im Klischee das Böse immer auch hässlich und geschmacklos aussieht. Mit so einer Frisur sitzt man im Aufklärungsfilm der siebziger Jahre mit schweißnassen Händen am Guckloch einer Peep-Show und nicht auf dem Besucherstuhl eines schweizerischen Polizeichefs. So nach und nach, das ist der Job eines jeglichen Krimis, wird ein Hintergrund entfaltet, vor dem sich das Vordergründige abspielt. Die junge Frau vom illegalen Grenzübertritt etwa führt einen ziemlich wuchtigen Revolver mit sich. Sie ist die Zwillingsschwester des jungen Vaters, bei dem sie Quartier findet. Es gibt eine Liste mit elf Namen, von denen einer einer ist, der schwerste Verbrechen beging im Tschetschenienkrieg. Der soll offensichtlich in einem Racheakt umgebracht werden. Auf den Fersen sind ihm aber neben den Russen eben auch die Geschwister, der Bruder zunächst nur unfreiwillig, dann aber unter Einsatz des eigenen Leben. Der Gesuchte ist der Onkel der Zwillinge, der sich auf den Krieg herausredet.

Es sei eben so im Krieg gegen die Russen, glaubt er oder behauptet es wenigstens, dass man auch mal eine Mutter als Selbstmordattentäterin missbraucht. Wir sehen und es überrascht uns nicht: Diese Kriege kommen zu uns, es bleiben nie die einen dort und die anderen kommen, es kommen beide, der Konflikt siedelt um oder breitet sich aus. Asylgebende Länder verwandeln sich, das Risiko ist kaum als Restrisiko kleinzureden, in Kriegsschauplätze, schlimmstenfalls. Es gibt noch eine Fotografin, die mit dem ermordeten Journalisten in Tschetschenien war, er hat gegen sie ein Kontaktverbot erwirkt, ein handwerklich sauberer Krimi muss immer auch auf Nebenwege führen, sonst wäre nicht selten die Spielfilmlänge in Gefahr. Es wimmelt von Fingerabdrücken am Tatort. Schließlich ist der Täter eine Täterin, es ist eher eine unglückliche Aktion, die zum tödlichen Fenstersturz führt, keineswegs gezielter Mord. Obwohl: ganz kurz blitzt das Potential auf, das das vermeintlich friedfertige Mütterchen mit Kopftuch zur Zeitbombe machen könnte. „Kriegssplitter“ ist das alles betitelt. „Stimmiges Ensemble, solide erzählt, spannend“ steht im Programm. Ja, doch.


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