Walther Kauer: Wecker-Gerassel
„Zehn vergnügliche Geschichten“ sind das, der Benziger Verlag hat den Schutzumschlag von Ted Scapa gestalten lassen. Scapa, am 17. Januar 1931 in Amsterdam als Eduard Schaap geboren, nahm den Buch-Titel sehr wörtlich und zeichnete ein im Bett sitzendes Paar mit aufgerissenen Augen, die Hände brav auf der großkarierten Bettdecke, in der Mitte zwischen den beiden Köpfen der rasselnde Wecker wie ein Gesicht mit aufgerissenem Mund. Man erwartet von Titel und Titel-Bild eher eine Eulenspiegelei als Tiefenbohrungen zu Urphänomenen. Was man auf keinen Fall erwartet, ist ein erklärendes Nachwort. Wenn der Schweizer Walther Kauer (4. September 1935 – 27. April 1987) dennoch eines geschrieben hat, dann zeugt das von Unsicherheit. „Die Geschichten in diesem Bändchen übernehmen wohl die Weckerfunktion, indessen nicht, um den Bürger zur Arbeit zu treiben, sondern um ihm mit scheinbar lustigen Geschichten die Ereignisse des täglichen Lebens, Begriffe aus der politischen Mottenkiste, behördliche Willkür, Bürokratismus und manchmal auch schlichte Dummheit zu erklären, näherzubringen, durchschaubarer zu machen. Es ist durchaus möglich, dass dabei dem einen oder anderen Leser das vordergründige Lachen im Halse stecken bleibt. Und vielleicht wird er noch während des Hustens zu denken beginnen ...“.
Auf Frühjahr 1981 ist dieses mehr als seltsame Statement datiert, 1981 erschien auch das Buch. Seine zehn Geschichten sprechen, wie auch immer, so eindeutig, so überdeutlich zum Teil, für sich selbst, dass der Nachsatz des Verfassers strenger genommen wie ein schlechter Witz wirkt. Hielten er und sein Verlag ihre potentiellen Leser für begriffsstutzige Volltrottel, dann müsste man fragen, was sie überhaupt zu der Annahme brachte, solche würden ein solches Buch kaufen und lesen. Geschah alles gedankenlos, wären wir urplötzlich an einem Knackpunkt des Buches und wahrscheinlich auch des literarischen Werkes von Kauer insgesamt. Denn Gedankenlosigkeit begegnet dem aufmerksamen Leser immer wieder in diesen Geschichten, die dennoch, wenn auch nicht alle in gleichem Maße, vergnüglich zu lesen sind. Man muss freilich gleich bei der ersten Geschichte den guten Willen aufbringen, diese Art von Beamten-Satire immer noch und immer wieder lustig zu finden. Kauer dehnt die berühmte und leider uralte Witzfrage auf fast 27 Druckseiten aus, die da lautet: Was ist Beamten-Mikado ? - Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Wie er dabei die fiktive Zuspitzung eines fiktiven Baurechts-Konflikts zu einer beinahe Krieg bedeutenden Eskalation zwischen den USA und der Schweiz führt, ist durchaus lustig.
Ob das Lachen darüber, soweit es vordergründig bliebe, ich musste nicht lachen, in etwelchen Hälsen stecken bleiben könnte, bezweifle ich nach Kräften und inbrünstig. Den pädagogischen Sinn von in Hälsen steckendem Lachen nebst Begleithusten bezweifle ich ebenfalls nach Kräften und inbrünstig. Ich halte es auch für ziemlich ausgeschlossen, dass wirklich lebende Menschen Husten mit Denken kombinieren, während Gedankenlosigkeit ihre hustenfreien Momente begleitet. Kauer stilisiert offenbar eigene Harmlosigkeiten, weil ihm solche in einer eigenen Wertskala untermaßig erscheinen. Das hätte er freilich allein mit sich auszumachen. 1984, drei Jahre nach diesem Buch, ist Kauer von Fredi Lerch (in Roggwil am 10. August 1954 geboren) während der Solothurner Literaturtage beobachtet worden, wie er im Saal des Restaurants Kreuz mit René E. Müller becherte, während vorn emsig diskutiert wurde. Als drei Jahre später der erste ostthüringische Humorist in Solothurn einritt, hatte Kauer seinen tödlichen Motorradunfall schon hinter sich. René E. Müller (3. Mai 1929 – 6. Februar 1991) musste allein weiter saufen, was er nach Kräften tat. Als Benita Cantieni (am 21. Februar 1950 im St. Galler Rheintal geboren) für ihre Interview-Serie „Schweizer Schriftsteller persönlich“ mit Walther Kauer sprach, sprach sie mit einem Alkoholiker.
Die Journalistin lernte einen Mann kennen, mit dem strenger genommen kaum zu reden war, sie erfuhr wenig von ihm selbst, dafür bedeutete Kauer ihr, sie finde seine Autobiografie in seinen Büchern. Aus der Not hat Benita Cantieni dann eine Tugend gemacht, hat ihrem Porträt Zitate vor allem aus den von Kauer selbst benannten Romanen „Tellereisen“ und „Schachteltraum“ eingefügt und sehr deutlich gemacht, wie sehr ihr Gesprächspartner sie nervte. Ihr eigenes Nachfragen zu den ihrer Meinung nach schwach und negativ gezeichneten Frauenfiguren seiner Bücher verbesserte die Atmosphäre vermutlich auch nicht sonderlich. Herausgekommen ist dennoch und genau deshalb verweise ich auf die Buchfassung der Interviews, 1983 im Verlag Huber Frauenfeld und Stuttgart erschienen, ein sehr lesenswerter Text, der sehr viel über Walther Kauer verrät. Auch über seine offenbar chronische Aufschneiderei, Renommierlust, über Selbstmitleid, Larmoyanz, seine falschen Schuldzuweisungen, seine teilweise haarsträubend einseitige Weltsicht. Dietrich Simon schloss seine Vorstellung des Romans „Schachteltraum“ im 1978 im Volkseigenen Verlag Volk und Wissen veröffentlichten „Romanführer A – Z. 20. Jahrhundert“, Band 3, mit einer Charakteristik, die er schon wenige Jahre später vermutlich nicht mehr mit seinem Namen unterzeichnet hätte.
Wir lesen: „Kauer gehört zu den wenigen Schweizer Autoren, die dem sozialistischen Realismus verpflichtet sind und in diesem Sinne Klassengegensätze vom Standpunkt der arbeitenden Klasse aufdecken. Am Beispiel des Missbrauchs der ökonomischen Macht eines einzelnen, der vom staatlichen Machtapparat nichts zu befürchten hat, hat er Teilaspekte des imperialistischen Herrschaftssystems erfasst.“ Im Gespräch mit Siegfried Lokatis, gedruckt im Band „Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt“ (Chr. Links 2003) sagte Simon: „Eine Ausnahme war Kauer, der einzige, mit dem wir wirklich am Text gearbeitet haben. Er war ein linker Journalist, der über Jean Villain zu uns gekommen ist. Kauer legte uns ein verwirrtes und verwirrendes Manuskript vor, aus dem wir in drei oder vier Jahren einen Roman gemacht haben, der dann auch den Titel „Schachteltraum“ bekam.“ Diese Vorgeschichte kannte Jürg Altwegg, Schweizer Journalist, der lange für die ZEIT und dann für die FRANKFURTER ALLGEMEINE arbeitete, sicher nicht, als er „Schachteltraum“ und den späteren Roman „Spätholz“ besprach. Was er bemerkte am durchaus von ihm geschätzten Buch, war ein literarisch nicht gerechtfertigter propagandistischer Schluss. Den das Lektorat in Ost-Berlin, damit Dietrich Simon, verantwortete.
Wie „Schachteltraum“ der sicher einzige Schweizer Roman war und blieb, der zuerst in der DDR und mit Jahren Verspätung dann erst in der Schweiz gedruckt wurde, so ist auch eine der besten, vielleicht die beste Erzählung des Bandes „Wecker-Gerassel“, zuerst in der DDR veröffentlicht worden. Es handelt sich um „Der Mann mit dem Lexikon“, aus dem unveröffentlichten Manuskript gedruckt in „Erkundungen. 35 Schweizer Erzähler“. Schon aus „Wecker-Gerassel“ entnommen wurde dann „Der Computer“ für „Erkundungen II. 42 Schweizer Erzähler“. Es ist nicht nur bibliografischer Vollständigkeits-Eifer in solchen Angaben. Denn das repräsentative KLG (Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur) hat nicht nur einen ungemein schwachen und auch noch miserabel geschriebenen Essay zu Walther Kauer publiziert, es hat auch die Sekundärliteratur in der DDR komplett ignoriert, es fehlen damit mindestens die von Regina General verantworteten aussagekräftigen Beiträge im „Sonntag“ und den „Weimarer Beiträgen“, die bezüglich des Romanes „Schachteltraum“ trotz ewiger Wartezeiten bis zur schließlichen Veröffentlichung deutlich vor allen Besprechungen in der Schweiz und der BRD lagen. Und Regina General legte auch schon den Finger auf die unübersehbaren literarischen Schwächen des Romans.
Benita Cantieni formulierte es so: „Alle Bücher von Kauer sind raffinierte Rückblendwerke, da passiert immer auf verschiedenen Ebenen und diversen Zeiten unheimlich viel, und da fallen Ungereimtheiten kaum noch auf.“ Tatsächlich trifft das sicher eher für die Romane zu, acht sind das schließlich bis zum vorzeitigen und abrupten Lebensende 1987 geworden, als für die kurzen Geschichten, ob vergnüglich oder weniger vergnüglich. In den Geschichten springen Ungereimtheiten, will man sie denn so nennen, schneller ins Auge. In „Die Ameisen“ etwa wird zu Beginn die Erwartung geweckt, es gehe um eine eindeutige Sache: „Einmal – auch wenn das noch so utopisch klingen mag – wird der Tag kommen, an dem die Menschheit sich mit dem Gedanken zu befassen haben wird, was sie mit den letzten Generalen anfangen soll.“ Mein Kalauer-Vorschlag dazu wäre: Man nenne sie Regina und lasse sie über Walther Kauer schreiben. Kauer aber erzählt nun von einem Museumsdiener, der zwei Generale im lebenden Zustand in einen Schaukasten gestellt bekommt. Einerseits weiß dieser Diener nicht, was er vor sich hat, andererseits kann er mit den „Viechern“ kommunizieren, der Leser erfährt, beide hätten im Zoo versucht, die Affen exerzieren zu lassen. Nun im Glaskasten jagen sie kriegerische Ameisenvölker gegeneinander.
Man kann einfach nicht nicht wissen, was man ausstellt und zugleich wissen, dass die Wesen Feldbetten brauchen und Sandkästen für Strategiespiele. Die an sich durchaus hübsche Geschichte „Ein Wirtschaftswunder“ krankt daran, dass es vollkommen unglaubhaft ist, dass eine ganze Reihe von Menschen des praktischen schweizerischen Lebens nicht merken, dass ihnen Falschgeld, Theatergeld, in die Hand gedrückt wird. Der Kreislauf des Falschgeldes bewirkt in der Tat einiges, was man Investitionen nennen könnte. Noch verrückter aber ist die Annahme, ein Chefredakteur könnte seinem nicht sonderlich geliebten Mitarbeiter wochenlang Zeit für eine einzelne Story lassen, von der er noch nicht einmal weiß, was es für eine werden soll und ihm dann auch noch eine erkleckliche Summe dafür leihen, wenn es dann auch nur Theatergeld ist. Was der Journalist ebenfalls nicht bemerkt. Selbst noch so vergnügliche Geschichten brauchen eine innere Logik und Folgerichtigkeit. Jürg Altwegg, der auch das Kauer-Buch „Abseitsfalle“ besprach und sich sehr viel Mühe gab, allein die Tatsache, dass jemand überhaupt dem Fußball einen Roman widmet, zum mildernden Umstand zu machen, konstatierte Kitsch, plumpe Symbolik, Farblosigkeit, ihm fällt Kauer „seiner Tendenz zu moralinsauren biederen Proleten-Idyllen“ zum Opfer.
Valentin Herzog hat Walther Kauers Produktion nach 1979 als „allzu sehr von privater Verbitterung und literarischer Hilflosigkeit geprägt“ gesehen, „das Gesellschaftsbild bleibt Karikatur“ galt ihm schon für den „Schachteltraum“. Benita Cantieni resümierte fast resigniert: „In mühsamer Kleinarbeit versuche ich, ein Stück Kauer-Biographie zusammenzubringen. Wenn er alles hinter sich hat, was er erzählt, so könnte er an die 150 Jahre alt sein.“ Zu solchen Erzählungen gehört die Mär von einer eigenen Karriere als Fußball-Profi wie der Kampf im Algerien-Krieg auf algerischer Seite. Nimmt man ihn allerdings beim Wort, wenn es um Figuren von Schriftstellern und/oder Journalisten in seinen kürzeren oder längeren Texten geht, dann zeichnet er sich selbst durchaus sehr kritisch und distanziert, bisweilen schlägt gar eine Spur von Selbsthass, Selbstekel durch, was zum Bild eines Alkoholikers allerdings wunderbar passt. Spätestens hier muss ein seit 2014 nicht mehr geheimes Geheimnis seines Lebens gelüftet werden, es liegt weder in seinen vier Ehen noch den vier Scheidungen. Der Züricher TAGES-ANZEIGER machte eine Flucht Walther Kauers in die DDR im Jahr 1963 öffentlich. Das Aufnahme-Verfahren in die DDR-Staatsbürgerschaft endete, nachdem Kauer volltrunken im Aufnahmeheim Frankfurt/Oder randaliert und gepöbelt hatte.
Vorausgegangen waren laut Recherche der Zeitung jahrelanger Ärger um Zechprellerei und Mietschulden, sieben Monate Gefängnis, eine drohende Reststrafe. Walther Kauer ließ sich auf eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit der DDR ein, schrieb emsig über Verbindungen aus Bern zu Fluchthelfern in West-Berlin, die mit falschen Pässen operierten. Die Zusammenarbeit endete kläglich: „Die Schweizer Botschaft zahlte Kauer den Flug nach Hannover und die Bahnfahrt nach Bern.“ Mit diesem Wissen liest sich die eigentlich hübsche Geschichte „Moskau einfach“, die achte in „Wecker-Gerassel“, ganz anders. Dort landet ein sich heftig selbst überschätzender Möchtegern-Journalist mit einem Ticket „Moskau einfach“ aus der Schweiz in Moskau, er hat fast alles falsch gemacht, was man in der Branche falsch machen kann, lügt sich darüber aber selbst kräftig in die Taschen. Und glaubt dies: „Dort, wohin er jetzt fliege, warte man auf Männer wie ihn, Männer, die gewillt seien, dem System den endgültigen Todesstoß zu versetzen.“ Nur hat man in Moskau bald die Nase voll von ihm und schickt ihn per Flug zurück. Die wirklich schöne Pointe der Geschichte: Dieser Jakob Pfäffli, der sich selbst Jack Pasteur nennt, fliegt fortan hin und her, her und hin, denn niemand will ihn in sein Land lassen. Er lebt in der Luft, was durchaus symbolisch zu sehen ist.
DDR-Lesern bekannte Walther Kauer übrigens, dass in der Schweiz höchstens 1500 Exemplare Startauflage zu erwarten seien, eine DDR-Publikation mit meist 10.000 Exemplaren also lukrativ wäre. Gegenüber Benita Cantieni dagegen prahlte er mit Schweizer Auflagen von 30.000 pro Buch und allein 26 Übersetzungen des Romans „Spätholz“. Jürg Altwegg berichtet bezüglich „Schachteltraum“ von einer Weigerung des Verlages Volk & Welt, eine Lizenzausgabe zu erlauben. Er benennt auch, und bestätigt damit wenigstens teilweise und indirekt die DDR-Ambitionen um Kauer, was noch Mitte der siebziger Jahre in der Schweiz als Tabu galt an Themen: „Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg; die Ausnützung flüchtiger Polen … der angeschlagene Mythos vom Widerstand gegen den Faschismus, das blühende Geschäft der Waffenhändler; die Fremdarbeiter aus Italien; das Einschließen in psychiatrischen Kliniken als Mittel politischer Repression“. Vor allem Letzteres wird gern als besonders verachtenswerte Methode im Machtbereich Stalins genannt und herangezogen. Die Schweiz auch? In die zehn vergnüglichen Geschichten ist von all dem freilich nichts eingeflossen, sie sind harmlos und waren sicher auch wirkungslos, denn so nett sich die Parabel gegen das Wachstumsdogma liest, die „Der Fischer“ heißt, mehr als nett ist sie nicht.
Den KLG-Essay zu Walther Kauer hat Bruno H. Weder verfasst, den man im Internet zwar nicht mit Daten zu seinem Leben, wohl aber als Anbieter von Kursen für kreatives Schreiben findet. Er beginnt auf folgende unnachahmliche Weise: „Versteht man das Historische in der Extrapolation als wichtigen Fingerzeig für Gegenwärtiges, als zeitlichen Längsschnitt sozusagen; versteht man ferner die Gesetzmäßigkeit einer in ihrer Gesamtheit gleichbleibenden, in ihren Einzelheiten sich verändernden Gesellschaft, als Prinzip von actio und reactio in einem mehr oder weniger festen Gefüge; versteht man weiterhin das Prinzip einer Vermengung von retardierenden und katalysatorischen Elementen, dann ist auch das Bauprinzip der wichtigsten Werke Walther Kauers zu verstehen.“ Nach meinen vier Semestern Logik folgt daraus, dass Walther Kauer nie und nimmer verstanden werden kann, jedenfalls sein Bauprinzip nicht, was allerdings auch niemanden interessiert, weil just diesen Blödsinn in Spreizsprech natürlich niemand verstehen kann. Bliebe zu hoffen, dass nicht alle Teilnehmer an Weders Schreibkursen entnervt in die Milchviehproduktion gewechselt sind und wenigstens einige an der Rückforderung ihrer Kursgebühren das Schreiben von Sätzen üben. Der tote Walther Kauer hat solchen lexikalischen Mummenschanz nicht verdient.