Walter Matthias Diggelmann: Der Pilot

Um 1990 hat Klara Obermüller (77) die Überzeugung gewonnen, dass Walter Matthias Diggelmann Gefahr laufe, in Vergessenheit zu geraten. Das brachte sie auf den Gedanken, eine Ausgabe seiner Werke zu planen, um das zu verhindern. Der sechste und letzte Band der insgesamt 1630 Seiten umfassenden Edition erschien 2006, Selbstzeugnisse und Briefe enthaltend, das Echo war, nimmt man die Bibliographie der Sekundärliteratur zum Maßstab, welche das KLG (Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur) publik hält, alles andere als berauschend. Es sagt schon viel, dass der aktuelle Stand dieser Zusammenstellung noch heute vom 1. Februar 2007 datiert und nur eine einzige Besprechung überhaupt zur Werkausgabe enthält, sie stand am 22. Juni 2006 in der Wochen-Zeitung Zürich (WOZ) und ist geschrieben von Fredi Lerch (63). Fredi Lerch war offenbar der erste in der Schweiz, der knapp vier Jahre nach dem gewürdigten 75. Geburtstag Diggelmanns überhaupt wieder öffentlich an den am 29. November 1979 gestorbenen einstigen Skandalautor des Alpenlandes erinnerte. Lerch sprach für seinen Beitrag mit der Herausgeberin, die Diggelmann 1977 geheiratet hatte nach fünf gemeinsamen Jahren zuvor, danach herrschte mediales Schweigen.

Nun darf man gerade in Sachen Diggelmann das KLG keineswegs für eine letztinstanzliche Quelle halten, allein zum berühmtesten der zehn Diggelmann-Romane, „Die Hinterlassenschaft“, fehlen fünf mir bekannte Besprechungen, vier schweizerische und eine westdeutsche, für „Freispruch für Isidor Ruge“ fehlt die Stimme von Gottfried Just in der „Stuttgarter Zeitung“, eine spätere von ihm aus der „Süddeutschen Zeitung“ ist aufgeführt, nicht aber, dass beide auch in einem Sammelband mit Kritiken Justs enthalten sind, der sich am 20. September 1970, nur 32 Jahre alt, das Leben nahm. Auch der KLG-Essay von Walter Schmitz macht nicht den Eindruck, als habe der Autor sich über ein unerlässliches Mindestmaß hinaus für seinen Gegenstand interessiert. Wohl werden die Romantitel alle ein- oder mehrmals genannt, bei den Erzählungsbänden sieht es schon dürftiger aus, zu den Arbeiten für die Bühne, den Funk und das Fernsehen fällt kein Wort. Jenen Film aus dem Jahr 1973 mit dem Titel „Die Selbstzerstörung des Walter Matthias Diggelmann“, den Klara Obermüller besprach und der dann zur persönlichen Bekanntschaft der namhaften NZZ-Autorin mit dem „Film-Helden“ führte, kennt Schmitz ebenso wenig wie den täglichen Kolumnisten W.M.D.

Ich greife aus dem Schaffen des heute vor genau 90 Jahren geborenen Diggelmann voller Absicht ein kleines Bühnenwerk heraus, das vermutlich nach der Uraufführung 1964 zur EXPO in Zürich nicht mehr allzu oft gespielt worden ist. Das ist, um das Fazit vorwegzunehmen, nicht unbedingt zu bedauern. Zu bedauern ist allerdings, dass Walter Schmitz, der dem Roman „Freispruch für Isidor Ruge“ in seinem KLG-Essay vergleichsweise viel Platz einräumt, nicht weiß, dass der Stoff vom Bomber-Piloten, der die Schuld für Hiroshima auf sich nehmen will, eben in diesem Einakter bereits auf eine durchaus bis heute Interesse weckende Weise gestaltet wurde. Überhaupt zeichnet sich das Werk Diggelmann dadurch aus, dass bestimmte Tatbestände und Erlebnisse seiner Biographie immer wieder in den Romanen und Erzählungen auftauchen, als Episoden fast pur, als Anlässe für Reflexionen, für neue Anläufe mit sich selbst umzugehen. Auch auf den Roman „Ich heiße Thomy“ (1973), der nur im übertragenen Sinne für scharfen schweizerischen Senf wirbt, nämlich für Klassenkampf per Streik, deutet „Der Pilot“ an einer exponierten Stelle voraus, ganz offenbar ein Element aus Diggelmanns Gesellschafts- und Geschichtsbild auf den Punkt bringend.

Die Idee des Einakters scheint auf der Hand zu liegen: ein älterer und ein jüngerer Schauspieler gehen miteinander die drei Szenen durch, die ein nicht genannter Autor schrieb um den Piloten, der sich schuldig fühlt, weil er die Atombombe über Hiroshima ausklinkte. Der ältere Schauspieler ist nach dem Willen Diggelmanns einer, der seinen Text lernt und spielt und mehr nicht, während der jüngere ständig abgelenkt wird und aus der Rolle fällt, weil er über das nachdenken muss, was der Autor nicht geschrieben hat. Ihn bewegt, soll das heißen, die Realität selbst, die hinter der Geschichte für die Bühne steht. Ihn beschäftigt insbesondere die Frage, warum die Amerikaner die verheerende Bombe abwarfen, obwohl doch die Japaner zur Kapitulation bereit waren, nur ihren Kaiser und ihre staatliche Ordnung nicht verlieren wollten. Wenn der Jüngere aus der Rolle fällt und mit seinem Partner diskutieren möchte, verweist der ihn darauf, dass das nicht im Text stehe. Es könnte also der Anschein entstehen, als sollten politischer und unpolitischer Künstler zulasten des letzteren gegeneinander gestellt werden. Da die Rollen zudem mit ihrem Alter agieren, könnte man auch einen Generationskonflikt erkennen sollen, einen ganz speziellen Vater-Komplex vielleicht.

Letzteres wäre dann doch sehr an den Haaren herbeigezogen, denn wohl hat Walter Matthias Diggelmann auf freilich schwer nachprüfbare Weise stark darunter gelitten, dass er als unehelicher Sohn eines unbekannten Vaters aufwachsen musste, doch gerade die Unbekanntheit des Vaters schließt jenen Ur-Konflikt der 68er Generation, der auf Nazi-Vergangenheiten der Väter abhebt, eigentlich aus. Der Konflikt aus „Die Hinterlassenschaft“, wo der Großvater sich als Vater ausgab, weil jüdischer Vater und schweizerische Mutter Nazi-Opfer wurden mit Schuld der eidgenössischen Flüchtlingspolitik, liegt auf einer anderen Ebene. Die drei Spielszenen des Einakters heißen „Der Pilot und der General“, „Der Pilot und der Staatsanwalt“ und „Der Pilot und der Präsident“. In diesen Szenen bleibt der jüngere Schauspieler immer der Pilot, der ältere wechselt Kostüm und Rolle und bleibt vor allem Stichwort-Geber für die Argumentationen des Piloten. Erst ganz am Ende platziert der Autor Diggelmann eine kleine Überraschung und das scheinbar so eindeutige, fast zu eindeutige und vordergründige Spiel bekommt eine freie Valenz. Die Frage, wie viele Details in den Szenen mit wirklichen Abläufen in den USA zwischen 1945 und 1957 kollidieren, ließe sich stellen.

Dass sie bisweilen einfach nur unwahrscheinlich sind oder zu zweckvoll konstruiert, wäre ein weiterer Einwand. Denn natürlich war der Bomberpilot nie ein gefeierter Nationalheld in dem Sinne, wie das Spiel es behauptet: mit Massenaufläufen aus Begeisterung, mit Bildern über den Ehebetten junger Leute. Auch saß der Pilot keineswegs allein in der Maschine. Doch verfehlte solche Kritik wohl die Substanz des Stückes. 1964, im Jahr der Uraufführung, hatte alles Faktische des Atombombenabwurfs ja keinerlei Neuigkeitswert mehr, längst hatte sich die Kunst, auch die Bühnenkunst, des Themas der Verantwortung der Wissenschaft, speziell der Physik, bemächtigt, die Anti-Atombewegung, der Kampf um den Weltfrieden hatte, was ihm wenig bekam, vor allem im Bereich des Ostblocks, schon fast rituelle Züge angenommen. Was 1964 Neuigkeitswert hatte, war die Selbstfindung eines Autors in der Schweiz mit einer sehr speziellen Biographie. Die Bedrohung für die Menschheit war ja gewachsen, die Verfügungsgewalt über Atomwaffen längst nicht mehr auf die USA beschränkt. Ob freilich ein fiktiver Pilot, dem niemand moralische Schuld zugestehen will, nicht General, nicht Staatsanwalt, nicht Präsident, kriminell werden muss für ein Urteil, ist fraglich.

Im Gespräch mit dem Präsidenten legt Diggelmann dem Piloten dies in den Mund: „Ich fordere die Physiker auf, in den Streik zu treten. Ich rufe die Techniker auf, in den Streik zu treten. Ich verlange von allen Arbeitern, die an Bomben arbeiten, in den Streik zu treten. Sie haben für ein besseres Leben streiken gelernt. Jetzt müssen sie lernen, für das Leben überhaupt zu streiken.“ Schon diese Formulierungen zeigen Selbstüberhebung des Fordernden. Was soll ein Präsident der Vereinigten Staaten von einem Mann halten, der in aller Treuherzigkeit meint: „Alle müssen Wissende werden. Die Menschheit muss informiert werden. Die Strategen haben zu weichen. Die Politiker ebenso.“ Ist das die humorlose Variante der späteren Losung „Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin!“ Es gehen eben doch immer welche hin und sie gehen nicht blind und ahnungslos, sondern überzeugt und absichtsvoll, schlimmstenfalls in der Überzeugung „Heilig die letzte Schlacht!“ Die Szenen haben, was tatsächlich weit weniger bekannt ist als alles andere im Spiel, sogar eine schweizerische Komponente. Sie wird am Ende von „Der Pilot und der General“ knapp angesprochen: das Signal, kapitulationswillig zu sein, sandte Japan in Bern via Bundesrat an die amerikanische Regierung.

Der Staatsanwalt in der zweiten Spielszene präsentiert eine eigene Logik: „Es ist ausgeschlossen, dass sich der Mann, der die Bombe geworfen hat, hinterher als Verbrecher entpuppt.“ Die Worte des Piloten gewinnen fast messianische Intention: „Ich bin der eine, der die Schuld auf sich nehmen will.“ Das allerdings hilft bestenfalls, wenn man eine Religion stiften will, zum ewigen Frieden verhilft es nicht, wohl nicht einmal zu einem entlasteten Gewissen, denn auch das setzt wiederum einen speziellen Glauben voraus: den an die Wirkung von erteilter Absolution. Dem Präsidenten der Vereinigten Staaten sagt der Pilot: „Die Menschheit ist ausrottbar. Und das heißt: Was Gott in sechs Tagen geschaffen, können wir in einer Sekunde auslöschen.“ Rein zeitlich stimmt das natürlich nicht, man weiß aber, was gemeint ist. Beim Folgenden dann eher nicht: „Was Sie Frieden nennen, ist Angst. Aber die Menschheit erträgt die Angst nur bis zu einem gewissen Grade.“ Die Menschheit ist kein homogenes Subjekt eines zeitgleichen Universalbefindens, noch mitten in den schlimmsten Zuständen gibt es immer Individuen, die sich selbst glücklich nennen würden, man braucht gar nicht an hierzulande existiert habenden Diktaturen zu erinnern, die „Diktaturen in einem Atemzug“.

Walther Matthias Diggelmann stattet seinen Piloten mit viel Pathos aus: „Eine Nation, die den Krieg noch als möglich erachtet, hat das Todesurteil über sich selbst ausgesprochen. … Die Nation wird anfangen zu denken und die Wahrheit entdecken.“ Leider denken Nationen gar nicht, nicht einmal die Klassen, in die die Marxisten die Nationen geteilt sahen, es denken immer nur lebende Menschen. Vom Beginn des Denkens bis zur Entdeckung von Wahrheit ist ein schrecklich langer Weg, es gab Zeiten, da sprach ein kluger Mann vom „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ und Unmündigkeit war das Unvermögen, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Ganze revolutionäre Gesellschaftssysteme etablierten und konservierten Verhältnisse, in denen die Anleitung durch andere zu fortgesetzter Unmündigkeit führte. Man mag gar nicht im Detail analysieren, was sich in einem Schweizer Autodidaktenkopf so amalgamierte. „Der Pilot“ jedenfalls endet damit, dass der ältere Schauspieler eine Zeitung aus seiner Privatjacke zieht, in der der bußfertige Major als Lügner entlarvt wird. Nun besteht der Jüngere darauf, das habe nichts mehr mit dem Stück zu tun. Die Verhältnisse stehen auf dem Kopf.

Schon ein reichliches Jahr nach der Aufführung des Einakters „Der Pilot“ schockierte Diggelmann die Schweiz mit seinem dokumentarischen Roman „Die Hinterlassenschaft“. Und selbst Charles Linsmayer kann sich in seiner „Literaturszene Schweiz“ nicht verkneifen, einen Satz über das Buch so zu formulieren: „Als dann 1967 ruchbar wurde, dass Diggelmann für die DDR-Ausgabe ideologische Konzessionen gemacht hatte, da war er für die politische Öffentlichkeit der Schweiz als kritischer Autor erledigt.“ Als ob da etwas hätte ruchbar werden müssen. Die DDR-Ausgabe hat hinten einen Anhang mit zwei Briefen. In einem gibt Verlagsleiter Walter Czollek (1907 – 1972) Diggelmann etwas bezüglich Ungarn 1956 zu bedenken, im zweiten akzeptiert Diggelmann diese Bedenken und schlägt vor, was geändert werden könnte. Und dann gibt es die wahrscheinlich längste Dokumentation zeitgenössischer Buchkritik zu einem Schweizer Roman, die in der DDR je publiziert wurde. Man hätte alles nur lesen müssen. Aber selbst das KLG kennt aus der DDR nur einen einzigen Text zu Diggelmann, das zweimal geschriebene sehr ausführliche Nachwort von Roland Links zu einer Reclam-Ausgabe mit erst zwölf (1976), dann zwanzig (1986) Erzählungen.

Wirklich überrascht hat mich, in der zweiten Ausgabe fehlte übrigens dann der Roman „Aber den Kirschbaum, den gibt es“, dass ich in den prädestinierten Zeitschriften der DDR, also in NDL, Weimarer Beiträge und Sinn und Form keine Zeile von und über Diggelmann fand, ich wäre für jeden Hinweis auf eine Besprechung dankbar, die es eventuell in Tageszeitungen oder vor 1971 gab, da verweigert mein Archiv die Auskünfte. Das ZEIT-Literaturlexikon, auch das sei erwähnt, kennt den Namen Walther Matthias Diggelmann nicht. Rudolf Käser, der für den großen Killy über ihn schrieb, kennt keine einzige Literaturstelle zu ihm und vergisst die Bücher „Freispruch für Isidor Ruge“, „Ich und das Dorf“ und „Das Mädchen im Distelwind“ (alle drei auch in Lizenz in der DDR erschienen). Was mich im Falle von „Das Mädchen im Distelwind“ insofern besonders ärgert, weil ich dieses Jugendbuch im Juni 1978 bald nach seinem Erscheinen las, da lebte Diggelmann noch und ich hörte als Student über ihn im Germanistik-Seminar von Roland Links. Auch deshalb stand der Name des Schweizers am Premierentag von www.eckhard-ullrich.de am 11. Mai 2011 im ersten Text der Rubrik „Meine Schweiz“. Wo auch diese kleine Reminiszenz landet. Diggelmann-Witwe Klara Obermüller verzichtete übrigens in ihren sechs Bänden auf alle Bühnen-, Film und Hörtexte.


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