Gottfried Keller: Hadlaub

Johannes Hadlaub hat tatsächlich gelebt. Wir wissen nicht genau, wann, wir wissen nicht, wie lange, das einzige, was wir sicher wissen: er hat 1302 ein Haus in Zürich gekauft. Wenn also da oder dort zu lesen ist, dass er von etwa 1270 bis etwa 1340 lebte, dann ist das reine Spekulation. Als Käufer eines Hauses wäre er dennoch nie in die Geschichte eingegangen, zumal die schweizerische Geschichte zwischen der Gründung der Ur-Eidgenossenschaft 1291 und dem zweiten so genannten Bundesbrief von 1315 nichts weniger als ein Dokumenten-Paradies darstellt. Aus diesem Grund schrieb einer, dem man Kompetenz in der Sache kaum absprechen wird, 1859: „Wenn es nun den Gelehrten verboten ist, den Raum zwischen den beiden Bundesbriefen von 1291 und 1315 auszufüllen oder etwas hineinzudenken, so wird es dagegen den Laien erlaubt sein, denselben an der Hand der lebendigen Überlieferung zu beleben und anzunehmen, dass die Leute während dieser vierundzwanzig Jahre nicht geschlafen haben.“ Es war niemand anders als Gottfried Keller, der dies den Laien zugestand und, um dies nicht gleich wieder irgendwelchen Laien zu gestatten, nahm er sich höchstselbst der Sache an. Er schrieb eine Novelle mit dem Titel „Hadlaub“. In den wenigen überlieferten Dokumenten zu ihr nennt er sie bisweilen auch „Hadloub“ in der älteren Schreibweise.

Dass das mit den Gelehrten und den Laien nicht einfach so hingeschrieben war, lässt sich den eben erwähnten wenigen Selbstzeugnissen gleich mehrfach ablesen. Wenn es auch keine einzige Aussage dazu von ihm gibt, wann er wie auf die Idee kam, über diesen Johannes Hadlaub zu schreiben, wie er die Sache anging, welchen Schwierigkeiten er sich gegenüber sah, so gibt es doch gleich mehrere Briefpassagen, in denen er ungünstige Reaktionen solcher Leser erwartet, die er zu den Gelehrten zählt oder denen, die sonst besonderen Umgang mit dem Stoff haben. Am 11. Juli 1876 schrieb Keller an Ferdinand Weibert: „Die Zürcher Kritiker oder Lokaldilettanten … werden sich aber wundern, wie ich die Dinge durcheinanderwerfe, und rufen, es wäre besser, man ließe dergleichen unterwegen, wenn man es nicht besser verstehe!“ Jakob Baechthold erfährt in einem Brief vom 3. November desselben Jahres: „Die Historiker und Philologen werden freilich über den spaßhaften Einfall die Nase rümpfen, was Wurst ist, weniger Wurst aber, dass ich fürchte, die Ausführung des Einfalls sei etwas langweilig ausgefallen.“ Und wenige Wochen später (25. Dezember 1876): „... ich gewärtige eher, dass einige Schulherren davon Veranlassung nehmen, eine Polemik gegen unberufene poetische Verwertung und lügenhafte Erfindungen zu eröffnen.“ Furcht oder Ironie?

Ich plädiere entschieden dafür, in diesen Briefäußerungen eher eine diebische Freude des Ironikers Keller zu sehen als tatsächlich tief sitzende Befürchtungen. Als er die „Züricher Novellen“ veröffentlichte, deren erste (von schließlich fünf) „Hadlaub“ ist, war er ein berühmter Mann, selbst solche Kritiker, von denen er es nicht erwartete, fanden lobende Worte für ihn und seine Novellen, wenngleich in unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen Akzenten. Nur ein Kritiker, der keiner war, sondern Kollege, ein großer Kollege, schaffte es, den Novellisten zu einer Änderung des Textes zu veranlassen zwischen der Erstveröffentlichung in der „Deutschen Rundschau“ Julius Rodenbergs und der Buchveröffentlichung: Theodor Storm. Storm, zwei Jahre älter als Keller und spät mit diesem in Briefkontakt gekommen, schrieb gleich in seinem allerersten Brief an diesen am 27. März 1877: „Darf ich nun zum Schlusse noch eine Fürbitte für Johannes Hadlaub und Fides einlegen? - Das ganze Lieder-Minne-Spiel, das die alten Herrschaften zur Vermehrung ihrer Handschrift so eifrig schüren und begünstigen, zielt nach des Dichters Absicht doch dahin, dass nun dadurch den beiden jungen Menschen die wirkliche Frucht der Liebe in den Schoß fällt.“ Dass Storm hier Keller durchaus verkennt, verrät dessen Antwort, die postwendend am 30. März ergeht.

Zunächst aber noch der Rest des Einwandes aus Husum: „Aber wenn nun dieser große Moment kommt, so verlässt der Dichter uns plötzlich, als hielte er, nachdem er sich so eingehend mit einer berühmten Handschrift beschäftigt, es unter seiner Würde, nun eine gewöhnliche – es steht ja dem Dichter frei, sie übergewöhnlich zu gestalten – Liebesszene zu schreiben, und tut den großen Moment mit einer wie nur beiläufig referierenden Zeile ab. Darf ich es sagen? Es hat mich das wie eine eigensinnige Nichtachtung nicht nur des Lesers - dagegen wäre oft nicht viel zu erinnern - , sondern viel mehr noch der eignen Dichtung berührt. Also eine herzliche Bitte für Fides und Johannes!“ Für Storms Brief bedankte sich Keller geradezu euphorisch: „Sie haben mir das schönste Ostergeschenk gemacht, das ich je in meinem Leben bekommen“, wobei er ehrlicherweise sofort einräumt, es habe seit der Kinderzeit keine solchen Geschenke mehr gegeben. „Die treuliche und freundliche Vermahnung, die Sie mir wegen Hadlaub und Fides geben, befremdet mich nicht, weil die Geschichte gegen den Schluss wirklich überhastet und nicht recht ausgewachsen ist.“ Nicht lebendig und plastisch genug hatte Keller seinen Text vor allem gegen das Ende hin selbst gesehen, an Rodenberg schrieb er, er müsse das „zurechtklempern“. Für Storm aber ging er aus sich heraus.

„Das Liebeswesen jedoch für sich betrachtet, so halte ich es für das vorgerücktere Alter nicht mehr recht angemessen, auf dergleichen eingehend zu verweilen, und jene Form der Novelle für besser, wo die Dinge herbeigeführt und alsdann sich selbst überlassen werden, vorausgesetzt, dass noch genugsam zwischen den Zeilen zu lesen sei. Immerhin will ich den Handel noch überlegen; denn die Tatsache, dass ein lutherischer Richter in Husum, der erwachsene Söhne hat, einen alten Kanzellaren helvetischer Konfession zu größerem Fleiß in erotischer Schilderei auffordert, und zwar auf dem Wege der kaiserlichen Reichspost, ist gewiss bedeutsam genug!“ So konnte nur Keller einem solchen Einwand begegnen. Wenn beider Brieffreundschaft später abkühlte und endete, hatte das teilweise mit dem Verlust genau dieser souveränen Selbstironie zu tun, was hier leider nicht näher ausgeführt werden kann. Keller war in Liebesdingen alles andere als ein Träger großer eigener Erfahrungen, war nie verheiratet, hatte nie Kinder. Man könnte seinen Verweis auf vorgerücktes Alter einer vorhandenen, der Goetheschen auffällig ähnelnden Entsagungsphilosophie zuordnen, auch das muss hier ausgeklammert bleiben. Silvester 1877 jedenfalls verweist Keller auf die Seite 148 der Buchausgabe der Novellen, dort seien die erotischen Ratschläge Storms befolgt.

Das Geheimnis, das keines ist, kann gelüftet werden: Keller hat sich mit Johannes Hadlaub einen Mann zur Hauptfigur der Novelle genommen, den die Literaturgeschichte des Mittelalters vor allem aus zwei Gründen schätzt: es sind mehr als 50 Lieder von ihm überliefert und seit Johann Jakob Bodmer (19. Juli 1698 – 2. Januar 1783) ist es der Bezug zur berühmtesten aller illustrierten Handschriften, der ihm nachgesagt wird: der so genannten Heidelberger, Pariser oder Manessischen Bilderhandschrift. Dort kommt er mit seinen Liedern und im Bild selbst vor. Wer die einst sehr preiswerte und schöne Ausgabe der Illustrationen zur Handschrift in der Insel-Bücherei besitzt (Nummer 450), kann den Meister auf der Seite 24 betrachten, das achte seiner Lieder findet sich auch, leider nur im unübersetzten Original. Keller war da deutlich leserfreundlicher, er benutzte innerhalb der Novelle nur Übertragungen ins Neuhochdeutsche. Eduard Korrodi (20. November 1885 – 4. September 1955) schrieb im Vorspann zum einzigen Text Bodmers, den er in sein Buch „Geisteserbe der Schweiz“ aufnahm: „Dass die berühmte Heidelberger Liederhandschrift wirklich in die geistige und künstlerische Sphäre Zürichs und der Ritter Manesse gehört, hat Gottfried Kellers Novelle „Hadlaub“ vorgefühlt, ehe die Bestätigung der Forschung kam.“ Das soll gelten.

Bei Horst Brunner lesen wir: „Aus der Gruppe der späten Schweizer Minnesänger ragt der schon erwähnte Johannes Hadloub durch den Umfang und die Vielfalt seines Schaffens heraus; neben Minneklagen stehen Tagelieder, Lieder in der Nachfolge Neidharts, ein Lied über die Sorgen des Hausherrn, schließlich Lieder zum Preis des Herbstes.“ Bei Max Wehrli: „Und erst das Paradox eines bürgerlichen Minnesängers wie Hadlaub bringt die Namen der an seinem Minnewesen beteiligten Gönner selber ins Minnelied, das anekdotisch-erzählerisch werden kann und damit den Minnedienst selbst als etwas Objektives und Merkwürdiges beschreibt, statt ihn wirklich zu vollziehn.“ Und nochmals Wehrli in einem anderen seiner Bücher: „Die interessanteste Gestalt, liebenswürdiger Erbe dieser verschiedenen Überlieferungen und zugleich von sozusagen naiver Originalität ist Johannes Hadlaub, ein Zürcher Bürger, der 1302 als Käufer eines Hauses erscheint und den liedersammelnden Manessen und ihrem Kreis in Freundschaft oder Dienst verbunden war (gest. vor 1340). Die Manessische Handschrift widmet ihm nicht nur als einzigem ein doppeltes Bild, sondern bringt auch die hohe Zahl von 54 Liedern, die in den Jahrzehnten um 1300 entstanden sein müssen.“ All dies umschreibt präzise den Fundus, aus dem der Laie Gottfried Keller schöpfte.

Natürlich wird kein seriöser Literaturhistoriker ernsthaft die These vertreten, dass mittelalterliche Lieder biographische Dokumente sind und tatsächliche Lebensereignisse im Detail wiedergeben. Wenn aus einem damaligen Dichterleben aber tatsächlich nur Dichtungen und der Einzelfakt eines Hauskaufs bekannt sind, dann kann, genau das meinte Gottfried Keller in seinem oben zitierten feuilletonistischen Aufsatz „Am Mythenstein“, ein Dichter (Laie) eine Lebensgeschichte erfinden, die nicht mehr braucht, als in sich schlüssig zu sein und alle Überlieferungen zu integrieren. Genau das hat Keller mit seiner Novelle „Hadlaub“ getan, die neben allem, die karge Betitelung der Sammlung „Züricher Novellen“ wird leicht überlesen, eine lokalhistorische Substanz vorträgt und so fast unvermeidlich eine patriotische Komponente transportiert. Die auffällige Häufung von Dichter-Namen aus dem schweizerischen Sprachraum in Hadlaubs Lebenszeit ist ein Faktum und Johannes Hadlaub in ihr, wie Max Wehrli (17. September 1909 – 18. Dezember 1998) es nennt, „ein Paradox“. Für einen Dichter, der selbst viele Jahre im Züricher Staatsdienst tätig war wie Keller, ist es sehr sicher eine höchst normale Sache, nach Wurzeln zu schauen. Noch heute fühlen sich lebende Dichter sehr oft für ihre lokalen Vorgänger wie selbstverständlich zuständig, niemand rät ihnen ab.

Ob Gottfried Keller sich selbst einen Dienst damit erwies, die ersten drei seiner fünf „Züricher Novellen“ mit einer Rahmen-Erzählung zu versehen, wird genau dann zur interessanten Frage, wenn man in die Literatur der Deuter und Interpreten schaut, die, wie am krassesten Gerhard Kaiser, ausufernde Erwägungen an vermeintliche Vorgaben knüpfen und dabei, scheinbar nahe am Text, immer weiter weg geraten von dem, was im Kern dort vorgetragen wird. Keller selbst führt in der Novelle von hinten her gesehen erst einmal in die Irre, denn es entsteht mit dem Eingang der Eindruck, hier gehe es um zwei Schwestern in zwei Burgen. Die rein als Fakt bemerkenswerte Tatsache, dass in der Novelle ein Bischof und eine Äbtissin ein gemeinsames Kind haben, unehelich selbstredend, wird verblüffenderweise keiner Kommentare oder Erwägungen für würdig befunden. Dafür sind Begriffe wie „bürgerlich“ viel zu rasch bei der Hand, um dem Jahr 1300 beizukommen. Da der Rahmen aber nun einmal da ist und als solcher auch alle Aufmerksamkeit verdient, sei zitiert, was Keller selbst dort aufgeschrieben hat: „... hier, wo wir sitzen, brachte Rüdiger Manesse von Manegg eines der schönsten Bücher der Welt zusammen, die Lieder der Minnesänger, die sogenannte Manessische Handschrift, die jetzt in Paris liegt auf der Bibliothek des Königs.“

Das sagt der Pate zu dem jungen Herrn Jacques, als beide in der Ruine der Burg Manegg eintreffen. Und weiter: „Die Entstehung der Handschrift aber bewirkte, dass wiederum andere Originale sich zeigten und entwickelten; das ereignete sich alles gar heiter und ergötzlich und hat mich in jüngeren Jahren gereizt, mir die Geschichte etwas zusammenzudenken und auszumalen, also dass ich dieselbe fast so erzählen kann, als ob ich sie aufgeschrieben hätte und ich will sie dir jetzt erzählen.“ Dies Zusammendenken und Ausmalen bezeichnet, was Keller selbst am Stoff tat. „Es handelt sich dabei hauptsächlich um den Meister Hadlaub, der das Buch geschrieben, wie ich annehme, die vielen Bilder darin zum Teil gemalt hat und darüber selbst zum Dichter geworden ist durch das Minnewesen und den Scherz, den die Herren mit ihm treiben wollten. Von anständigen Minnesachen aber darfst zu allenfalls schon etwas vernehmen.“ Keller liefert so eine Art Summary, aber vor dem bis jetzt nicht erwähnten Hintergrund, dass Herr Jacques, ein älterer Schüler, von der Lektüre am Vorabend her ein Problem zu haben glaubt, aus dem er altersgemäß eine Existenzfrage bastelt. Was er las, besagte, „dass es heutzutage keine ursprünglichen Menschen, keine Originale mehr gebe, sondern nur noch Dutzendleute und gleichmäßig abgedrehte Tausendspersonen.“

Nimmt man die ersten drei Novellen als verschiedene pädagogische Erzählungen, dem jungen Mann Jacques zur Erkenntnis einer falschen Fragestellung oder zu einer Vorführung mehrerer Antworten zu verhelfen, entsteht sofort die Gefahr, ins Abstrakt-Allgemeine zu entgleiten, bei dem sich Interpreten natürlich sehr wohl fühlen, weil sie gleich eigene Theorien in mehr oder minder großer Rundung entwickeln können. Die Freude am Text aber, die ja eben nie nur intellektuelle Freude sein sollte, sonst brauchte man keine Dichter, Inhaber von Philosophie-Ordinarien würden vollkommen ausreichen, löst sich darüber in nichts auf. Die Novelle hat eine klassische, fast behäbige Exposition, das Personal wird vorgestellt, die Örtlichkeiten werden vorgestellt und fast immer hat Keller auch die Nebeninformationen des allwissenden Erzählers, wie etwas heute (also zu seiner Zeit) aussieht oder heißt. Johannes und Fides begegnen sich früh auf dem Hof des Ruoff von Hadelaub. Dem sagt Konrad von Mure: „Du bleibst halt immer ein gewerbsamer Züricher, ihr seid alle gleich und habt nie genug, unten am Wasser und hie oben am Berg!“ Ganz unaufdringlich ist damit ein Zug der „Züricher Novellen“ kenntlich: der Züricher Gottfried Keller porträtiert deutlich, aber nicht aufdringlich, seine Mitbürger und ihre Wesenszüge. Den Sohn Johannes will Konrad vom Berg holen, ihm eine Bildung angedeihen zu lassen, was der Vater aber zunächst schlicht ablehnt.

Erst ein zweiter Sohn macht den vermeintlichen Verlust des ersten dem Vater erträglich, der nun dessen Gang in die Stadt erlaubt. Ob Gottfried Keller im Erfinden dieser biographischen Details seines Helden eigene Fördererlebnisse im Kopf hatte oder nicht, wissen wir nicht. Wir können es unterstellen, weil wir seine Biographie mit seinen Schulen, seinen Reisestipendien, seine frühen Wege und Umwege kennen. In der und für die Novelle selbst hilft es uns nicht weiter. Dass die eine Liebesgeschichte werden wird, weiß jeder auch nur halbwegs erfahrene Leser nach wenigen Seiten, es bleibt also allenfalls spannend, wie langsam oder schnell, auf welchen Pfaden sie sich entwickelt. Dass Johannes und Fides sozial gesehen verschiedenen Ständen angehören, liegt auf der Hand und wird nicht von vornherein problematisiert. Johannes bestätigt mit seiner raschen Entwicklung die Prognosen seines Förderers, die Förderung und die ihm aufgetragenen Tätigkeiten aber haben, wenn man so will, eine unerwünschte Nebenwirkung, wie oben schon zitiert: er wird über dem Abschreiben von Gedichten und Liedern selbst zum Dichter. Wegen seiner geistigen Selbständigkeit traut ihm vor allem jener ebenfalls längst erwähnt Manesse sehr viel zu und so wird Johannes Hadlaub ein Sammler zeitgenössischer, nur in Handschriften oder mündlich überlieferter Dichtung.

Keller erfindet, sich an Hadlaubs überlieferte eigene Texte haltend, eine erstaunlich kontinuierliche Lebensgeschichte. Es hat Deuter gegeben, die im Verbleiben an und bei der Überlieferung eine Einschränkung der dichterischen Freiheit Kellers sehen wollten. Ich glaube nicht, dass in diesem Fall, in den anderen Fällen mit historischen Stoffen, eine Frage von Freiheit oder Unfreiheit gegeben ist. Es ist der Reiz der Aufgabe, die Herausforderung. Zu beidem hat sich Keller, wie gesagt, nicht geäußert. Außerdem haben sich gerade die großen Dichter von Vorgaben oder Fakten nie irre machen lassen, die Geschichte aller Geschichtsdramen, die auch nur irgend bedeutend sind, belegt das immer wieder und immer neu. Man muss gar keine Namen, keine Titel nennen. Hier aber war eine Geschichte an die Geschichte der eigenen Stadt, deren Staatsschreiber man mehr als 15 Jahr lang war, zu binden. Jeder Leser damals sowieso und auch bis heute noch, kann mit genannten Namen und Orten, wenn er will, etwas anfangen, er muss nur Interesse entwickeln. Ich gestehe, dass allein die Vorstellung des Abschreibens von Hand auf teurem Pergament, das auf Haltbarkeit berechnete Verfertigen der Illustrationen, der Vignetten, der Versalien eine faszinierende ist. Und die Vorstellung, dass ein angehender Dichter Vorhandenes nachahmt, hat mir nichts Verächtliches.

Dichten war die längste Zeit der überlieferten Geschichte das Befolgen von Regeln, noch der Regelbruch war an die Existenz von Regeln gebunden und noch bei Martin Opitz und später galt das Verfassen von Regelwerken keineswegs als müßige Übung. Aus der Geschichte der bildenden Künste wissen wir, dass es ein kommunikatives Erfordernis ist, Analphabeten verständlich zu sein. Deren gab es früher natürlich deutlich mehr als heute, jedenfalls prozentual. Zu Hadlaubs Zeiten dichteten zwar auch Könige, einige sind in der Manessischen Handschrift vertreten, aber es gab noch viel später Könige, die nicht einmal schreiben und lesen konnten, geschweige denn dichten. An Shakespeares Frauenfiguren wurde Jahrhunderte später gelobt, dass sie durchweg diese beiden Kulturtechniken und mehr beherrschten. Auch Fides, die uneheliche Tochter, hat eine gute Ausbildung genossen, sie kann ganz selbstverständlich lesen, was Hadlaub ihr an Minnebotschaften zukommen lässt, sie kann Briefe verfassen, wie sie Goethes Mutter beispielsweise nicht verfassen konnte, so köstlich ihre Fehlleistungen auf uns auch immer wirken mögen. Den adligen Herren bleibt Hadlaubs Schwärmerei für Fides nicht verborgen, aber sie beenden sie nicht etwa, sondern fördern sie aus oben schon erwähnten eigennützigen Gründen: sie wollen seine Lieder sammeln.

Des jungen Johannes Hadlaub eigene Motivation, in die Stadt zu gehen, ist die Hoffnung, das Mädchen Fides in der Schule zu treffen. Was natürlich nicht geschieht. Aber er darf vor den edelsten Herren in Zürich zur Fiedel greifen, Lieder vortragen, Probeabschriften fertigen. Dann wird er Zeuge der Geburt einer Idee. Rüdiger Manesse trägt dem Bischof seinen Sammelplan vor und sagt auch, die Sammlung solle so schön werden, dass man sie mit dem Messbuch des Papstes vergleichen könne. Man beginnt sofort, über das Projekt zu reden: wie viele Namen in Frage kommen, auf welche bereits vorhandenen Handschriften man zurückgreifen könne. Der Bischof von Konstanz sagt umgehend zu, seine eigene Sammlung leihweise zur Abschrift zu lassen. Und so runden sich die Voraussetzungen für die Hadlaub-Biographie inklusive einer Reise nach Österreich, die nur mit Liedertext beglaubigt ist, den Gottfried Keller einfach in aller Freiheit wörtlich nimmt. Johannes bekommt den Auftrag und Rüdiger Manesse ergänzt: „Am besten wird sein, wenn er das Buch gleich selber schreibt, so haben wir die Aussicht, dass es ganz aus der gleichen Hand entstehen wird, auch wenn wir selbst darüber wegsterben sollten!“ Auch das ist in sich schlüssig und dennoch trotzdem frei erfunden. Wie auch Porträtdetails in den farbigen Illustrationen.

Dass der Maler Gottfried Keller, als Landschaftsmaler früh gescheitert, aber dennoch vom Metier mehr verstehend als alle, die nie malten, sich Vorstellungen gönnte, in der einen oder anderen Nebenfigur der Tafeln zu den einzelnen Minnesängern sei jene Fides porträtiert oder Hadlaub selbst, ist nachzuvollziehen. Sachlich ist es auf dem damaligen Entwicklungsniveau der Malens und Illustrierens schlicht unmöglich, auch bei bester Absicht, eine Porträtähnlichkeit herzustellen, da musste schon noch die Renaissance abgewartet werden. Aber es gehört zu den hübschen Details der Novelle. Zu denen rechne ich auch die Schilderung des innerehelichen Verhältnisses zwischen Rüdiger Manesse und seiner Gattin, die ihren eigenen Kopf souverän nicht durchsetzt, man muss es lesen. Mit einer naiven Schlagfertigkeit gegenüber dem allgemein ungeliebten König Albrecht bringt sich Johannes Hadlaub sogar ohne alle Absicht in den Ruf eines sehr mutigen jungen Mannes. Aber noch viel Zeit muss vergehen, bis das Happy End in Sicht gerät. Vorher erfährt er, dass auch andere sich um Fides bewerben, er selbst, eben noch allseits beliebt, ist plötzlich ein unerwünschter und vor allem nicht standesgemäßer Konkurrent. Vor seinem gefährlichsten, dem Grafen Wernher, rettet ihn ausgerechnet jene Muhme Mechthildis, die Keller aus den Augen verlor.

Auch das gehört zu dieser Novelle: die Wiederaufnahme eines frühen Erzählfadens, der wie eine irreführende Konstellation wirkte, nun aber mit einer fast slapstickhaften Kollision auf dem Rhein zwischen den beiden Burgen Schwarzwasserstelz und Weißwasserstelz endet, mit einem wütenden Grafen, der abzieht und einer nassen Muhme, die getrocknet werden muss. Fides kann nicht nur lesen und schreiben, sie kann auch die Initiative ergreifen. Sie ruft ihn zu sich, sie sorgt bei ihm zunächst für größte Verwirrung, weil er in einem Verlies landet und auch danach noch, als er es verlassen hat, eingesperrt wird. Die finale Liebesszene, wie sie Gottfried Keller gewissermaßen auf besonderen Wunsch Theodor Storms ausgestaltet, zeigt, wie er so etwas macht, wenn er sich schon darauf einlässt: Johannes und Fides umarmen sich so heftig, dass sie ein Kind zwischen sich so quetschen, dass es zu weinen beginnt, weil es nicht versteht, was die beiden da miteinander tun, wenn sie sich umhalsen und küssen. Fides organisiert die Verlobung mit Johannes, Fides lädt die Gäste ein, die vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Längst könnte die Novelle auch „Fides“ heißen. Und doch, Geschlechterverhältnisse werden selbst bei Überschreitung der Standesgrenzen nicht verkehrt, zieht Fides mit Hadlaub in ein Haus in Zürich, von Vater Ruoff eigens erworben.

„Die Vollendung des Kodex Manesse erlebte kein einziger von den Herren mehr, die seine Entstehung gesehen hatten.“ Sachlich-nüchtern beendet Keller seine Erzählung. Thomas Roffler, ein schweizerischer Literaturhistoriker (11. Januar 1897 – 23. Juli 1930) sieht den Schluss so: „So ist im Werdegang des Hadlaub, die Entstehung des Stadtbürgertums aus der Masse der freien Ansassen, in seiner Verbindung mit Fides der ebenbürtige Aufstieg des Bürgertums symbolisiert.“ Emil Ermatinger (21. Mai 1873 – 17. September 1953), Autor einer sehr verbreiteten Gottfried-Keller-Biographie, hat sich hinter der zum Öden tendierenden Recherche der Herkunft aller Motive versteckt. Was er zu wenig tat, tat Gerhard Kaiser (Jahrgang 1940) zu viel. Immerhin sei dies mit seinen Worten festgehalten: „Zum ersten und letzten Mal in seinem Werk setzt Keller in Hadlaub zwar keinen großen Dichter, aber doch einen Autor von Rang und Namen zum Helden ein. Hat Keller das poetische Thema des Poeten bisher durch Satire von sich abgerückt, so geschieht dasselbe hier durch Historisierung.“ Kaiser scheint vom Zeitgeist der 68er gewürgt, wenn er solche Sätze drucken lässt: „Fällt in Hadlaub moderne bürgerliche Emotionalität vom Himmel, so in Fides alte bürgerliche Gesinnung und Moral. Nirgends bei Keller wird so deutlich wie hier, dass seine Naturnorm bürgerliche Moral ist.“ Was sonst hätte sie sein sollen? Viel bleibt da nicht denkbar.

Im vierten Buch des „Grünen Heinrich“ steht die folgende Passage: „... darum unterscheiden sich die Künstler nur dadurch von den anderen Menschen, dass sie das Wesentliche gleich sehen und es mit Fülle darzustellen wissen, während die anderen dies wieder erkennen müssen und darüber erstaunen, und darum sind auch alle die keine Meister, zu deren Verständnis es einer besonderen Geschmacksrichtung oder einer künstlichen Schule bedarf.“ Rund hundert Seiten später dann: „... wenn die Leute wüssten, wie klein und ordinär es in den Köpfen mancher Maler, Dichter und Musikanten aussieht, so würden sie einige dem Völklein nur schädliche Vorurteile aufgeben.“ Als Johannes Hadlaub in der nach ihm benannten Novelle endlich ganz dicht vor Fides kniet, heißt es: „Die Schönheit war hier von innen heraus ernsthaft, wahr und untrüglich, obgleich ein Zug ehrlicher Schalkhaftigkeit darin schlummerte, der des Glückes zu harren schien, um zu erwachen.“ Als ein „ein brauchbares negatives Lehrmittel“, wie Keller es scherzhaft gegenüber seinem ersten Biographen Jakob Baechthold (27. Januar 1848 – 7. August 1897) vermutete, hat sich „Hadlaub“ zu keinem Zeitpunkt hergeben müssen. Fesselndere Texte hat Gottfried Keller dennoch geschrieben.


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