Hugo Loetscher zum 10. Todestag

Nach Hugo Loetscher wird das nie wieder jemand so erzählen können. Wir stehen vor der zu bestaunenden Tatsache, dass es literarische Erfindungen geben kann, die nur zu adaptieren sind in Form des Plagiats, also, vor Gott, gar nicht. Hugo Loetscher beschreibt den Versuch einer Frau, so könnte man sagen, die mit aller Liebe das Frühstück für einen Mann bereitet, mit dem sie eben die Nacht verbrachte, der jetzt noch in ihrem Bett schläft, mit der uralten Kombination Kuss/Frühstück weckend zu überraschen. Man könnte das eine Allerweltssituation nennen und hätte damit eine Herausforderung in den Blick bekommen, die eminent literarisch ist. Wer eine Rose beschreiben will, die tausendfach schon beschrieben wurde, muss allen Ehrgeiz auf die Variation 1001 legen. Von Konstantin Paustowski stammt das, will mir scheinen, man mag es überprüfen. Loetscher aber, der Schweizer, der auf Fotos so gemütlich daherschaut, besonders in der Pose, die das Kinn auf die Hand stützt bei neckisch aufgerichtetem Zeigefinger, man kennt es von den Reich-Ranicki-Bildern auf dessen Taschenbuch-Ausgaben, hat für seine Konstellation einen regelrechten Wahnsinns-Einfall gehabt. Er hat ihre profanen Voraussetzungen ausufernd beschrieben. Fast bis zum Urknall.

Damit das nicht missverstanden wird: dieses Ausufern ist kein Schweifen vom Hundertsten zum Tausendsten, kein Abschweifen, sondern ein - Hinschweifen. Ich würde es Hinschweifen nennen, das man einfach nachlesen muss, es herrlich finden zu können. Es ist nicht nachzuerzählen. Ich fand es in einem gedruckten Endzeit-Produkt. Nämlich im Heft 12 der vom Schriftstellerverband der Deutschen Demokratischen Republik herausgegebenen Monatsschrift Neue Deutsche Literatur des 37. Jahrgangs, in Heft 444, 1989. Der Schriftstellerverband, ich rede pro domo, hatte da längst mit seiner Selbstdemontage begonnen, die Aufnahme von Kandidaten, von Bezirk zu Bezirk, vorher undenkbar, unterschiedlich gehandhabt, war eingestellt, mein im Juni begonnener Weg in den Verband war im Dezember bereits eine Geschichte aus einem anderen Land. Das Dezemberheft, sicher noch mit den DDR-üblichen Endlos-Vorlaufzeiten, war quasi ein Sonderheft für die Literatur der Schweiz, vor allem der deutschsprachigen, aber nicht nur. In diesem Heft, drei Druckseiten lang, an die sich ein Kurz-Gespräch anschloss, das Achim Roscher und Walter Nowojski mit Hugo Loetscher führten, findet sich nämlicher Text mit dem redaktionellen Titel „Die Bekanntschaft“, im Quellennachweis kenntlich gemacht als Auszug aus dem Roman „Die Papiere des Immunen“.

Gern gestehe ich meine Abneigung gegen solche Druckpraktiken, ich würde als Herausgeber von Sammelbänden oder Lesebüchern immer nur abgeschlossene Texte bieten, auch eingedenk aller Einbußen, die damit verbunden sein können. Und ich glaube zugleich, dass der möglicherweise provozierte Neugier-Effekt auf das Werk, aus dem der Auszug gerissen wurde, nichts aufhebt. Hier aber, Zweitgeständnis, bin ich mit dem Auszug rundum zufrieden, der Rest interessiert mich vorerst, ich will nicht sagen: nicht, aber doch eher wenig. Ich bleibe einstweilen bei der Bewunderung der grandiosen Idee. Von der ich natürlich, auch ohne vergebliche Mühe, nachzuerzählen, etwas verraten muss. Per Zitat am einfachsten: „Und als sie am Herd den Hahn aufdrehte, strömte aus dem Brenner Erdgas, für dessen Speicherung stählerne Tanks gebaut worden waren. Versorgungssysteme mit Röhren, Leitungen und Kabeln mussten funktionieren, damit die Handgriffe dieser Frau sinnvoll werden konnten, öffentliche Einrichtungen waren erforderlich: ein Kraftwerk, eine Kläranlage, eine Filterstation, komplizierte Netze mit Verteilern und Kontrollstellen. Und die Voraussetzungen, nur schon dieser Handgriffe, waren unüberblickbar – wie uferlos wurden erst die Vorgeschichten all der Gegenstände, welche die Frau benutzte, um dieses Frühstück zuzubereiten.“

Das Fazit nach dem Exkurs, den sich der Erzähler Loetscher genüsslich gönnt, der sich in der Figur des Immunen deutlich autobiographisch spiegelt, lautet: „Eine ganze Welt war nötig. Und diese ganze Welt bot die Frau auf, die das Frühstück bereitete für den Mann, den sie liebte.“ Das ist der Witz bei allem: Hugo Loetscher führt uns vor, dass wir alle ununterbrochen bei allem, was wir tun, ganze Welten aufbieten. Uns ist das nicht bewusst. Nach der Lektüre von nur diesen drei Seiten aber wird es uns bewusst und es ist nicht die dümmste Folgerung, die wir daraus ziehen können, uns das fortan ständig bewusst zu halten. Wir sind, das freilich lässt sich weder aus den drei Seiten noch aus dem folgenden kurzen Gespräch schon ablesen, im Zentrum von Hugo Loetschers Weltbild, im Zentrum von Hugo Loetschers Wirkungsabsichten. Dies Weltbild wird philosophisch Vorgebildeten sehr bekannt vorkommen: es sieht die wirkliche Welt als Zusammenhang. Es sieht die wirkliche Welt wegen des universellen Zusammenhangs, der sich in konkreten, vielfältigen Zusammenhängen manifestiert, als eine an, die nur von allen Seiten betrachtet werden darf, will sie nicht einseitig und damit falsch gesehen werden. Das Werk des am 22. Dezember 1929 in Zürich geborenen Loetscher ist im Kern ständige Entfaltung dieses Gedankens, den er immer wieder beispielhaft inszeniert.

Er liegt letztendlich allem, was er von seinen zahlreichen Reisen in die Maschine tippte, zugrunde. Er führt vor, dass Westen relativ ist. Aber auch Osten und Norden. Süden natürlich ebenfalls. Er zeigt, dass just diese Ordnung auf der zweidimensionalen Landkarte fußt, nicht aber auf dem Globus. Das bekannteste Beispiel sind ihm die Entdeckungsreisen, die nach Westen führten und im Osten endeten, der Nord-Süd-Konflikt, der an anderen Stellen der runden Welt ein Süd-Nord-Konflikt ist. Das klingt teilweise sehr politisch und ist teilweise sehr politisch. Hugo Loetscher war sich nie zu schade, auch ganz direkt zu sagen, was er sagen wollte. Als Schweizer sprach er vor allem der Schweiz ins Stammbuch und wie er es tat: allen Nicht-Schweizern kann es als Beinahe-Nachschlagewerk diesen, es ist Länder-Kunde, Menschen-Kunde. Aber – und das ist das Wichtigste – noch die direktesten Glossen und Geschichten verschrecken nicht durch Pädagogik, obwohl die Schweiz unter anderem eben auch das Land Pestalozzis ist, sie lesen sich frisch, sie überraschen in bewundernswerter Dichte mit Gedanken und Formulierungen, die man sich in sein privates Zitaten-Lexikon schreiben könnte und oft sogar unbedingt sollte. Ich gestehe gern, Hugo Loetscher aus Unkenntnis lange völlig falsch gesehen zu haben. Er lag bei mir in der falschen Schublade.

Jetzt, zehn Jahre nach seinem Tod, nach Lektüre all dessen, was mein Archiv zu ihm speichert, ist meine Neugier so groß geworden, dass ich mich zwingen muss, ihr nur dosiert nachzugeben. Das hat natürlich auch mit meinen eigenen Schweiz-Erlebnissen zu tun: Ich lese seine Glosse „Der Waschküchenschlüssel“, die auch den Titel lieferte für das mit Marktgeschrei zu empfehlende Diogenes-Buch „Der Waschküchenschlüssel oder Was – wenn Gott Schweizer wäre“ (Erstausgabe 1983) vor dem Hintergrund des Worts Tumbler. Keine Ferienwohnung in der Schweiz, ich habe in vielen gewohnt, ist denkbar ohne den Hinweis auf den Tumbler-Raum, meist im Keller. Der Tumbler ist in der Schweiz ein Wäschetrockner, in anderen Ländern ein Trinkglas, ich weiß nicht, ob Hugo Loetscher auch das irgendwann einmal zu einem Vorwand für einen Zeitungstext gemacht hat. Den Schlüssel zum Tumbler-Raum findet man immer an benannter Stelle, nie hat man einen solchen Schlüssel nur für sich und was das bedeutet, hat Loetscher auf unnachahmliche Weise eben in „Der Waschküchenschlüssel“ erzählt. Es ist das einer der Texte, in denen Journalismus und Literatur so fließend und übergangslos in eins fallen, wie es im deutschen Sprachraum bis heute eher ungelitten ist, in anderen Sprachräumen geht wenig darüber, ich liebe diese Schreibart.

Zum Todestag mag es eher erlaubt sein, einen Blick auf die Nachrufe zu werfen, die 2009 in erklecklicher Zahl gedruckt und gesendet wurden, als bei anderen Gelegenheiten. Loetscher starb am 18. August 2009 an den Folgen einer Operation, liest man überall, es war nicht die erste Operation, die er in seinem letzten Lebensjahr über sich ergehen lassen musste. Loetscher hielt, bevor er starb, noch das erste gedruckte Exemplar seiner Autobiographie „War meine Zeit meine Zeit“ in den Händen, das Buch war mit Blick auf den 80. Geburtstag entstanden, den der Autor nicht mehr erlebte. Und selbst wenn man einrechnet, dass einem Toten, wenigstens vorläufig, nichts Schlechtes nachgesagt werden sollte, verblüfft die Einmütigkeit der veröffentlichten Nachrufe kaum weniger als die Einmütigkeit der Urteile über das Buch, das nun als Vermächtnis gelesen werden konnte und wurde. Von einem „mitreißenden Rückblick“ schrieb der SPIEGEL, von „raffinierter Erzählkunst“ die ZEIT. „Ein bemerkenswertes Finale eines imponierenden Buches.“ resümierte die WELT. Zum 75. Geburtstag 2004 beendete Ingo Arend im FREITAG seinen Beitrag so: „So jung möchte man einmal werden, wenn man selbst alt wird. Wer diesen Autor liest, entdeckt einen der zeitgenössischsten Autoren im deutschen Sprachraum. Es ist höchste Zeit für eine Hugo-Loetscher-Renaissance.“ Zu der ist es bis zu seinem Tod und nach seinem Tod bis heute nicht gekommen.

Roman Bucheli zitierte wie manch anderer nach ihm, vor ihm und neben ihm auch den solcherart berühmt gewordenen Wunschtraum Loetschers: „So nützlich zu sein wie Gottfried Keller und so poetisch wie Robert Walser.“ Man müsste sich in das Buch „Lesen statt klettern“ vertiefen, das „Aufsätze zur literarischen Schweiz“ enthält und mindestens auch noch in „Vom Erzählen erzählen“, das Poetik-Vorlesungen enthält, um ganz erfassen zu können, was mit dem Wunsch wirklich gemeint ist. Denn keineswegs wollte Loetscher Gottfried Keller das Poetische und Robert Walser das Nützliche absprechen, wie das gedeutet werden könnte. Das aber würde hier zu weit führen. Wer überhaupt ein Organ für derartige Bücher hat, sollte sie unbedingt zur Hand nehmen, man legt sie klüger aus der Hand, als man sie aufnahm und: auch hier wieder: ihre Lesbarkeit geht nicht zu Lasten der Substanz, sie macht ihre Substanz reicher. Dass der lange Beitrag zu Friedrich Dürrenmatt in „Lesen statt klettern“ Loetscher eine Unterlassungsklage eintrug seitens der Witwe Charlotte Kerr, sei vermerkt, es wäre ein eigenes, seltsames Kapitel mit Musterwert über Witwen. Loetscher und Dürrenmatt waren gut miteinander befreundet, so gut, dass Dürrenmatt zum 60. Geburtstag Loetschers 1989 die Rede hielt. Loetscher überlebte seinen Freund um fast 20 Jahre.

Jürg Altwegg schrieb in der FAZ: „Es wird nach seinem Tod weniger zu lachen geben in der helvetischen Literatur.“ Und beschwor: „Für Schriftsteller wie Loetscher gibt es ein Leben nach dem Tod.“ Thomas Steinfeld sah in der SÜDDEUTSCHEN in Loetscher „vielleicht die letzte große Instanz der Schweizer Literatur“, nach Dürrenmatt und Frisch. Julian Schütt schrieb in der WELTWOCHE über „War meine Zeit meine Zeit“: „Das Buch ist ein Meisterwerk, hier schreibt einer mit einer Erfahrung und einem Horizont, die in der deutschsprachigen Literatur einzigartig sind.“ Und endete mit: „Man kann fast jeden Satz von Hugo Loetscher nehmen, und er ist ein Vermächtnis, weil einfach stimmt, was er sagt. Was er sagte.“ Im Deutschlandradio verriet Andreas Isenschmid seinem Gesprächspartner Burkhard Müller-Ullrich auch eine verrückte Eigenheit Loetschers: „... er sammelte überhaupt Bücher, die er selber gar nicht lesen konnte, einfach, weil er Spaß an der Vielfalt, am Rotieren der Wörter hatte.“ In der Sammlung „Der Waschküchenschlüssel“ kann man beispielhaft nachlesen, wie er zu diesen Büchern kam. Er kaufte im brasilianischen Porto Velho zwei Bände von einem Victor Hugo, nicht dem Victor Hugo, und erlebte eine skurril-hübsche Geschichte im Postamt, weil er die Bücher nicht per Luftpost nach Zürich schicken wollte.

Um den Romanfreunden eine Freude zu machen: Hugo Loetscher hat auch Romane geschrieben. Zuerst „Abwässer. Ein Gutachten“, dann „Die Kranzflechterin“, für deren DDR-Ausgabe Jean Villain eine Nachbemerkung schrieb, dann „Noah – Roman einer Konjunktur“, für dessen DDR-Ausgabe Eike Middell ein Nachwort schrieb, der sonst eigentlich eher für Hermann Hesse und Thomas Mann zuständig war. Es folgten „Der Immune“, „Die Papiere des Immunen“, „Saison“, „Die Augen des Mandarins“. Daneben Reisebücher, Stücke sogar und fast am Ende ein Band mit Gedichten „Es war einmal die Welt“. Marko Martin, Reise-Journalist hohen Ranges und Autor von Reisebüchern natürlich auch, schrieb bei Gelegenheit des Nachlassbandes „Das Entdecken entdecken“, in dem Loetscher-Arbeiten zu Brasilien aus den Jahren 1967 – 1992“ versammelt sind, über diese, sie zeigten, „was literarischer Qualitätsjournalismus eben auch ist: Faktengesättigte Vorform des Fiktiven.“ Und greift sich den herrlichen Loetscher-Satz heraus: „Ich dagegen habe stets vorgezogen, statt von Strukturen von der Suppe zu reden.“ Manche sehen in „Wunderwelt. Eine brasilianische Begegnung“ Hugo Loetschers bestes Buch. Ich kann es weder bestätigen noch dementieren, ich kenne es nicht. Noch nicht. Mein Finalsatz für heute: es gibt Bücher über die deutschsprachige Literatur nach 1945, die Hugo Loetscher nicht kennen. Sogar aus der Schweiz.


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