Reto Flückiger mit Delia Mayer

Das Boot ist noch da und der Kriminalist schrubbt das Deck. Als das Handy klingelt, meldet er sich: „Flückiger in der Karibik!“ Wo er natürlich nicht ist, sondern in Luzern. Es ist der Luzerner See und, um es vorweg zu nehmen, im zweiten Schweizer Tatort der neuen Mitmach-Ära sieht man auch die Kapellbrücke. Freunde des neuen, noch ungeborenen Thüringer Tatorts sollten studieren, was die Schweiz liefert, die Tourismuswirtschaft wird es mit schönen Bildern aus mehr oder minder vielen Zwischenschnitten nicht brachial ankurbeln. Ob nun die Krämerbrücke zu Erfurt ins Bild rutscht schlussendlich oder der Ilmenauer Pylon über die Bahngleise.

In Krimi-Luzern jedenfalls gibt es eine Klinik mit dem nicht vollkommen überraschenden Namen Pilatus-Klinik, in der trotz Anklang nicht das Motto gilt: In dreißig Stunden haben Sie einen neuen Körper. In dieser Klinik arbeitet ein Chefarzt Lanther, der ziemlich zu Beginn des Films nach einem Dialog mit einem Kollegen vollkommen tot am Waldboden liegt mit einem Skalpell im Hals, weshalb unter anderem der Film den knappen Titel „Skalpell“ trägt. Im Film spielt das medizinische Handwerksgerät auch eine Rolle im eher übertragenen Sinn. Unter ihm verwandeln sich nämlich Zwitter, die natürlich heute nicht mehr Zwitter heißen, sondern Intersexuelle, in Männlein und Weiblein. Der Prozess ist weder lustig noch ein vorrangig chirurgischer, wie der Film sehr eindrücklich demonstriert.

Der SPIEGEL, der den Schweizern den selbst gemeldeten thematischen Tabubruch nicht gönnen will, kann das nicht wegreden, es ist auch sonst in der Tatort-Tradition ja nicht zwingend das Hauptthema für Kritik, ob eine jeweilige Themenlage nur einmal genutzt werden dürfe. Fernsehen ist das Nachnutzungs- und Wiederholungs-Eldorado. Was in der Politik unter der Überschrift Plagiat zu Jobverlusten führt, ist im Senderdschungel der Fernsehjetztzeit alltäglicher Alltag, noch die kleinste Idee wird geklaut, kopiert, hemmungslos nachgenutzt bis zur Kotzgrenze. Lassen wir also den Schweizern ihren Ein-Drittel- oder Drei Fünftel-Tabubruch, denn letztlich geht es ja um die Story. Sonst müssten wir den ARD-Gremien vorschlagen, dass nach dem jeweils fünfzigsten Mordopfer des Sonntagabends, das von einem Jogger oder Spaziergänger mit Hund gefunden wird, ein Finde-Verbot auszusprechen ist.

Neu wäre, um gleich einen Vorschlag zu äußern, ein Kriminalist, der gelangweilt an seinem Telefon lauert, ob ihm nicht endlich ein Fall gemeldet wird. Kriminalisten, die gerade bei irgendetwas gestört werden, hatten wir seit vierzig Jahren wahrscheinlich gefühlte fünftausend. Immerhin haben wir uns so an sie gewöhnt, dass wir es nicht ärgerlich finden, wenn wieder einmal einer seinen Urlaub nicht antreten, sein Kind aus der Schule holen oder einen Opernabend mit seiner Frau verbringen kann, weil der Rentner mit Hund den Toten des Falles fand. Wie in jedem halbwegs organisierten Krimi gibt es auch hier natürlich Verdächtige im Plural, die Motive haben, denen man aber nicht besonders viel nachweisen kann. Die neue Mitarbeiterin von Stefan Gubser als Flückiger ist Delia Mayer, 43, Sängerin, und die deutschsprachige Schnellpresse fragt schon „Sind dunkelhaarige Tatortfrauen besser?“ Sie heißt im Film Liz Ritschard, der Familienname ist schon nach der neuen deutschen Rechtschreibung gearbeitet.

Delia Mayer sieht hervorragend aus. Wenn sie einen Seitenblick auf Gubser wirft, macht es sehr viel Spaß, falls man keine Seitenblick-Phobie hat. Und auch Sabina Schneebeli als Leiterin der Spurensicherung sieht hervorragend aus. Dass ich keine gleichzeitige Meldung über die Attraktivität männlicher Darsteller in Worte fasse, liegt an meiner unglücklichen heterosexuellen Neigung, bedeutet keinerlei Diskriminierung keines der drei Geschlechter, die im Film eine Rolle spielen. Delia Mayer jedenfalls darf den motivphilosophisch bedeutsamen Satz sprechen, dass sie aus dieser Sicht allen Grund hätte, die nächste Bank zu überfallen, ihr Gehalt liefere hinreichend Anlässe. Nimmt man die üblichen Gefälle zwischen schweizerischen und deutschen Gehältern als Nachfühlbasis, dann werden deutsche Kollegen mit dem schweizerischen Gehalt vermutlich 27 Stunden am Tag arbeiten, um ihre Dotierung zu rechtfertigen.

Der ermordete Arzt hielt an Frühoperationen fest, obwohl es im eigenen Hause längst andere Auffassungen gab. Wer aber erwartet ernsthaft, dass in einem Krankenhaus jemand dem Chefarzt widerspricht? Da unterscheiden sich Schweiz und Deutschland wohl kaum voneinander. Die Operierten jedenfalls haben statistisch signifikant Probleme mit der „neuen“ Identität, es gibt eine deprimierend hohe Selbstmordrate unter ihnen. Und alles in allem immer mehr potentielle Täter. Dass es der vor der Entlassung stehende Stellvertreter nicht war, weiß jeder erfahrene Krimigucker nach neun Nanosekunden, dass es auch keines der Operationsopfer war, ist bald zu vermuten. Am Ende ist es ein Vater, der unter dem Druck seiner Frau sogar einen Selbstmord billigend in Kauf nimmt, nur um die Rache zu vollziehen. Die Sozialarbeiter unter den Millionen Tatort-Sehern werden sich freuen, dass es eine Resozialisierung im Film gibt. Ein höchst böses und brutales Mädchen, das sogar den Kommissar Flückiger angeht, scheidet mit Blick in eine frohe Zukunft aus der Untersuchungshaft, weil es nun die Wahrheit aus ihrer Patientenakte kennt.

Anrührend ist in der Geschichte das Leid der jungen Polizistin Brigitte Bürki, gespielt von Anna Schinz, ein noch nicht ausgereiztes Motiv im breiten Möglichkeitsspektrum, dass auch Polizisten zuerst Menschen sind und vor allem Menschen. Vergleichsweise neu für mich wenigstens die Urinkristalle unter dem Mikroskop der Spurensicherung. Und, ich behaupte sehr ausdrücklich, nachdrücklich und hoffentlich auch eindrücklich: Desaströs war die erste Flückiger-Episode im August 2011 (siehe „Reto Flückiger ohne Eva Mattes“ in dieser Rubrik) keineswegs und selbst wenn sie es gewesen wäre: Auch Manfred Krug war in seiner ersten Episode als schäbige und armselige Columbo-Kopie ein Entsetzensauslöser und zum Ende der Jahre des singenden Duos wollte man am liebsten drei Folgen im Monat sehen. Allein wegen des Gesanges mit Charles Brauer. Weswegen freilich die Sängerin Delia Mayer nun nicht gleich zwingend mit Stefan Gubser ans Mikro treten sollte.

Man kann auch Skalpelle mit einer Armbrust verschießen, was Wilhelm Tell in der Hohlen Gasse seinerzeit noch nicht wusste. Immerhin ist in Tobias Ineichens erstem Schweizer nach zwei bayerischen Tatorten damit eine Anspielung versteckt, die leicht gefunden werden kann und dennoch keineswegs vordergründig wirkt. Den üblichen Kanälen ist zu entnehmen, dass schon im August ein weiterer Schweizer Tatort laufen wird, bis 2014 lässt die ARD SRF vorerst einmal mitspielen, wenn nachverhandelt wird, sollte man allein des Umstands gedenken, dass die Österreicher ja auch dürfen. Und uns Zusehern macht es allemal Vergnügen.


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