Dürrenmatt: Titus Andronicus

Was geschah am 12. Dezember 1970 in Düsseldorf? Preisfrage: Fiel auf dem Hauptbahnhof ein Sack Reis um, woraufhin im fernen Peking Mao seine Tasse grünen Tees entglitt, oder erlebte im Schauspielhaus ein Stück seine Uraufführung, das danach nie wieder irgendwo gespielt wurde?
Richtig: es war das Stück „Titus Andronicus“, mit dem der Umarbeiter und Dramaturg Friedrich Dürrenmatt eine beispiellose Pleite erlebte, seine größte wahrscheinlich überhaupt im weltweiten Theater. Die Regie lag wenigstens nicht in seinen eigenen Händen, sondern in denen von Karl-Heinz Stroux (25. Februar 1908 – 2. August 1985), der einst als Schauspieler und Regieassistent begonnen hatte, nach etlichen Stationen als Regisseur, darunter auch eine Spielzeit in Erfurt und Jahren am Burgtheater in Wien Generalintendant in Düsseldorf wurde und das von 1955 bis 1972 blieb. Der Fehlschlag mit Dürrenmatt war also ein später, die Reihe seiner Erfolge ist sehr viel länger. Als knapp 15 Jahre danach, 1985, der Kritiker Urs Jenny (Jahrgang 1938) in Bochum Heiner Müllers „Titus Andronicus“ sah mit dem, wie Jenny fand, geschraubteren Titel „Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar“, resümierte er auch Dürrenmatt gleich mit: „Letztes Mal war das Stück von Friedrich Dürrenmatt, hieß „Titus Andronicus“ und hat seine Uraufführung, vor 15 Jahren in Düsseldorf, nicht überlebt.“ Immerhin hat sich der Autor noch geäußert, zuletzt 1980.

So stehen wir vor einem halbwegs wunderlichen Phänomen: Friedrich Dürrenmatts Stück ist leicht in Buchform nachzulesen, für die Werkausgabe 1980 hat er sich sogar auffallend breit noch einmal dazu ausgelassen. Allerdings hauptsächlich mit einem historischen Exkurs, den er für andere Stücke als eigene, und vor allem früher, vermutlich weit von sich gewiesen hätte. Denn es ist streng und auch weniger streng genommen kaum relevant, welche Quellen Shakespeare selbst hatte, als er seinen „Titus Andronicus“ schrieb. Ob er überhaupt auf Quellen zurückgriff oder seine Geschichte gar frei erfand, wenngleich in den zeitgenössischen Fahrwassern des elisabethanischen Theaters. Dürrenmatt hat sich an den Namen festgehalten, die Shakespeare benutzte in der keineswegs fern liegenden Annahme, sie hätten etwas zu bedeuten oder wenigstens zu assoziieren. So landete der Schweizer in Byzanz und fast auf wundersame Weise in genau der Zeit, in der auch sein ebenfalls nach Shakespeare gebauter „König Johann“ spielt. Die wenigen Stimmen Dritter sind der schwer abweislichen Verlockung erlegen, es mit dem Nacherzählen des grauslichen Bühnengeschehens bewenden zu lassen. Hellmuth Karasek etwa gönnte sich den für ihn vermutlich diabolischen Spaß, der chronologischen Totenliste im Shakespeare-Original auch ein paar Fliegen einzufügen, von Titus und Marcus beim Essen mit der Gabel erschlagen. Karasek sah das Original im Theater Basel.

Seine an Shakespeare gerichtete Frage aus dem Jahr 1969, gedruckt auf den Tag genau ein Jahr vor der Düsseldorfer Reinfall-Premiere der Umarbeitung in der Hamburger ZEIT, lautete: „Kann man das Stück, das in Blut und Grausamkeiten unbekümmert um alle Wahrscheinlichkeit watet, ernst nehmen?“ Müsste man es, fragt sich sofort, ernster nehmen, wenn es bekümmert um jegliche Wahrscheinlichkeit, im Blut waten würde? 1969 hatte die Blut-und-Sägespäne-Dramaturgie des deutschen Theaters mit Urinier-Orgien und Pimmelschwenken noch nicht den Zenit erreicht, da waren mit kleinen Nuditäten noch Skandale zu provozieren, die wenige Jahre später kein Kloster mehr erschüttert hätten. Man soll jedes Stück ernst nehmen, wenn es von einem Autor stammt, der zum Beispiel Friedrich Dürrenmatt heißt. Der Zufall wollte, dass von Heinz Ludwig Arnold ein Beitrag über Dürrenmatt am Tag seines Todes, am 14. Dezember 1990, von Radio Bremen und im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Arnold (29. März 1940 bis 1. November 2011), ein ausgewiesener Dürrenmatt-Experte, meinte: „Ich bin aber nicht sehr überzeugt davon, dass Kritik und Publikum wirklich wissen, wer der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt ist. Vor allem: wer er in den siebziger und vor allem in den achtziger Jahren geworden ist.“ Ich würde das sofort und ohne jedes Zögern unterschreiben. Man hat ganz andere Sachen von ihm nicht und nie ernst genommen.

Jan Knopf, 1944 in Arnstadt geboren, was so ziemlich das einzige ist, was uns verbindet, hat vor Jahren in kurzer Folge zwei Bücher über Dürrenmatt veröffentlicht, zunächst 1976 in der Reihe der Autorenbücher des Verlags C. H. Beck München, dann 1987 im Berliner Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, ohne Lizenzverweis und als erste Auflage ausgewiesen, während das Autorenbuch 1988 schon seine vierte Auflage erlebte, ausgewiesen als Neubearbeitung. Knopf-Fans mögen sich den Variationen eifrig widmen, ich greife nur eine heraus, just „Titus Andronicus“ betreffend. Im Münchner Buch steht: „Saturnin spiegelt Titus vor, er könne die Söhne befreien, wenn er sich einen Arm abhacke, gesagt, getan: doch Saturnin schickt die Köpfe der Söhne mit der abgeschlagenen Hand zurück.“ Warum nur, frage ich mich, kann ich nicht darüber hinwegsehen, dass ein Arm und eine Hand unterschiedliche Dinge sind, wenngleich am unteren Ende von Armen gemeinhin Hände sich finden lassen. Mit einem Arm ohne Hand kann man durchaus Namen in den Sand schreiben, wie es bei Dürrenmatt denn auch geschieht. Fehlt der Arm ganz, schreibt es sich deutlich schlechter. Im für DDR-Leser gedachten Buch heißt es: „… und Saturnin spiegelt Titus vor, die Söhne befreien zu können, wenn er sich einen Arm abhacke.“ Dann aber packt Knopf der rabenschwarze Humor: „Titus zögert nicht – es kommt auf einen Arm mehr oder weniger schon lange nicht mehr an …“.

Dumm ist nur, dass bei Dürrenmatt vom Arm gar keine Rede ist. Der Henker fordert sehr präzise die linke Hand und auf der Bühne, so will es der Umarbeiter, lässt sich Titus Andronicus das Beil des Henkers reichen, der derweil den Korb hält und hackt sich mit der rechten die linke Hand ab. Als der Gründungschef des Nachrichtenmagazins FOCUS seinen Werbefeldzug mit der immer und immer wieder in Großaufnahme gesprochenen Suggestion „Fakten! Fakten! Fakten!“ startete, war die Alt-68er Faktenmissachtung schon nicht mehr zu reparieren. Die von ihr befallenen Jahrgänge sahen lieber, was sie für das Große und Ganze hielten, Hand hin, Arm her. Am Ende landet man wie Jan Knopf bei dieser lapidaren Falscheinschätzung: „So aber bleibt als Fazit nur ein allgemeiner Fatalismus.“ Den belegt nicht einmal das Zitat, falls man es zu verstehen versucht, mit dem Knopf seine Magerthese zu stützen glaubt. Dürrenmatt als eine Art schweizerischer Neu-Mephisto gedeutet? Alles, was besteht, sei wert, dass es zugrunde geht? Das Problemwort lautet „wert“. Es ist eine rein menschliche Implementierung in einen von aller Menschheit völlig unabhängigen Weltprozess, dem gerade Friedrich Dürrenmatt mit seiner heftigen Neigung zu Philosophie und Naturwissenschaften gern, und zwar zunehmend gern, nachsann. Aber ganze Intellektuellen-Generationen sind bis heute darauf stolz, von Naturwissenschaft, Mathematik nichts zu verstehen.

In einem seiner letzten Interviews sagte Dürrenmatt: „Wir müssen das Leben als Grund und Ziel der Evolution achten – nicht obwohl, sondern weil wir es nicht begreifen.“ Und weiter vorn: „Ich will nicht Zyniker sein, sondern Aufklärer.“ Und wieder weiter hinten: „Ich meine damit: Aufklären ist das Begreifen der Unbegreiflichkeit.“ Das ist viel weniger verwirrend als es scheint. Man muss halt nur ein wenig Gedankenarbeit investieren, mal bei Kant nachschauen beispielsweise, zu dem sich Dürrenmatt ausdrücklich und wiederholt bekennt: da ist die Rede von einer selbst verschuldeten Unmündigkeit. Dieser so denkende Dürrenmatt ist keiner von gestern oder gar vorgestern, wohin manches Wunschdenken ihn expediert hat. Wie tauglich gerade Shakespeares Frühwerk „Titus Andronicus“ tatsächlich ist, darf dabei gern Streitgegenstand sein. Was auf keinen Fall voranbringt, sind schulbrave Vergleiche zwischen Umarbeitung und Urtext. Mir liegt eine Diplomarbeit aus dem Jahr 2011 vor, eingereicht an der Masaryk-Universität Brünn, deren Autorin genau das versuchte. Es ist brav gearbeitet, sicher auch erschöpfend, aber man erfährt letztlich über Shakespeare wie über Dürrenmatt nichts, was wirklich von Bedeutung wäre. Oder ist es wichtig, dass es bei Shakespeare einen Enkel von Titus gibt, bei Dürrenmatt nicht, dass der Publius bei Dürrenmatt ein völlig anderer ist, während es Alarich bei Shakespeare überhaupt nicht gibt? Es ist wichtig und auch wieder nicht.

Bei Shakespeare stellt sich der auftretende Bauer natürlich nicht vor mit: „Ich bin der Bauer Gnäus, und man nennt mich den Kindlibauer.“ Das schreibt ihm der Schweizer aus dem Emmental vor und es ist hübsch, weil es verspielt ist. „Meine Freiheit als Künstler besteht darin, dass ich mit dieser Welt spielen kann.“ Shakespeares Frühwerk, der „König Johann“ inbegriffen, ist für Friedrich Dürrenmatt Stoff im Sinne seiner „Stoffe“, Spielmaterial im Sinne seiner Spieltheorie, deren zweites Hauptwort natürlich Regel heißt: Spiele ohne Regeln sind keine, der einzige Vorteil: die Spielenden können Regeln ändern, sie müssen die Regeländerungen aber, wenn sie keine allein Spielenden sind, miteinander verabreden. Das klingt so einfach, wie es ist, wird aber dennoch liebend gern übersehen. Seinem Gesprächspartner Franz Kreuzer diktierte Dürrenmatt ins Notizbuch: „Wir haben die Fähigkeit, in Gleichnissen zu denken, verloren, somit die Fähigkeit zu erzählen.“ Nur das somit ist hier zwingend auf seine tiefe Bedeutung abzuhorchen. „Nicht das ist ja das Erstaunliche, dass wir zu einem alten Bild greifen können, sondern dass wir es nicht zu verlassen brauchen.“ Auch das zu Franz Kreuzer gesprochen. War also „Titus Andronicus“, den es als historischen Feldherrn Roms so wenig gab wie den Kaiser Saturninus, das alte Bild, zu dem der Schweizer griff, um bald zu sehen, dass er es nicht verlassen musste? Was ja nur Aktualität hieße?

Um Missverständnissen vorzubeugen: „Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare“ ist als Anlass zu Reflexionen deutlich interessanter denn als pure Lektüre, einen alten Begriff Lesedrama bedient es nicht. Man kennt, wenn man etwas kennt, natürlich antike Geschichten, in denen einer Mutter eine Pastete aus den eigenen Kindern vorgesetzt wird, man kennt äußerste Grausamkeiten, die beispielsweise einen Heinrich von Kleist anzogen, freilich noch ohne das Spätere erhebende Bewusstsein, sich auf Pfaden des Tabubruchs zu bewegen. Vielleicht war die Vorlage aus dem alten England weniger ein offenes Spielen als ein reguliertes Durchspielen? Neun Szenen hat Dürrenmatt aus fünf Akten Shakespeares gemacht, zum Ende hin werden die Szenen kürzer. Fast jeder Mord verweist auf ein Geflecht von Bezügen, des Intellektuellen Hauptspielwiese, des mehrheitlichen Theaterbesuchers böhmische Dörfer. Man kann, wenn man Lessings „Emilia Galotti“ kennt, schon die antike Geschichte im Kopf haben, da ein Vater seine geschändete Tochter tötet. Dürrenmatt lässt es mit seltsamer Zeitverzögerung geschehen. Während Titus Andronicus einen seiner verbliebenen Söhne im Handumdrehen tötet, weil der einer väterlichen Weisung nicht folgte, tötet er seine nach der Vergewaltigung verstümmelte Tochter Lavinia spät und, innerhalb des Spiels, überraschend. Die Mordfolge in der neunten Szene hat Biblisches, der Abfolge des Zeugens korreliert eine des Tötens.

Die Deuter des Originals von Shakespeare richteten ihr Augenmerk (unter anderem) auf die Figur des Aaron, der im Personenverzeichnis, Übertragung Wolf Graf Baudissin, vorgestellt wird als „Aaron, ein Mohr, Tamoras Geliebter“. Wir lassen beiseite, dass heutzutage sogar Apotheken auf den Index kommen, soweit sie einen Mohren im Schilde führen und auch nach diesem benannt sind: bei Shakespeare gibt es Mohren offenbar nicht nur in Venedig und als Gattenmörder. Tamora ist die gefangene Gotenkönigin, die drei Söhne während des Stückes verliert: zuerst Alarbus als Sühneopfer, dann Chiron und Demetrius als Schänder und Verstümmler Lavinias, die sie zu allem auch noch zu verspeisen hat, gemeinsam mit Kaiser Saturninus an der Tafel von Titus Andronicus, dem Menschenkoch. Im Shakespeare-Kontext tauchte die Frage auf, warum ausgerechnet ein Mohr den altjüdischen Namen Aaron trägt. Bei Friedrich Dürrenmatt hat er den Namen auch, gefragt wird aber nicht mehr. Von Aaron ist Tamora schwanger, als dies anhand der Farbe des Neugeborenen klar wird, muss die Hebamme sterben, keineswegs das Kind. Dürrenmatt sah „Titus Andronicus“ zuerst in Paris in der Regie von Peter Brooks, eine vielstündige Hauptprobe vom frühen Nachmittag bis tief in die Nacht. Er war hingerissen, obwohl er fast nichts verstand. Ihm imponierte das Pathos, in der englischen Sprache offenbar noch möglich. Er fühlte sich herausgefordert zur Bearbeitung.

„Bearbeitung aus Treue zu Shakespeare“, notierte er. Und weiter: „Aus einem Spiel innerhalb einer veralteten Gesellschaftsordnung ist bei mir ein Endspiel mit einer veralteten Gesellschaft geworden.“ „Das Ende ist eine leere Bühne, die neuer Schrecken harrt.“ Seinen Alarich, den er neu einführte, nennt er weniger eine historische „als eine mythische zerstörerische Größe“, legt ihm Schlussworte in den Mund, die den Zeitrahmen bewusst anachronistisch sprengen: „Einst herrschte es, nun herrschen wir, nach uns / Sind andere an der Reihe, uns drohn Hunnen, / Den Hunnen Türken, diesen die Mongolen“. Der tatsächliche Alarich verwüstete 410 Rom und konnte allenfalls noch von Hunnen reden, keineswegs aber von Türken und Mongolen. „Sie alle gierig nach der Weltherrschaft, / Die eine kurze Weltsekunde unser.“ Das ist pures Zeitempfinden des Schweizers Friedrich Dürrenmatt im Jahre 1970, bei den alten Goten, die einer sehr bekannten Filmkomödie zufolge in Ost- und Westgoten zerfielen, schlicht unmöglich und undenkbar. Möglich ist aber eine subtile Spitze gegen real existierenden Sozialismus, der sich 1970 ja ebenfalls auf dem Weg zur Weltherrschaft wähnte. Die englische Aristokratie „sah im elisabethanischen Theater ein Forum, auf dem sie nicht angegriffen, sondern dargestellt wurde.“ Die Aristokratie fühlte sich sicher, die kommunistischen Parteien des Sozialismus nie, weshalb sie sich auch immer angegriffen meinten.


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