Kurt Marti 100
„Bern ist eine Stadt wie jede andere auch“ - das ist ein Satz, den man in Bern besser nicht äußert, obgleich er sich aufdrängt, sobald man in Außenquartiere oder gar in Neuquartiere am Stadtrand gerät: … Bemerkenswert bleiben die Ausblicke auf Felder, Hügel, auf den beruhigenden Jurahorizont im Westen, auf Voralpen und Alpenkulisse im Süden.“ So begann Kurt Marti vor Jahren einen nicht mehr als drei Druckseiten umfassenden „Blick auf Bern“, geschrieben für das Schweiz-Heft der Zeitschrift MERIAN, Januar 1975. „Die Alpen, hat ein Witzbold gesagt, seien die schönste Schweizer Architektur, die zweitschönste sei Ursula Andress. Der gutgebaute Filmstar stammt aus Berns Vorort Ostermundingen, was beweist, dass auch aus Vororten viel Gutes kommt.“ Abgesehen davon, dass man heute vermutlich schon einer sehr soliden Mehrheit erklären müsste, wer denn Ursula Andress sei: Sie lebt noch, wird im März 85 Jahre alt und war das erste Bond-Girl in der Geschichte der bis heute dauernden Reihe von Bond-Girls, eine Muscheltaucherin, deren weißen Bikini wohl jeder 007-Fan sofort assoziiert, wenn er den Namen hört. Dass Bikini im Titel von Kurt Martis allererstem Gedichtband auftaucht (Bikini Boulevard, 1959), hat freilich mit der blonden Schönheit weniger als nichts zu tun. Er wurde am 31. Januar 1921 in Bern geboren.
Es ist ein unaufdringlicher Humor, der in „Blick auf Bern“ schon nach wenigen Zeilen für seinen Verfasser einnimmt und weiß man auch, was man wissen sollte, dass er nämlich 1975 noch immer hauptberuflich Pfarrer war, Pfarrer der Nydegg-Kirche in Bern, von 1961 bis 1983 insgesamt 22 Jahre lang, dann darf man sich auch ein wenig wundern. Wie ein guter Touristenführer unterrichtet Marti seine Leser knapp über die berühmtesten Berner: Jeremias Gotthelf, den Klassiker, der eigentlich Albert Bitzius hieß, Friedrich Dürrenmatt, der kein ganz echter Berner war, weil er aus Konolfingen kam, dafür aber mit Marti in einer Gymnasialklasse saß und über Karl Ludwig von Haller (1768 – 1854), umstandslos „den Ideologen der Restauration und Reaktion“ zugerechnet. Max Rychner (1897 – 1965), in Lichtensteig geboren, in Zürich gestorben, ist Marti der geeignete Gewährsmann für dieses Zitat: „Die Berner erscheinen mir als die selbstgefälligsten Dialektsprecher, jeden Laut langsam ausgenießend und jeden Augenblick eine metaphysische Trostfülle rein aus der Tatsache schöpfend, dass man Berner ist und als solcher Berndeutsch spricht.“ (Vgl. http://www.eckhard-ullrich.de/meine-schweiz/1824-max-rychner-aus-lichtensteig) Das Rychner-Zitat hatte Marti schon Jahre zuvor einmal gebraucht: in seinem hochinteressanten Büchlein „Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz“ (1966).
Während hierzulande der 100. Geburtstag von Kurt Marti allenfalls wahrgenommen wird, ist er in seiner Heimat sicher so etwas wie die Nummer 3 neben Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die er beide um viele Jahre überlebte. Der „Bund“ informiert in seinem Jubiläumsbeitrag über nicht weniger als sieben Neuerscheinungen, drei im Göttinger Wallstein Verlag, drei im Theologischen Verlag Zürich und ein Neudruck der berühmten „Leichenreden“ bei Nagel & Kimche. Charles Linsmayer wies vor Jahren bereits darauf hin, dass Martis „Dorfgeschichten 1960“ vier Jahre vor Peter Bichsels „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ erschien und dennoch Bichsel als derjenige gilt (sein Buch ist in der Tat epochal, das wird hiermit nicht vergessen), der „der Schweizer Kurzprosa im deutschen Sprachgebiet zu neuem Rang und Ansehen“ verhalf. Linsmayer äußert diese keineswegs abwegige Überlegung: „Aber damals, 1960, war für einen dritten großen Schweizer Namen neben Frisch und Dürrenmatt in Deutschland wohl gerade noch kein Platz frei“. Inwieweit dieser Platz 3 später frei wurde, mag für unterschiedliche Urteile offen sein, ich neige dazu, dass Deutschland auch später einem Duo eher als einem Trio seine Referenz zu erweisen bereit war. Auch wenn eine stattliche Reihe der überaus zahlreichen Bücher von Kurt Marti in deutschen Verlagen, viele bei Luchterhand, erschienen. So auch die „Leichenreden“.
Bisweilen behauptet Marti auch Dinge über Bern, die beispielsweise ich über Gehren in Thüringen wortgleich behaupten könnte: „Ich gehe in die Stadt“, sagen bezeichnenderweise selbst Bewohner stadtbernischer Wohnquartiere, diesen damit die Qualität „Stadt“ absprechend – zu Recht: eine Ansammlung von Schlafstätten ist keine Stadt. Stadt ist, wo man einkaufen, flanieren, sich bilden, sich unterhalten kann und viele andere Leute das gleiche tun sieht.“ So lange ich in Gehren lebte, ging ich „in die Stadt“, wenn ich Brot holen wollte, ins Kino gehen oder einfach nur Kumpels treffen. Gehren hatte nie nennenswert mehr als 5000 Einwohner, Bern hat heute etwa 134.000. Auch in Ilmenau gehe ich „in die Stadt“. „Stadt ist die Innenstadt der Geschäfte und Büros“, so Marti über Bern, „ihr sehenswertester Teil der mittelalterliche Stadtkern auf der Aarehalbinsel zwischen Zeitglockenturm und Nydeggkirche.“ Dass die just seine Kirche war, verriet er an dieser Stelle natürlich nicht. 1975 war immerhin schon etwas Gras über jener Geschichte gewachsen, die ihn eine Professur für Homiletik gekostet hatte: aus politischen Gründen. Sein Tagebuch „Zum Beispiel: Bern 1972“ war dem Gemeinderat der Bundesstadt zu kritisch. Doch schon 1977 verlieh ihm just die Universität, an der er nicht Professor werden durfte, den Ehrendoktor-Titel, eine kryptisch-hermetische Gratulationsrede dazu hat Walter Vogt gehalten: „Kurt Marti D. h.c.“.
Wer eine Neugier auf diese Rede nicht unterdrücken kann: sie findet sich in Vogts Essay-Sammlung „Schreiben als Krankheit und als Therapie“, zu Walter Vogt siehe auch http://www.eckhard-ullrich.de/meine-schweiz/2844-walter-vogt-90. Doch bleiben wir noch beim „Blick auf Bern“. „Das pseudoflorentinische Bundeshaus, meinen manche, sei eine ästhetische Katastrophe. Ich bin anderer Meinung. Auch ästhetische Katastrophen, sobald alt genug, werden reizvoll. Das Bundeshaus, seit dem 1. April (!) 1902 in Betrieb, ist jetzt alt genug um schön zu sein.“ Ist das nicht herrlich? Was vor reichlich hundert Jahren, wir wissen es längst, als öde Gründerzeit galt, ist heute der Stolz aller Städte, denen nicht Bomben ihre Gründerzeit-Häuser genommen haben. In Bern und Zürich und überhaupt überall, wo das Kennzeichen CH gilt, fiel nie eine Bombe, alles kann zur Schönheit hin altern. Und: „Symbolträchtig ist das Viereck des Bundesplatzes: Die eine Seite gehört dem Parlamentsgebäude, die drei anderen Seiten Bankinstituten.“ Mit einem Blick auf die Bernerin, angestoßen durch eine Boshaftigkeit von Kurt Tucholsky, schließt Kurt Marti. Er vermutet, der Föhn habe Tucholsky Kopfweh gemacht, jener Föhn, dem er selbst das Loblied singt: „Kein Blau kann so heftig strahlen wie das eines Himmels, den der Föhn von allem Gewölk befreit hat“. Dann versteht auch die Bernerin, worum man sie bittet. Wenn man nicht zu schnell Hochdeutsch spricht.
Im Prosaband „Bürgerliche Geschichten“ (1981) findet sich „Die obere Hälfte von zwei Birken, in ziemlicher Entfernung“. Beatrice von Matt konnte dem Buch, schmal wie alle außer den Predigtsammlungen Martis, kaum etwas abgewinnen. Deshalb schrieb sie in ihrer Kritik auch um das Buch herum, statt über das Buch. Das Verfahren ist legitim: es kann Höflichkeit sein, wenngleich die in einer Stellenbeschreibung für Kritikerinnen kaum an erster Stelle stehen dürfte. „... die ethische Leistung steht in den neuen Prosastücken des Autors wie seit je fest“, dass er auch die Höhe seiner Kunst halte, bezweifelt die Grande Dame der schweizerischen Kritik. Raum und Dimension, so von Matt, gewinne eine Geschichte dann, „wenn eine beschädigte und geschädigte Figur das Erzähl-Ich vor sein Tribunal zwingt und an diesem selber Beschädigungen oder Mängel aufweist“. Der Beckmesser in mir fragt sofort, wo der Unterschied zwischen Beschädigungen und Mängeln denn liegen könnte, auch bin ich mir nicht sicher, ob ein Erzähl-Ich vor sein Tribunal gezwungen werden kann. Vor ihrem Tribunal, dem der geschädigten Figur nämlich, könnte ich es mir eher vorstellen. Letztlich aber ist alles so hoch ins Abstrakte verschoben in dieser Lesart, dass es von der Geschichte selbst eher fern hält, als zu ihr lockt. Denn die Geschichte ist stark, weil sie an einen Abgrund führt: den eigener Hilf- und Ratlosigkeit angesichts eines unendlichen Elends.
Das darin besteht, dass da einer so schwer behindert ist, dass er nur noch im Rollstuhl sitzen kann und gar nicht mehr reden, nur Ja kann er noch sagen auf verschiedene Weise in verschiedenen Tonlagen. Der Erzähler besucht ihn: „Ich beginne zu erzählen, was ich mir zu erzählen vorgenommen habe. Etwas ist ja immer passiert.“ Aber er ist die ganze Zeit über unsicher, mit sich selbst uneinig: „Mich beschäftigt, ich kann nichts dagegen tun, immer wieder die Frage, welcher Art Gedanken sein mögen, die keinen Ausgang in Sprache, in Mitteilung mehr finden können.“ Die Rente reicht nicht, um irgendwo anders hinzugehen für das Paar. Von seiner Wohnung aus sieht er nur Häuser, Häuser: „Aber von der Küche aus sieht er, wenn auch in ziemlicher Entfernung, die oberen Hälften von zwei Birken“. Der Erzähler beobachtet sich selbst: „Du kommst dir dabei vor wie der immer redende Pilatus vor dem schweigenden Christus in einem Fernsehstück von Walter Vogt. Aber wer wollte den gern ein Pilatus sein. Wenn schon, so wären wir lieber Christusse.“ Wahrscheinlich ist vor orthodoxen Augen schon dieser Plural eine Blasphemie und dann von einem Pfarrer geschrieben! Das aber ist Kurt Marti,das macht ihn bedeutend, das macht ihn wichtig und es macht ihn gut. „Zu Stummen spricht manches, was für uns, die wir reden können, stumm bleibt.“
1969 las Ernst Nef für die Hamburger „Zeit“ die „Leichenreden“. Nef (1931 – 2018) war Bürger von Urnäsch, was ich nur deshalb erwähne, weil ich Urnäsch gut kenne, er lebte in Lufingen, war Gymnasiallehrer und Literaturkritiker. Lehrer ist in der Schweiz ein verbreiteter Grundberuf von Schriftstellern aller Art, Kritiker sind ja auch solche, wir sollten also die Kombination nicht befremdlich finden. Was Nef schreibt, dürfen wir natürlich sehr wohl befremdlich finden. Er zitiert zunächst ohne Quellenangabe den Satz Martis: „Der christliche Autor hilft, die Kirche zur Welt hin offen zu halten.“ Das mag so sein und soll so stehen. Aber: „Wer ohnehin schon draußen ist, wird für die „Leichenreden“ freilich in diesem Sinne keinen Gebrauch haben.“ Nein, das ist ein Irrtum: Mit draußen und drinnen von Kirche hat das wenig zu tun. Es ist nicht einmal sonderlich wichtig, ob einer das schmale Bändchen mit kaum 60 Druckzeilen nun Gedichtband nennt oder nicht. Die Hälfte aller Seiten nehmen Zitate in Anspruch, die fast immer Sinn und Inhalt für die gegenüber stehenden Gedichte stiften. Ich vermute, dass die Zitate eher gesammelt waren, als die Gedichte geschrieben und zusammen gestellt. Aber auch das ist letztlich nicht sonderlich wichtig. Denn die „Leichenreden“ sind so sicher kaum in Kirchen neben Sarg oder Urne zu halten, dennoch Nachrufe.
Sie sind Nachrufe einer so besonderen Art, dass sie es verdienen, in Griffweite zu liegen. Es lohnt aber auch, auf die Namen der Zitierten zu blicken: Augustinus und Raimundus Lullus sind dabei, Gilbert Keith Chesterton und Ernst Bloch, Erich Fromm und André Malraux, Karl Barth und Carl Einstein (bei Karl Barth hat Marti studiert), Jean Paul und Jakob van Hoddis, Peter Hille und Heinrich Heine, Graham Greene und Johann Nepomuk Nestroy – ich breche ab, sonst müsste ich am Ende alle nennen. Kurt Marti ist einer, der die klugen Gedanken anderer Leute mag, seine Gedichte in diesem Band sind Paraphrasen und mehr als Paraphrasen zu solchen klugen Gedanken. Und manchmal sind sie schlicht überwältigend. Wie: „wer kennt schon / die not eines überaus dicken mädchens? … stets braucht die gesellschaft / dicke mädchen mit guten herzen / in heimen spitälern kantinen“ Oft laufen diese Gedichte auf eine Pointe zu, ausnahmsweise sind sie auch einmal sehr direkt, was gern übel genommen wird: Einer war nie wohlhabend genug für ein Häuschen: „jetzt aber / ist er am ziel / im eigenen heim / in der urne aus ton“. „liebe gemeinde / wir befehlen zu viel / wir gehorchen zu viel / wir leben zu wenig“. „dem herrn unserem gott / hat es ganz und gar nicht gefallen / dass einige von euch dachten / es habe ihm solches gefallen“.
Am 8. September 1968, als im Stadttheater Basel Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch und Günter Grass redeten, Heinrich Böll schickte einen Brief, hieß der letzte Redner zum Thema „Tschechoslowakei 1968“ Kurt Marti. „Nichts fürchten Weltmächte auf dem Höhepunkt ihrer Macht mehr als Symptome der Veränderung, die an die Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit jeder Herrschaft erinnern.“ So begann er und fragte dann: „Was tut ein Kleinstaat im schlimmsten Fall eines Angriffs durch eine der atomaren Weltmächte?“ Für seine kleine Schweiz gab er die Antwort: „Kein Zweifel, das würden wir tun: totale Landesverteidigung, selbst wenn sie zur totalen Landesvernichtung führen würde.“ Hier wäre der Punkt, ganze Schweizer Langzeitdebatten nachzuvollziehen, aber es ist ja ein Geburtstag zu feiern. Kurt Marti sah in der Reaktion der tschechoslowakischen Armee auf den Einmarsch der Armeen des Warschauer Pakts Vorbildliches. „Darum kein Feuerbefehl, sondern der Entschluss zum langen Marsch durch eine neue Nacht der Unterdrückung.“ Und er wusste: „In der Schweiz hat die Gewaltlosigkeit keine Tradition. Unsere Geschichtsbücher melden tapfere Kriege und tapfere Niederlagen.“ Systeme, die Kritik ihrer Bürger als Liebeserklärung zu deuten vermögen, sind rar und das ist eben gerade nicht systemabhängig.
Kurt Marti war 57 lange Jahre mit Hanni Morgenthaler verheiratet, sie lernten sich 1942 kennen und blieben zusammen bis 2007, als sie starb. Er erlebte noch seinen 96. Geburtstag und in einem der Nachrufe heißt es: „Seine Welt war in den vergangenen Jahren immer kleiner geworden. Zwar besuchte er hin und wieder sein altes Zuhause, aber das Gehen fiel ihm schwerer. Die Beine und der Rücken machten zu schaffen. Er konnte nur noch mit einer Lupe lesen. Und dann ärgerte er sich über den Verlust alltäglicher Fertigkeiten, etwa pfeifen zu können.“ Das wäre etwas, das in eine seiner „Leichenreden“ gepasst hätte, weil es ihn, wie vieles in diesen Reden natürlich sonst, auch selbst betroffen hätte. Über ihn wäre zu denken als einen, der Beruf und Schreiben zu verbinden wusste, es ist irrig, seinen Hang zu kurzen Formen mit seiner Berufstätigkeit in Verbindung zu bringen. Als hätte er, ohne sein Pfarramt, plötzliche alle Hände frei gehabt, dicke Romane zu schreiben. Als wäre das Romane-Schreiben überhaupt das Höchste, das nicht mehr Überbietbare, das Letzte. Nein, ist es nicht. „Walser hatte im kleinen Finger mehr „Welt“ als mancher Romancier auf Hunderten von Seiten.“ Marti meinte Robert Walser und vielleicht ein bisschen auch sich.