Adolf Muschg: Noch ein Wunsch
Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn einer mit Eifer und Intensität damit befasst ist, sich selbst zu beobachten, sein Tun und Lassen in Bilanzen zu ordnen, selbst dem eigenen Gesichtsausdruck auf der Spur zu sein, zu reflektieren, was auch die einfachste Handlung, die banalste Unterlassung bedeuten könnte oder gutes Falles gar tatsächlich bedeutet. Von Nabelschau bis Narzissmus lauten die Klebeetiketten für dergleichen. Sie mögen unter Schutz stehen, bis derjenige, der es unternimmt, meint, andere müssten sich für die Ergebnisse interessieren, die er als Überwachungskamera seiner selbst sammelt und addiert, also doch ein Buch daraus bastelt oder, wie vor Zeiten nicht selten im deutschsprachigen Kulturraum geschehen, einen Autorenfilm davon dreht. Warum soll irgendwen aber interessieren, dass irgendein Martin zu irgendeiner Anne fährt, mit ihrer Mutter französisch über verschiedene Kerbelarten parliert? Wer will wissen, wie es ist, wenn ein alter Renault 16 mit Anlasserschaden durch Anschieben oder Rollenlassen in anfangs stotternde Gangart gebracht wird? Es ist, mit Verlaub, sterbenslangweilig, denn anders als die Banalität des Bösen ist die Banalität des nur Banalen, des Platten, des Belanglosen eben nicht leicht zu historischer Relevanz aufzupusten.
Als Adolf Muschg 1979 „Noch ein Wunsch“ bei Suhrkamp erscheinen ließ, lag sein fast übergroßer Achtungserfolg mit „Im Sommer des Hasen“ ein gutes Dutzend Jahre zurück, er hatte nachgelegt mit Erzählungen, Romanen, Essays. 1981 folgte schon eine Taschenbuch-Ausgabe (st 735), in der DDR nahezu zeitgleich eine Ausgabe in der Reihe „Volk und Welt Spektrum“ als Band 157. Dass eine Bibliographie aus dem Jahr 1989 nicht weniger als 47 Kritiken auflistet, wobei manche der Kritiker sich gleich mehr als nur einmal äußerten (auch der Hofladen der Kritik lebt selten von einem Einzel-Kunden), muss also nicht verwundern. Eher schon das bisweilen durchaus angestrengt wirkende Wohlwollen allerseits. In den Kritiken jedenfalls, die mir vor Augen gekommen sind, war niemand so boshaft prinzipiell wie später einmal Hugo Loetscher, der offenbar nie zum harten Kern des Muschg-Fanclubs in der Schweiz gehörte und das Erzählwerk des keine fünf Jahre Jüngeren geflissentlich übersah, wenngleich es vermutlich dennoch kennend. An der erzählten Banalität kam niemand vorbei, doch alle sahen mehr oder minder klar ihre Aufgabe darin, das zu akzeptieren der sonstigen Qualitäten des Buches wegen. Die willig anzuerkennen, musste man aber disponiert sein.
Günter Kunert, volle fünf Jahre älter als Adolf Muschg, sagte einmal in seiner ironischen Weise, er sei ein Inhaltist, also niemals ein ganz verlorenes Schaf. Das Wort Inhaltist hat er vielleicht nicht erfunden, denn es passte gegen Formalist so nahe liegend, dass man auch darauf kommen konnte, wenn man nicht Kunert hieß. Immerhin aber: Im Zugriffsbereich von SED- oder KPdSU-Politik im Felde von Kultur und Kunst konnte das Prädikat Formalist durchaus gesundheits- oder sogar lebensbedrohliche Konsequenzen mit sich schleppen. Während dort, wo Muschg wirkte und seine Kritiker in ihrer Mehrzahl, Formalist, wenngleich nicht unbedingt mit dieser Formel, eine Art von Adelsprädikat darstellte. Und das besonders, nachdem die Literatur im Gefolge von 1968 derart auf Inhalt pochte, dass ihr die Form nahezu gleichgültig wurde, sie sogar vom Ende der Literatur fabulierte und durchaus kluge Leute unter dieses Fähnlein zu rufen vermochte. Marktwirtschaft als Rahmen reicht jedoch immer aus, jedem Trend den Gegentrend folgen zu lassen, leicht einfältig gern als das totale Gegenteil. Dem „Engagement“ als Kriterium folgte fast stupide das Anti-Engagement, manche nannten es „Neue Innerlichkeit“, manche anders, doch in der Sache gleich.
„Noch ein Wunsch“ passte in den Gegentrend und ließ sich zudem auch als innere Trendwende im Werk des Erzählers Muschg deuten. So schwelgen denn die vom Blick auf den Inhalt sich befreit meinenden Kritiker in Sprachbetrachtungen, wobei ihre Begeisterungsbelege spärlicher ausfallen als man vermuten sollte, manche Stellen werden zitiert, als schriebe einer vom anderen ab, was er natürlich niemals tun würde. Es steht als Paragraph 1 im Grundgesetz der Kritiker: „Die Würde einer fremden Entdeckung ist unantastbar.“ Wenn dennoch da oder dort einmal etwas von unauffälligen Dingen zu lesen steht, dann will das nichts anderes heißen als: der Entdecker der so unauffälligen Sätze und Passagen ist ein besonders aufmerksamer Leser im Vergleich zu den sehr oberflächlichen Kollegen. Der Schweizer Kritiker Anton Krättli (18. August 1922 – 11. Juli 2010) verstieg sich Anfang 1980 in den „Schweizer Monatsheften“ gar zu dieser Kühnheit: „Kritiker, die Literatur ausschließlich nach ihrem engagierten Standpunkt beurteilen, müssten das eigentlich loben. Aber es scheint, dass sie so differenziert und so genau gar nicht zu lesen verstehen.“ Es scheint; er hat natürlich recht. Es scheint, als wüsste er nicht sehr sicher, was er da eigentlich sagt.
Ich zum Beispiel bin nicht nur bekennender Kunert-Freund, der möglichst keine Gelegenheit liegen lässt, wenigstens etwas zu ihm zu sagen, sondern schreibe auch seit vierzig Jahren Kritiken. Und mir fällt, weil ich die Banalität des Geschehens in „Noch ein Wunsch“ eben nicht gleich beiseite schiebe, das eine oder andere auf. Der sich selbst dauerbespiegelnde Erzähler/Held Martin hat nicht nur panische Angst davor, dass nichts mehr kommt in seinem Leben, was man so dumm wie ausdauernd Midlife-crisis nennt, er hat konkretere Ängste: vor der Lächerlichkeit beispielsweise. Im Wald, wo ihn niemand sieht außer Anne Wyss, deren Namen man erst sehr spät überhaupt erfährt, will er den geborgten Hut gegen den Regen nicht in der Hand tragen, weil ihm das lächerlich vorkommt. Der überaus einfache Gedanke, dass diese Anne nicht nur des Altersunterschiedes wegen Distanz zu ihm hält, wogegen die eine zusammen verbrachte Nacht nicht wirklich spricht, sondern dass sie eben weiß: er ist verheiratet, er hat Kinder, er hat eine Frau, die ihr alles andere als unsympatisch ist, denn Anne hat sie kennengelernt und sich mit ihr durchaus gut verstanden, dieser einfache Gedanke kommt ihm nie, stattdessen badet er alleweil in anstrengendem Pseudo-Tiefsinn.
Dann gibt es in Kapitel VIII eine Stelle, die ich verstörend nennen würde, wenn ich in Linsen an der Wuhe geboren wäre. Anne sagt: „Hier soll im letzten Krieg ein Landesverräter erschossen worden sein.“ Der Erzähler, der neben allem auch Offizier ist: „Ja, sagte ich, das haben immer die eigenen Leute besorgen müssen, die Kameraden.“ Von welchem Krieg, um Gottes willen, ist hier die Rede, in dem in der Schweiz von den eigenen Kameraden Landesverräter erschossen werden mussten? Nur sprachbesoffene Kritiker, denen gleichgültig ist, worum es in einem Buch eigentlich geht, können an solchen Stellen achtlos vorbeigehen. Tut mir leid, freundlicher kann ich das nicht sagen. Dann steht da, schon in Kapitel IX, dies: „Ich muss geschlagen haben, sie, ins Gesicht. Ich versuchte sie aufzufangen, begegnete ihrem Körper, wenn das ein Kampf war, so war er von einem unaufhörlichen Zusammenbruch nicht zu unterscheiden, eigentlich kämpfte ich nur noch um Luft, rang um Atem gegen einen Widerstand, der mich zur Verzweiflung brachte, wenn er nachgab, der mich erstickt hätte, wenn er unüberwindlich geblieben wäre.“ Abgesehen von der doch offenbar eingestandenen Gewalt gegen Anne: Was ist das für ein schwungvoll gequirlter Magerquark?
„Was hier zu einer meisterlich-knappen Erzählung gezwungen wurde, ist von unerbittlicher Behutsamkeit“, schrieb Fritz J. Raddatz im Dezember 1979. Dazu zählt dann auch: „… aber wenn sie redete, wurde ihr Gesicht schön. Ich dachte an sie, als ich im Kinderzimmer onanierte. Danach tat es weh.“ Die Rede ist von der Wirtin in einem Restaurant an einer Seilbahnstation. Natürlich soll keinem Mann, der im fortgeschrittenen Alter erstmals Vater wurde, der älteste seiner drei Söhne ist 13 Jahre alt, während Anne mit 28 auch seine Tochter sein könnte, solches Bekenntnis verwehrt werden. Mir hätte am Selbstbild des Mannes Martin nichts gefehlt, wenn ich es nicht erfahren hätte. Denn viel gravierender ist: die präsentierte Lebenskrise ist inhaltlich (schon wieder Inhalt!), leider muss ich das abermals sagen, nicht hinreichend motiviert. Wer seine Selbstbefriedigung in einem Kinderzimmer freiweg bekennt, sollte dann auch motivierende Fälle von Nicht-Befriedigung nicht unerwähnt lassen. Was ist mit seiner Frau, von der er wenig verrät, nur: „Meine Frau pflegt meinen Reisen nicht nachzufragen.“ Ein Kollege, dem ich einst in für ihn schweren Zeiten Arbeit in meiner Redaktion gab, pflegte angelegentlich zu sagen: „Das kommt alles nur von der Querfickerei.“
Nur ist der Unterschied der, dass der intellektuelle Querficker sich seinen eher bionormalen Bedarf glaubt schönreden zu müssen. Er denkt sich Krisen herbei, tiefenpsychologische Befunde, er redet und schreibt von Untergängen, die ihm seine Schlafzimmergardine vorgaukelt: die neue Frau im Bett - fast wie im Kitsch as Kitsch can muss sie natürlich sehr viel jünger sein - ist dann gleich die Lebensrettung. Das Wort benutzt Muschgs Martin tatsächlich und allen Ernstes. Anne dagegen, die nicht nur an Nephritis leidet, sondern annimmt, dass der ausübende Rechtsanwalt Martin sofort weiß, was das ist, könnte eine sein, die in ihrer WG-Küche den Spruch hängen hat: Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment. War da nicht sowas in den Zeiten des nun glücklich überwundenen Engagements? Das war wohl eher für Männer gedacht, denn Frauen, mit Verlaub, waren 1968 viel weiter vom Establishment entfernt als heute immer noch. Ich will nicht leugnen, dass man im alten Renault 16 aus dem Jahr 1968 (Zufall??) ein Symbol sehen könnte. Dann wäre das stotternde Gefährt mit Anlasserschaden Symbol für den Zustand des Fahrers. Es könnte freilich auch eine Erklärung dafür geben, warum ein erfolgreicher Anwalt diese Karre fährt.
Adolf Muschg lässt dies wie anderes einfach offen. Dafür lässt er gern die Kapitel seiner Erzählung mit Sätzen enden, die vermutlich manches Herz in mancher Bachmann-Jury höher schlagen lassen sollten. Nach Kapitel I etwa: „Es konnte schon wieder zu spät sein, wenn ich auch nicht genau wusste, und mir jeden Gedanken daran verbot, wofür.“ Nach Kapitel II etwa: „Und als die Trauer dann kam, war es die Trauer und keine Verzweiflung, denn ich wusste, was ich entbehrte, das Nüchterne der Entfernung, die mich von Anne trennte, war lebendig wie sie.“ Die Verfasser von Fortsetzungsromanen, soweit sie direkt fürs Blatt schrieben, setzten solche Spannungssignale, die Filmemacher vor dem Schnitt. Weitere Proben: „Gerade an dieser Stelle ist es aber möglich, daran zu zweifeln, ob man je irgendwo zu Hause gewesen ist oder sein wird; man braucht deswegen niemandem gram zu sein.“ „Es gab eine Schwelle in diesem Raum, die nicht einmal meine Augen zu überspringen wagten. Ich hatte mich in die Körperlosigkeit hineingeredet wie in eine schreckliche Wohltat, jetzt war nur noch das Erschrecken da.“ Man muss viel Willen aufbringen, dergleichen toll zu finden. Günter Blöcker lobte in der FAZ „Muschgs aphoristische Kondensate“.
Sie „ersetzen ganze Seiten herkömmlicher Beschreibung“. Tatsächlich gibt es solche Stellen im Buch, aber es sind so wenige, dass sie im Rest untergehen. Außer den Berufslesern, die nach Zitaten fischen für ihre Kritik. Die dann auch Ideen äußern, die tatsächlich anregen, wenngleich nicht in die Richtung, die sie vorgeben. Hedwig Rohde beispielsweise: „Annes Generation ist mitleidsfremd. Als lesende Frau erschrickt man davor häufig … Aber es gibt zwischen den Generationen keine Ähnlichkeit mehr. Alles verläuft anders, auch das scheinbar Gleiche.“ Was lesende Frauen erschreckt, ist nicht meine Kernkompetenz, dass es auf gar keinen Fall um Generationskonflikte geht bei Muschg, sagt der lesende Mann in mir. Anton Krättli, der schon erwähnte, meint dagegen: „Nicht die natürliche Distanz zwischen den Generationen … eher schon der Riss zwischen Realität und Möglichkeit in seinem Leben oder die unüberbrückbare Kluft zwischen alltäglichem Kram und erfüllter Gegenwart sind das Thema.“ Der einstige Philosophie-Student in mir, der damit leben durfte, dass die Frage, ob es im Sozialismus Entfremdung gebe, geben könne, ruft Ha!, wie einst auf Bühnen des Drang und Sturm der Protagonist, bevor er den Dolch in den Antagonisten versenkte.
Mal abgesehen davon, dass man, ehe man einen Riss zwischen Realität und Möglichkeit dichtet, der bei genauerem Hinschauen ein Unterschied ist, auf Denkebene der Dialektik von Identität und Unterschied, wo der Riss kein Asyl beantragen kann - die Kluft zwischen Kram und Erfüllung erfüllt in klippschulbuchmäßiger Weise alle Kriterien für Entfremdung. Martin, dem seine eigene Arbeit der alltägliche Kram wäre, sähe erfüllte Gegenwart jenseits aller Arbeit. Er vergleicht alle Männer zu seinen eigenen Ungunsten mit sich, die irgendwie im Umkreis von Anne erscheinen. Obwohl er dereinst aus Paris Theaterberichte lieferte, unternahm er keinen erkennbaren Schritt, keinen in der Erzählung zu erfahrenden jedenfalls, zu beruflicher Erfüllung zu kommen. „Die Kunst dieser Erzählung besteht gerade darin, dass die Todesangst, das schwindelnde Gefühl von Leere und Abgrund, die Ahnung vollends, ob all der wichtigen Termine, ob all der Tüchtigkeit und bürgerlichen Pflichterfüllung das Leben selbst verfehlt zu haben, im banalen Erfahrungsbericht eines gewöhnlichen Menschen gegenwärtig sind.“ Auch der Krättli Anton merkt es nicht: Adolf Muschg liefert Entfremdungs-Phänomenologie, wogegen freilich gar nichts einzuwenden wäre.
Dann aber, wenn das so wäre, wofür ich plädiere, bekäme Peter Hamm mit seiner kritischen Diagnose einen seltsamen Beigeschmack, ein Geschmäckli vielleicht: „Wenn man später einmal nach den Liebesgefühlen unserer siebziger Jahre fragen wird, gibt es wenige Bücher, die so lakonisch und zugleich so sensibel poetisch darüber Auskunft geben können wie diese Erzählung, die auch innerhalb des bisherigen Werkes von Muschg in ihrer Verletzlichkeit und Untröstlichkeit einen ganz besonderen Stellenwert einnimmt. Noch ein Wunsch? Dass man diese Erzählung auch in die Lehrpläne unserer Schulen aufnehmen möge.“ An meine Liebesgefühle in den siebziger Jahren kann ich mich ziemlich gut erinnern, ihre Kronzeugin lebt seit 50 Jahren mit mir zusammen. So waren sie nicht wie bei Muschg, was natürlich nichts bedeutet. Vielleicht hatten wir aber tatsächlich unterschiedliche siebziger Jahre, was wieder ganze andere Theoreme ins Wanken brächte. Fritz J. Raddatz jedenfalls glaubte Anfang Dezember 1979: „Ein Buch, das man im Spätherbst nicht lesen sollte.“ Ich ergänze 45 Jahre später: im Frühling wird es auch nicht besser. Es sei denn, man liebe, wie Günter Blöcker, „das Erlebnis der Vergeblichkeit schlechthin“. Dann ist es schlechthin gut.