Arthur Eloesser: Conrad Ferdinand Meyer
Gut möglich, dass der 200. Geburtstag von Conrad Ferdinand Meyer am 11. Oktober 2025 einige schlafende Hunde hinterm Ofen hervorlockt. Immerhin stand der Schweizer zeitweise im Verdacht, neben Gottfried Keller einen Platz auf einem Denkmalsockel beanspruchen zu dürfen. Als eine Art eidgenössisches Pendant imaginiert zum Standbild der Heroen Goethe und Schiller in Weimar, von Ernst Rietschel (15. Dezember 1804 – 21. Februar 1861) erschaffen. Dazu ist es nicht nur nicht gekommen, auch die flüchtige Idee, von wem eigentlich genau, ist, so weit mir bekannt, nie ernsthaft weiter verfolgt worden. Der Kritiker und Literaturhistoriker Arthur Eloesser dokumentiert allein durch die Umfänge seiner Erörterungen zu Keller und Meyer in seiner Literaturgeschichte, wie er die Gewichte verteilt sah. Nur einmal (jetziger Kenntnisstand) vor 1931 äußerte er sich zu Meyer und das war in einem Beitrag für die Neue Rundschau unter der Überschrift „Neue Bücher“, in dem von Meyer gar kein neues Buch zur Sprache kam. Eloesser bezog sich auf die beiden prominenten Toten der deutschsprachigen Literatur aus dem Vorjahr 1898: auf Theodor Fontane und eben Conrad Ferdinand Meyer. Auf Fontane kam er immer wieder zurück, auf Meyer reichlich 30 Jahre nie wieder. Einzelne Vorarbeiten zur Behandlung in der Literaturgeschichte fehlen deshalb.
„Konrad Ferdinand Meyer starb, und Theodor Fontane starb, die beiden entgegengesetztesten Vertreter deutschen Wesens, die kaum noch derselben Race anzugehören scheinen, der strenge Bildner, der aristokratische Künstler, der unter südlichem Himmel seine Sprachdenkmäler wie aus glattem Marmor formte“, so Eloesser in der originalen Schreibweise von 1899. „Die beiden Dichter haben sich schwerlich gekannt, haben nie voneinander gesprochen … man kann sich nur mit einer gewissen Mühe vergegenwärtigen, dass beide in derselben Sprache schufen, der Oberdeutsche, ein Höhenmensch, der dem alten germanischen Wandertriebe folgend unter der italienischen Sonne brennendere Farben, reine Formen sucht, der sich als Geistesverwandter in das Lebens- und Kunstideal der älteren romanischen Kultur hineinlebt“. Fontane in dieser Perspektive den Norden verkörpernd: „Es ist kein Zweifel, dass wir uns heute mehr nach Norden orientieren, dass wir näher an Fontane sind als an Meyer“. Ob der Betrachter mit mehr oder weniger Recht das Wir gebrauchte, das Ich vermied, darf anhand der Rezeptionsgeschichte beider Autoren erwogen werden. Arthur Eloesser hat aber in seiner Literaturgeschichte einen Gesichtspunkt ins Feld geführt, der kaum einfach beiseite zu schieben ist, er betrifft eine sehr wesentliche Seite aller bedeutender Literatur.
„Wenn man ihn gelesen hat, kennt man ihn; es steht nichts zwischen den Zeilen. Man kann ihn nicht neu lesen, mit anderen älter gewordenen Augen, man kann nicht zu ihm zurückkehren, nicht mit ihm leben.“ Wie man es mit anderen Autoren eben kann: mit Keller, mit Fontane, um nur bei Eloessers Vergleichsgrößen zu bleiben. Was zu den Novellen, zu den Gedichten Meyers als Deutung, als Interpretation im Umlauf ist, hält sich gern bei historischen Hintergründen auf, erörtert die spezifische Weise seines Umgangs mit dem Element der Rahmenhandlung, sucht natürlich bis auf den heutigen Tag auch nach autobiographischen Bezügen. Der Begriff der Maske spielt in Aussagen zu Leben und Werk Meyers eine exponierte Rolle. Hermann Hesse hat behauptet, auf einige wenige Novellen Meyers immer wieder zurückgegriffen zu haben, das wäre ein eigenes Thema, auf die ihm wichtigste aber nie. Tatsache ist, dass heute kaum jemand Aufschluss, vor allem literarischen im fiktionalen Sinne, wird gewinnen wollen etwa über die Bartholomäusnacht von 1572 anhand nur der Novelle „Das Amulett“. Das würde ein Beibuch erfordern, mindestens aber „Erläuterungen und Dokumente“, wie sie der Stuttgarter Reclam-Verlag seit Jahren dankenswerter Weise publiziert, grüne Bändchen in der Regel, so eben auch zum genannten „Amulett“ Meyers.
1899 hat Arthur Eloesser kein einziges einzelnes Werk von Meyer genannt. 1931 erschienen die Titel „Huttens letzte Tage“, „Balladen eines Schweizers“, „Jürg Jenatsch“, „Die Richterin“, „Der Heilige“ und „Andrea Borgia“. Dazu Eloessers Kommentar: „Die „Angela Borgia“ wird als Meyers Meisterwerk bewundert, sie ist voll von Verbrechen und Grausamkeiten aller Art, Mord, Blendung, Hinrichtung. Aber die Figuren stehen doch im leeren Raum, und eine Seite von Burckhardt sagt mehr über die Kultur der Renaissance, die sich hier nicht darstellt, weil diese Borgias mit ihren Verbrechen zu viel zu tun haben.“ Dem Schweizer Burckhardt sagt Eloesser dennoch eine sehr entscheidende Wirkung auf Meyer nach: „Durch ihn lernte Conrad Ferdinand Meyer für seine Novellen das historische Sehen und Gruppieren, das Besetzen des Schauplatzes mit handelnden Figuren.“ Und: „Eine starke Anregung empfing er aus Burckhardts Kultur der Renaissance, nicht nur die heroischen Stoffe, sondern auch die Aufforderung, große, über alles Mittelmaß aufragende Erscheinungen, ohne alle Einsprüche der Moral, nur durch ihren ästhetischen Schein zu gestalten.“ Und tatsächlich agieren bei Meyer nicht nur Kaiser und Könige, die es tatsächlich gab. Auch Dante tritt auf, sogar als Erzähler, Montaigne schaltet sich ein als Träger von Wissen und Weisheit.
Meyer gibt Eloesser auch Grund und Anlass, sich gattungstheoretisch zu äußern. „Der Jürg Jenatsch ist noch mehr Roman als Novelle, die Schweiz des 17. Jahrhunderts noch mit Scottschen Mitteln geschildert, die aber doch alle die Geschichte, Politik, Kriegführung und Liebessachen nicht in einen epischen Fluss bringen.“ Und die Novellen? Eloesser bestimmt ihre Eigenart, ehe er die Meyers zusammenfassend betrachtet. Die „echte Novelle beruht auf einer Anekdote, auch auf einer Kuriosität, auch auf einem Wunderbaren, aber immer mit dem Ziel einer seelischen Erfahrung oder Entdeckung, die uns bis zur Bestätigung überzeugen muss.“ Meyers Novellen „sind komprimierte Romane, Verschlingungen mehrerer vollständiger Lebensläufe, und sie scheinen nur explosiv, weil sie übermäßig mit Stoff und Handlung geladen sind.“ In „Andrea Borgia“ findet der Kritiker „kunstwidrigen Behelf“. „Auch dieser Erzähler war ein verhinderter Dramatiker; er sagt selbst einmal nach der großen Anerkennung seiner Novellen, dass er trotz der Weisheit des Alters zum großen Drama getrieben wurde und sah voraus, dass es einen Schiffbruch geben würde.“ Noch nach Meyers Tod am 28. November 1898 galt das Drama, genauer die große Tragödie, als Spitze der Gattungspyramide, was, man soll es erwähnen, manchen verhinderten Dramatiker doch entlastet.
„Meyers Kunstsprache ist viel gerühmt worden. Ihre Knappheit und Klarheit, die Härte und spiegelnde Glätte ihres Marmorschliffs. Aber dieser Marmor ist doch nur Belag und deckt ganz offenbar einen weichen, selbst weichlichen Kern von Empfindsamkeit und unwelthaftem Schwärmerwesen. So beginnt sein Werk bei allem Ruhm zu verwittern, eine brüchige Säulenhalle, hinter der kaum ein Haus gestanden hat.“ Das klingt vernichtend, beruft sich aber auf Gottfried Keller und seine wirklich unbestreitbare Autorität: „Keller sagte das Entscheidende, dass Meyers scheinbar monumentale Gefasstheit und Knappheit nicht aus der Beherrschung des Elementarischen oder Dämonischen herrührte, sondern weil er nicht mehr zu geben hatte, weil nichts dahinter war.“ Biografischen Details über Eltern, Schwester, Gattin, Krankheiten, Freundschaften, Antipathien hat Eloesser in seiner Literaturgeschichte ausgespart, lediglich auf die besondere Geschichte hingewiesen, die ihn mit Luise von Francois verband, „die er spät entdeckte, wie sie ihn entdeckte“. „Sie hielt den Schöpfer dieser Figuren für einen Mann, der so kraftvoll wie maßvoll sein Leben lenkte, wusste nichts von Wahnsinn und Selbstmord der Mutter, wusste nicht, wie nahe der Sohn in langen, quälenden Entwicklungsjahren vor diesen beiden Katastrophen selbst gestanden hatte.“
Den Lyriker Meyer hat Eloesser bei allem keineswegs vergessen. „Der Balladendichter ging von Uhland, der Lyriker von Platen aus; er hat wie sein Meister wenig Erlebnis, das unmittelbar mitnimmt; es gelang ihm, unter vielen Gedichten, die nicht eigentlich singen konnten, einige Erkenntnisse, Erfahrungen, Gesichte in einer untadligen Form wie von Bronze oder Marmor zu gestalten.“ Das deute auf Stefan George voraus und gehe über alles hinaus, was Paul Heyse machte. „Huttens letzte Tage“, geschrieben in fünffüßigen jambischen, ausschließlich männlichen Paarreimen“ (Herbert Kaiser), brachten 1870 Meyer den ersten echten Erfolg: „In diesem Dichter und Kämpfer, dem deutschen Ghibellinen und Kirchenfeind, befreit er sich selbst; er tat es in kurzen, epigrammatischen Zweizeilern, die leicht eingingen, ohne einen größeren, ahnungsreichen Hintergrund zu eröffnen.“ Die vielleicht berühmtesten Zeilen Meyers finden sich hier: „Das heißt: ich bin kein ausgeklügelt Buch, / ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ Und Eloesser hat sie natürlich zitiert. Auch Hutten blieb letztlich eine der Wunschfiguren ihres Dichters, die „nicht aus der Kraft, sondern aus Spannung oder Überspannung hervorgegangen sind“, wie er es den Novellen-Helden nachsagte. Das müsste jedes gute Auge auch ohne Kenntnis seines Lebens sehen.
„Meyer dringt immer auf die große Szene, … seine Personen sind nie allein, immer auf der Bühne, aber nicht mehr vorhanden, wenn sie abgetreten sind.“ 1936 hat Eloesser dann doch noch einmal den Namen Meyer ins Spiel gebracht. Da ging es aber nicht um ihn, es ging um Julius Rodenberg (26. Juni 1831 – 11. Juli 1914). „Ein Mann von strategischer Begabung, ein scharf und weit sehender Förderer, der die Ebner-Eschenbach entdeckt, der den großen Erzählertalenten der Epoche, den Theodor Storm, Gottfried Keller, C. F. Meyer ein stattliches literarisches Heim errichtet hat.“ Das findet sich in Eloessers letztem Buch, „Vom Ghetto nach Europa“ (1936), das die Verdienste auch des großen jüdischen Schriftstellers Rodenberg würdigte, der 1874, vor 150 Jahren also, die „Deutsche Rundschau“ begründete. Das erste Heft erschien im Oktober 1874 im Gebrüder Paetel Verlag. Einträchtiger als im Leben stehen Gottfried Keller und C. F. Meyer hier nebeneinander. Das Verhältnis beider ist ein Thema, zu dem Eloesser dezidiert beitrug mit seiner Aussage: „Die Unvereinbarkeit ihrer beiden Lebensarten entsprang im Grunde einer sozialen Differenz zwischen dem wohlhabenden Patrizier, der in seiner Villa gelegentlich ein Glas Wein trank, und dem Plebejer, der sich in einem verrauchten Wirtshaus mit zahllosen Schoppen beschäftigte, um dann seine geliebte Junggesellenwirtschaft nicht immer auf dem geradesten Weg zu erreichen.“ Mehr später.