Hermann Hesse und Conrad Ferdinand Meyer
Wer sich dem Verhältnis des Wahlschweizers Hermann Hesse zum Urschweizer Conrad Ferdinand Meyer zuwendet, kann unter Umständen sehr schnell fertig werden. „In meiner Jugendzeit haben die Dichtungen Meyers immer tiefen Eindruck auf mich gemacht, am meisten die Gedichte und einige der Novellen. Eine davon, die „Leiden eines Knaben“, las ich auch später je und je wieder, ebenso den „Heiligen“. Den stärksten Eindruck aber machte mir, im Alter von 19 oder 20 Jahren, eine Novelle, von der ich gestehen muss, dass ich sie seither nicht wieder gelesen habe. Es ist die „Hochzeit des Mönchs“, und es mag wohl sein, dass der Eindruck nur darum so mächtig war, weil diese Novelle das erste Stück von Meyers Prosa war, das ich kennenlernte. Und dass ich dies Stück später nie wieder gelesen habe, dem liegt halb unbewusst gewiss der Wunsch zugrunde, mir ein großes, ja heiliges Erlebnis nicht durch Wiederholung und spätere Analyse zu entwerten.“ So Hesse Ende 1923 in der Neuen Zürcher Zeitung, geschrieben offenbar aus Anlass des 25. Todestages von Meyer. Genau drei der elf Novellen Meyers nennt Hesse (den „Jürg Jenatsch“ eingerechnet in dieser Zählung, der vielfach natürlich auch unter die Romane gerechnet ist), zwei davon las er wiederholt, eine nach der Erstlektüre nie wieder. Darauf wird zu achten sein wie auf die Erklärungen dazu.
„Das Leiden eines Knaben“ taucht in der unübersehbaren Hesse-Literatur mit schönster Regelmäßigkeit immer dann auf, wenn „Unterm Rad“ behandelt wird, wo auch das Leiden eines Knaben im Mittelpunkt steht. Manche erwecken den Eindruck, es handle sich um einen möglichen, nicht um einen tatsächlich nachweisbaren Rückbezug. Die wiederholte Lektüre, das ist nun mit ziemlicher Sicherheit zu behaupten, fällt in die frühen Jahre Hesses, „Unterm Rad“ erschien erstmals 1906 in Buchform bei S. Fischer, 1909 ebenda in der einst sehr populären Reihe „Fischers Bibliothek der zeitgenössischen Romane“, Band 1, 2. Jahrgang. Ob Hesse auch danach noch zu dieser Meyer-Novelle griff, ist offen, entsprechende Nachweise sind, mir jedenfalls, nicht bekannt. „Der Heilige“, zuerst in Julius Rodenbergs Deutscher Rundschau gedruckt (November 1879 – Januar 1880), Buchausgabe im April 1880, ist nur wegen der Mehrfach-Lektüre genannt, anders als eben „Die Hochzeit des Mönchs“ (1884). Sie war das erste Stück Prosa von Meyer, das Hesse überhaupt kennenlernte, es wird also mit hoher Wahrscheinlichkeit in den frühen Lebenszeugnissen dazu Aussagen geben. Es sei - denn es ist alles andere als ein Geheimnis - hier schon auf die Jugendschriften Hesses hingewiesen, in denen sich das wichtigste Zeugnis dazu finden lässt.
Interessant ist die Begründung, warum Hesse „Die Hochzeit des Mönchs“ nie wieder gelesen hat: er fürchtete Enttäuschung, hat also einschlägige Erfahrungen bereits gesammelt. Groß und heilig nennt er das erste Leseerlebnis, das durch spätere Analyse entwertet werden könnte. Eine wenig spätere Analyse gibt er 1923 aber dann doch: „Die Haltung jener Novelle, vor allem ihre feste, etwas gewaltsame, latinisierende Sprache hat mich damals erschüttert und hat in meiner eigenen künstlerischen Entwicklung und Selbsterziehung eine Rolle gespielt. Dabei ist mir, wenn ich heute zurückdenke, der „Inhalt“ jener Erzählung zum größern Teil verloren gegangen. Was von jenem ersten Eindruck her blieb, sind eigentlich bloß einige wenige Bilder und der Klang jener streng stilisierten, gehämmerten Sprache. Suche ich mich an das Erlebnis jener ersten Lektüre zu erinnern, so sehe ich immer dasselbe, ein tief eingegrabenes Bild: das des hageren Dante, der in Verona, in der Verbannung, an fremden Kaminfeuern düster und streng seine Geschichte erzählt. Der feste, harte Umriss dieser Gestalt, der so viel Einsamkeit, Bitterkeit, Resignation und gehärteten Willen mit umschließt, ist mir Symbol und Hieroglyphe für die ganze Art und Kunst C. F. Meyers.“ Zu finden ist das auch in „Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen“ (Suhrkamp 1970).
Herausgeber Volker Michels war da noch nicht mit Eröffnungsband 1 der großen Werkausgabe, den „Jugendschriften“ befasst, sonst hätte er vielleicht die ausführlichere Auslassung des ganz jungen Hesse zu Meyer ebenfalls aufgenommen. Sie entstand im Blick auf den 55. Geburtstag von Hesses Mutter Marie am 18. Oktober 1897 zwischen dem Sommer 1896 und dem Oktober 1897. Das zuvor ungedruckte Manuskript „Plauderabende“ ist im Rahmen der „Jugendschriften“ erstveröffentlicht aus dem Manuskript, welches im Literaturarchiv Marbach lagert. Es umfasst im Druck insgesamt knapp 27 Seiten, „C. F. Meyer“ ist dabei der Abschnitt XVI. „Was mir Falke als Liederdichter ist, ist mir Meyer als Erzähler. Seine Bücher sind so voll klarer Luft, hohen Himmels, strenger, scharfer Konturen, so voll Sonne, Form und Farbe, dass man beim Lesen sich selber merkwürdig frisch und helläugig vorkommt. Da sind viele Zartheiten und geistreiche Spiele, die an Goethe erinnern, und mehr noch an alte Erzähler, an die Novellisten und Causeurs des Cinquecento.“ Neunzehn, zwanzig Jahre war Hesse da alt, es klingt wie aus großer, souveräner Übersicht geschrieben. Tatsächlich aber nennt er seiner Mutter nur einen einzigen Titel und den auch nur unvollständig: „Jürg Jenatsch“. Just der aber fehlt im schon betrachteten Beitrag aus dem Jahr 1923, ein Vierteljahrhundert später.
Aufklärung könnten frühe Briefe bieten. An seine Schwester Adele schrieb Hesse im Oktober 1897: „Ja, Meyer! Man merkt ihm den Schweizer an, nicht wahr? Dass mein kleiner Essay dir gefiel, tut mir wohl. Ich kann dir von Meyer gelegentlich etwas leihen, und später musst du auch Gottfried Keller lesen ...“. Was er ihr leihen will, bleibt offen, der kleine Essay ist der aus „Plauderabende“. Wir wissen daher, dass Hesse seine ungedruckten Frühwerke, dies eine auf alle Fälle, der Schwester zum Lesen gab. Im Juni 1898 erfuhr Brief-Adressatin Helene Voigt-Diederichs: „Für ruhige, hohe Stunden sind mir nächst Goethe die Meister Keller, Meyer und Storm befreundet.“ Hier ist allenfalls die Reihenfolge der Namen von Interesse, Meyer nach Keller und vor Storm, alle drei aber nach Goethe. Am 5. Juni 1898 schrieb Hesse seinen Eltern: „Meine Freunde – außer Faber – sind wieder hier. Ich werde morgen mittag Meyers Astorre vorlesen, eine meiner Lieblingsnovellen. Sie ist wie eine gute, klassische Sonate; man liest sie zwanzigmal für sich und noch öfter vor, und findet meist wieder eine Schönheit, eine Finesse in der prächtigen Architektonik.“ Die Rede ist, der Sohn vertraute offenbar auf das Vorwissen seiner Eltern, von „Die Hochzeit des Mönchs“, dort ist der Mönch Astorre die Hauptfigur der Binnenerzählung. Dass Hesse übertreibt, liegt auf der Hand.
Im November 1898 erfahren die Eltern: „Zur Erholung hab ich die Romantik für einige Tage weggelegt und lese ohne Anstrengung einiges Beruhigende, neben C. F. Meyers Gedichten die „Geschichte der Bücherliebhaberei“ von Mühlbrecht …“. Otto Mühlbrecht (28. Februar 1838 - 26. Juli 1906) erlebte mit seinem Standardwerk „Die Bücherliebhaberei in ihrer Entwickelung bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Bücherwesens“ 1898 gerade die zweite, vermehrte Auflage. Man muss derzeit zwischen 35 und 980 Euro für ein Exemplar auf den Tisch legen, Hesse hatte es sicher druckfrisch und deutlich preiswerter. Klar wird aus dieser wenig aufregenden Information, dass Meyer seinen jungen Leser keineswegs auf Wochen fesselte, den interessierte eher die gute alte Romantik. Meyer beruhigte ihn mit seinen Gedichten, was im Umkehrschluss hieße: Die Romantik beunruhigte ihn, erregte ihn oder regte ihn auf. 1903 schrieb Hesse unter der Überschrift „Der Umgang mit Büchern“: „Einer meiner Bekannten, der in anderen Dingen gern frei von der Leber weg redet, rückte mir gegenüber erst nach längerem Zögern damit heraus, dass ein Roman von C. F. Meyer, den ich ihm geliehen hatte, ihm gar nicht zusage. Er fürchtete sich dadurch zu blamieren, weil er wusste, dass Meyer eine anerkannte Berühmtheit ist.“
Wenn überhaupt, dann hat Meyer nur einen Roman geschrieben, „Jürg Jenatsch“, und der Titel taucht in Hesses berühmt gewordenem Werk „Eine Bibliothek der Weltliteratur“ (Erstfassung Reclam Leipzig 1927, geschrieben 1927) als einziger von Meyer auf. Die Leseempfehlung will ausdrücklich von den Novellen nichts mehr wissen, hält aber zu Meyer und Keller ergänzend fest: „Von beiden gibt es auch Gedichte von hohem Rang ...“. Wenn Novellen Meyers erwähnt werden, dann nie wieder mit einem Titel verbunden, nur als feste Größe: „Ich hatte auch das Wohnhaus des Colleoni aufgesucht und darin einen köstlichen kleinen Speisesaal gesehen, stilvoll und apart mit kleinen edlen Zieraten in gesättigter Stimmung, ganz wie aus einer Novelle von Conrad Ferdinand Meyer.“ (Hier zitiert aus „Italien“, Überschrift „San Vigilio“ Suhrkamp 1983). Unterm Strich also bleibt offen, ob und welche Novellen Meyers außer den genannten drei/vier Hesse tatsächlich kannte. In den frühen Aussagen für die Mutter Marie jedenfalls ist auch nicht erkennbar, ob er mit irgendwelchen Details aus Meyers Leben vertraut war. Erst 1907 wird klar, dass er die kleinen Monographien von Otto Stoessl (2. Mai 1875 – 15. September 1936) über Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer kennt. Die über Meyer erschien nach 1904, vermutlich 1906.
„Und da haben wir gleich Meyers Domäne, seine Heimat, seinen Liebling, - das Jahrhundert des erhöhten Lebens, der großen Künstler in Leben, Politik und Kunst, die Zeit der großen Römer und Florentiner, die Zeit Raphaels; Michelangelos, der Medici. Große, klarblickende Gestalten vornehmster Bildung stehen auf berückenden Lebenshöhen mit klugen Augen über großen, verflochtenen Schicksalen, deren Fäden in ihre Hände laufen. Daneben im Krieg zusammengewürfelte Nationen, darunter ausgezeichnet, des Dichters Landsleute, die Schweizer, mit derben Seelen und kräftigen Gebirgsnaturen. Aus ihnen wachsen starke, unbändige Leidenschaften, zuweilen in einem einzelnen, felsigen, fast übermenschlichen Mann verkörpert (am herrlichsten im Jörg Jenatsch).“ Das stimmt zweifelsfrei für einige, nicht aber für alle Novellen Meyers, deren erzählte Zeiträume bis etwa 1700 reichen, in neuere Zeiten, gar in die Gegenwart des Dichters, niemals. „Darüber aber sind nirgends, wie sonst in Staatsaktionen und Pompstücken, die großen und kleinen seelischen Zustände und Vergnügen vernachlässigt oder vergewaltigt.“ Zu vermuten ist, dass Hesse hier von den so genannten „Professorenromanen“ der Zeit abheben will, die Meyer selbst durchaus schätzte, was gelegentlich mit Kopfschütteln registriert worden ist.
„Eine einfache, tiefe, in hohem Grade künstlerische Menschen- und Seelenkenntnis frappiert in allen Werken Meyers. Aus seinen runden und edel gebauten Perioden und Kapiteln scheint oft das schlaue schelmische Auge Boccaccios zu blicken oder das dunkle, versehnte des Schwärmers Tasso. Die Tragik in Meyers Novellen ist einfach, groß und zwingend. Sie hat nicht die ungeheure Tiefe, die grausam überlegene Willkür Shakespeares, aber ihre Entwicklung ist einzigartig in ihrer Klarheit und Stetigkeit.“ Die Verallgemeinerungen Hesses, die für mich zweifelsfrei nicht aus der Kenntnis aller Novellen Meyers gezogen sind, deuten klar in Richtung Italien und in die dortige Renaissance. Hesse operiert mit Formulierungen, die bestimmte Standards der Neuromantik verwenden, ohne diese zu reflektieren: alles ist kostbar, köstlich, edel, nichts profan, niedrig, bei Meyer, wohlgemerkt. Der Name Boccaccio fällt bei ihm im Oktober 1906 in der Neuen Zürcher Zeitung, Überschrift „Nochmals Boccaccio“: „Aber wer Kultur genug hat, Dichtungen rein mit Rücksicht auf ihren künstlerischen Wert zu lesen, wer z. B. für Conrad Ferdinand Meyer reif ist, der findet bei Boccaccio häufiger als bei irgendeinem anderen alten und neuen Novellisten jene Augenblicke, die durch das Genießen höchster Kunst unvergesslich und fruchtbar werden.“
Meyer ist hiernach jemand, den man rein nach seinem künstlerischen Wert liest, das meint bei Hesse aber in allererster Linie: nach seinem sprachkünstlerischen Wert. Was eben auch bedeutet: wovon er erzählt, ist letztlich zweitrangig. Das wird Meyer natürlich nicht gerecht. Es widerspricht auch Hesses eigenen Aussagen über Meyers Domäne, seinen Liebling, siehe oben. Für die Mutter noch eine kühne Behauptung: „Ähnlich sein Humor, sein Lachen. Das Lachen eines guten Menschen. Rein, silbern, olympisch, oder auch voll der Lustigkeit eines lebhaften Kindes.“ Auf Wissen über das Leben des Kindes und des Jünglings Meyer deutet das in gar keiner Weise. „Und dann das Letzte und Beste! Das, worauf wir schlecht erzogene Leser am spätesten zu achten gewohnt sind, - die Sprache! Es lässt sich eine Sprache, ein Stil nicht beschreiben. Man muss selbst ihren Reiz kosten und ihr mit Liebe nachgehen auf ihren verborgenen Wegen. Bei Meyer lohnt sich das, denn er hat eine Sprache, er hat einen Stil. Seine Sprache wirkt wie die Luft im Hochgebirge. Alle Verhältnisse treten in guter Beleuchtung greifbar hervor …“. Hesses Absicht, der Mutter einen runden, reifen Essay zu kredenzen, ist absehbar, man könnte ihn sicher auch altklug nennen, obwohl Hesse mit 20 dafür eigentlich schon zu alt war. Er präsentiert sich als Genießer höherer Genüsse.
„Zuweilen finden sich liebenswürdig naive Schweizer Spracheigenheiten. Wer ein Liebhaber des Latein ist oder überhaupt ein Bewunderer des knappen, sicheren Ausdrucks, der Prägung, der muss sich an Meyers Sprache laben wie an einem römischen Historiker. Cäsar, Tacitus, auch Livius sind hier deutlich zu erkennen. Die Verbindung einer großen Feinfühligkeit und Künstlerbegabung mit dieser Sprache ergibt den Hauptwert und Reiz, der Meyer'schen Dichtung, die erstaunliche Plastik der Schilderung. … Eine Landschaft, eine Menschenmenge, von Meyer geschildert, sind herrlich; und wo es sich um Details handelt, um ein Portrait, um eine Architektur, ein Bildwerk, einen Schmuck, ein Wappen, - da ist er unerreicht, homerisch.“ 2024 dürfen wir mit großer Sicherheit annehmen, dass die Zahl derer, die sich an römischen Historikern laben, von Null nur schwer zu unterscheiden sein wird. Schon die schiere Leserzahl, die Gequälten eingerechnet, wird mehr als überschaubar sein. Aber der junge Hesse gab sich beflügelt, gab sich begeisterungsfähig, was er zweifelsfrei auch war. Nicht zuletzt deshalb schließt er an den Satz „Aus all dem ergibt sich die großartig einseitige Begabung dieses Mannes zum Novellendichter.“ gleich noch eine ambitionierte eigene Bestimmung dessen an, was eine Novelle sei: in der Modesprache der Neostile-Zeit.
Das liest sich so: „Was wir unter „Novelle“ verstehen, reife Schicksale in ihren Höhepunkten von einem leidenschaftslosen Erzähler berichtet, dramatische Situationen, dritte und fünfte Akte, alles in sorgfältig gewähltem Rahmen, die Farben mit besonnener Technik auf Harmonien gestimmt, über dem ganzen der kostbare Hauch, der über alten Meistergemälden, die Patina, die über wertvollen Bronzen liegt, - das ist sein Gebiet, da liegt seine Begabung und Meisterschaft.“ Mag über alten Gemälden ein kostbarer Hauch liegen, er wird sich kaum nur auf alte Meistergemälde legen. Und Patina unterscheidet nicht zwischen wertvollen und wertlosen Bronzen, ihr Vorkommen ist sehr profan an Kupfer und kupferhaltige Legierungen gebunden. Sprache ist verräterisch, auch bei denen, die ihre Sachwalter zu sein vorgeben. An den als „Waldpfarrer“ bekannten Karl Ernst Knodt (6. Juni 1856 – 30. September 1917) schrieb Hesse im Januar 1901, es ging um Jens Peter Jacobsen: „Ich glaube Ihnen nicht, dass C. F. Meyer „für mich gesünder“ sei als Jacobsen, obwohl ich ihn meiner Theorie nach über letzteren stellen müsste. Gerade Sie als Kenner und Überblicker müssen in dem Dänen den großen Anreger und Zukunftsförderer sehen, während Meyer, bei aller Größe, eben eine völlig isolierte Spezialität ist.“ Das ist schon eine kräftige Einschränkung gegen 1898!
Zweieinhalb Jahre später, auch an Knodt: „Mitschöpfer und Erwecker großer neuer Ideale zu sein ist gefährlich. Das erstere hat C. F. Meyer meisterhaft getan, beides vereinigt tut d'Annunzio.“ Will Hesse ernsthaft, wenigstens in diesem Punkt, den Italiener über den Schweizer stellen? 1930 wandte sich Hesse an einen jungen Dichter: „Es ist also selbst bei den größten Dichtern die Handschrift früher Versuche keineswegs immer schon wirklich originell und überzeugend. In Schillers Jugendgedichten kann man ganz erstaunliche Entgleisungen und in denen von C. F. Meyer oft geradezu Talentlosigkeit finden.“ Versteht sich, dass Hesse sich da nicht selbst zum Beispiel nimmt. Sein Biograph Fritz Böttger dagegen wusste: „Der Zweizeiler mit paarweis gereimten fünffüßigen Jamben, wie ihn Conrad Ferdinand Meyer in seinem Hutten-Zyklus und anderen Gedichten programmatisch verwandt hatte, bestimmt die Versgestalt. Aber auch andere stilistische Reminiszenzen wie die vielfachen Wiederholungen des Versanfangs fand er dort vorgebildet. Selbst Meyers Lieblingsreim „nicht – licht“ kehrt wieder.“ In seinen Gedichten, vor allem in frühen, hat sich Hesse also sehr direkt bei Meyer bedient. Genau deshalb, darf man vermuten, erwähnt er dessen Gedichte zwar immer wieder, lobt sie meist ausdrücklich pauschal, aber mehr eben nicht.
Einen in den frühen Aussagen zu Meyer nicht erwähnter Zug fixiert Hesse 1918 in einem Brief an den Psychoanalytiker Josef Bernhard Lang: „Denken Sie, wie oft ein Dichter (C. F. Meyer, Flaubert und viele andere!) über einem einzigen Satz oder Kapitelanfang saure, kämpfende Wochen verbringt. Da fängt eben die Kunst an“. Meyer war tatsächlich ein besessener Bearbeiter. Von den Gedichten gibt es oft fünf, sechs Fassungen, die sich immer weiter vom ersten Entwurf entfernen, darüber ist ausführlich geschrieben worden. In der Prosa war solches Verfahren schon aus reinen Zeitgründen nicht durchhaltbar. Im Juli 1933 druckten Velhagen & Klasings Monatshefte „Besuch bei Wilhelm Raabe“, unter dem Titel „Besuch bei einem Dichter“ 1937 aufgenommen in Hesses „Gedenkblätter“. Das scheint seine späteste Äußerung zu Meyer zu sein. Er schreibt dort nur, dass ihm Meyer erst nach Gottfried Keller und Theodor Storm bekannt wurde. Und gibt zu erkennen, dass er auch mit der Geschichte der seltsamen Beziehung vertraut ist, die Keller und Meyer in Zürich pflegten. Mehr jedoch nicht. Fritz Böttger hebt Hesse klar von Meyer ab: „Im Unterschied zur geistesaristokratischen Denkrichtung eines Jacob Burckhardt, eines Friedrich Nietzsche und Conrad Ferdinand Meyer zeigt sich von Anfang an bei ihm eine Neigung zur Volkstümlichkeit“.