Gruß nach Kaisborstel

Nüchtern vermeldet Wikipedia: Der Schriftsteller Günter Kunert hat seinen Wohnsitz in Kaisborstel. Man kann, wie in der Internet-Enzyklopädie üblich, alles, was blau gefärbt ist, direkt anklicken und Kunerts Name ist hier natürlich blau angefärbt. Kaisborstel hat, Stand Ende 2010, stolze 76 Einwohner, was einen Schnitt von 26 pro Quadratkilometer ergibt. Alle Einwohner Kaisborstels würden sehr bequem in der Keplerstraße 2 und 3 unterkommen in Ilmenau, jedoch käme sicher kein einziger von ihnen auf die Idee, das zu probieren. Ich bin umgekehrt, wenn ich mag, sofort in Kaisborstel, wenigstens im Geiste. Ich muss zu diesem Zwecke nur die linke untere Schublade meines Schreibtisches aufziehen.

Obenauf liegen dort zwei gepolsterte Umschläge, einer ausgewiesen als Päckchen und Einschreiben mit dem Portosatz in Briefmarken über 4,90 DM, der andere ist mit drei Marken a 60 Pfennig freigemacht, die handgeschriebene Aufschrift „Päckchen“ ist durchgestrichen. Beide Umschläge sind an mich adressiert, einmal bin ich nur Eckhard Ullrich, einmal Dr. Eckhard Ullrich, Anschrift Kopernikusstraße 8 in 6327 Ilmenau. Vor der Postleitzahl steht (noch) DDR, der Absender ist ein Stempel: Günter Kunert, Schulstr. 7, D – 2216 Kaisborstel. Beide Umschläge haben einen Aufkleber „Schreib mal wieder“ in unterschiedlichem Design. Beide Umschläge sind längst geleert, die Inhalte in Regal und Ordner seit mehr als zwanzig Jahren sicher verstaut. Und wenn ich den mit einer römischen I markierten blauen Kunert-Ordner hernehme, auch einen mit der II gibt es noch und beide sind sehr gut gefüllt, dann sehe ich zuoberst und vorn eine Eintrittskarte.

„Als das Leben umsonst war“ hieß eine Veranstaltung im Maxim-Gorki-Theater Berlin am 15. März 2009, Beginn 17 Uhr. Die Saarländische Galerie, das Literaturforum im Brecht-Haus und das Maxim-Gorki-Theater luden zu Lesung und Gespräch mit Günter Kunert aus Anlass seines 80. Geburstages ein. Gesprächspartner Kunerts nach seiner Lesung war Reinhard Klimmt, Nachfolger Lafontaines im Amt des saarländischen Ministerpräsidenten, Minister unter Schröder und manches mehr. Ich sah allerlei bekannte Gesichter während der Lesung, Freya Klier setzte sich in die erste Reihe und später ging ich von hinnen. Kunerts damals neues Gedichtbuch „Als das Leben umsonst war“ trug ich mit mir, ohne mir ein Autogramm geholt zu haben, wie ich ursprünglich wollte. Es war mir zu viel Gedränge um den Jubilar und ich hatte zudem wenig Lust, eine mögliche Frage, die eine lange Rede erfordert hätte, in verfälschender Kürze zu beantworten.

In der gleichen Klarsichthülle wie die Eintrittskarte steckt eine aufklappbare, nicht personengebundene Visitenkarte des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar, auf der handschriftlich festgehalten ist mit dem Datum 12. 12. 1989 darunter: „Dein Kunert-Buch ist ernsthaft im Plan. Ich gehe damit jetzt vor die Presse. Laß mich Termine wissen.“ Dieses Stück bedruckten und beschriebenes Papiers, 64 x 209 Millimeter, symbolisiert vielleicht den Höhepunkt und ganz sicher einen der Tiefpunkte meines Leser- und Autorenlebens. Es wäre ein gutes Buch geworden und es ist nicht einmal ein Expose entstanden. Mich hat einfach die Geschichte überrollt und ehe ich den Kopf wieder heben konnte, war die Chance dahin, das erste Kunert-Buch eines DDR-Menschen zu veröffentlichen. Mein kurzer Briefwechsel mit Kunert ist eingeschlafen, weil ich der Aufforderung der beiden Aufkleber nicht folgen konnte ohne eine Erfolgsmeldung über meine Arbeit am Buch.

Die Zahl der selbständigen Titel Kunerts in meinem Regal hält mit dem heutigen Tage, wenn ich mich nicht verzählt habe, bei 85, zuletzt schenkte mir mein Sohn zum Geburtstag vorige Woche „Die Geburt der Sprichwörter“. Ein organisierter Kunert-Fan, der im Internet auf mich als Verfasser des ersten großen DDR-Artikels über Kunert in der Wendezeit im damaligen SONNTAG gestoßen war, hat mir als Dank für die Zusendung sowohl einer lesbaren kompletten Kopie des Artikels wie auch einer Kopie des zugrunde liegenden Originalmanuskripts aus meiner tonnenschweren Breitwagenschreibmaschine ein Bändchen zugeschickt, an dem ich besondere Freude habe. Es heißt „Echos“, folgt im Layout der Vorgänger-Reihe der bb-Bücherei des Aufbau-Verlages, die schlicht „Die Reihe“ hieß und in der auch Kunert erschien (Nr. 9, „Der Kaiser von Hondu“ 1959). Herausgeber dieser Sammlung früher Gedichte ist jener Jürgen Müller.

Von ihm weiß ich, dass Kunert die Herausgabe seiner frühen Texte etwa für die „Weltbühne“ oder den „Sonntag“, die er in der ersten Hälfte der 50er Jahre sehr eifrig belieferte, zu seinen Lebzeiten nicht wünscht. Nicht wenige dieser alten, teilweise nur mit Kürzeln gezeichneten Artikel habe ich als Student mühsam von Hand abgeschrieben in der Staatsbibliothek Berlin als Material für meine Diplomarbeit zu Kunert. Es gab da einfach noch keine Kopierer heutiger Qualität und was es gab, unterlag strengstem Papierkontingent. Inzwischen haben sich sicher längst Leute gefunden, die alles lückenlos erfasst haben. Und mein zweiter Großversuch mit Kunert aus dem Jahr 2004, als ich zunächst vom ersten Januar bis zum ersten März 27 Kunert-Titel in unmittelbarer Folge las, weitere 14 noch bis Ende Juni, schon unterbrochen durch andere Autoren, markiert den Übergang vom Manuskript zur Datei in meinem eigenen Schreiben.

Kürzlich besuchte mich ein Autor, der bis heute dem Eulenspiegel-Verlag treu blieb, in dem auch Kunert einst publizierte, „Der ewige Detektiv und andere Geschichten“ war dort sogar Kunerts erste Prosa-Sammlung überhaupt anno 1954, und ich zeigte voller Stolz eine Neuerwerbung, die ich mir wegen der geforderten Antiquariatspreise lange verkniffen hatte: „Kunerts lästerliche Leinwand“. „Ach!“ sagte Matthias Biskupek fast wie Alkmene im Rudolstädter „Amphitryon“ und blätterte, weil er den Band nun tatsächlich nicht kannte, und wir erinnerten uns unserer gemeinsamen grünschnäbligen Begeisterung für Kunert aus der Frühzeit unserer Bekanntschaft, die bis heute nur ihre Grünschnäbligkeit verloren hat. Kunert feiert heute seinen 83. Geburtstag. Deshalb dieser lange Gruß nach Kaisborstel. Das liegt in Schleswig-Holstein.


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