Störfall Stephan Hermlin

Mein Arbeitszimmer hat zwei Arbeitsplätze: einen Schreibplatz, einen Leseplatz. Bisweilen lese ich auch am Schreibplatz oder im Sessel im Wohnzimmer, der freilich seltener frei ist, seit ich nicht mehr tagsüber allein zu Hause bin. Ich schreibe aber nie am Leseplatz. Dafür sind dort Bücherstapel in Sicht- und Griffweite, deren Bestände meinem jeweils aktuellen Thema nahe stehen oder einfach nur darauf warten, weiter und idealerweise zu Ende gelesen zu werden. So ruhte dort auch „Die Zeit der Gemeinsamkeit. Erzählungen“, 1951 erschienen in der „Bibliothek fortschrittlicher deutscher Schriftsteller“, Autor Stephan Hermlin. Die auf den Ganzleinenumschlägen der Reihe auch nur BFDS genannten Bücher erschienen auf der Grundlage einer Kulturverordnung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. März 1950, die Leitung des Redaktionskollegiums lag in den Händen von Willi Bredel, das Nachwort des hier angesprochenen Bandes verfasste im Juli 1951 Günter Caspar. Caspar (6. August 1924 – 8. Juli 1999) war Lektor und Cheflektor im Aufbau-Verlag, Fallada-Herausgeber, 1943 ein junges NSDAP-Mitglied und unter dem Pseudonym Kaspar Borz später ein Autor der berühmten „Weltbühne“ in ihrer DDR-Fortführung. Wer die Tagebücher von Brigitte Reimann gelesen hat, weiß, dass Caspar dort eine exponierte Rolle spielt.

„Die Zeit der Gemeinsamkeit“ aber lag oben auf einem Stapel von Büchern der Weimarer Autorin Dora Wentscher, die es nie bis zu einem regulären Platz in meinen sortierten Beständen schaffte, auf den „Hamburger Miniaturen“ von Eduard Thorn und auf einem Band „Ausgewählte Werke“ von Johann Elias Schlegel. Für diese Zusammenstellung gibt es keinen rationalen Grund, auch keinen irrationalen, der Grund bin einfach nur ich, irgendwo muss schließlich alles liegen, falls es nicht stehen kann. Den Hermlin aber lagerte ich dort nur zwischen, weil ich nach meinem Beitrag „Stephan Hermlin: Drei Erzählungen“ (http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/1750-stephan-hermlin-drei-erzaehlungen) nicht mehr dazu gekommen war, den Rest zu lesen. Nun schien mir der Gedanke verlockend, angesichts des herannahenden Geburtstages von Hermlin am 13. April einen zweiten Beitrag nachzuschieben, ich las die Titelgeschichte, die die längste im Buch ist, ärgerte mich über den merkwürdigen Bau mit Rahmenerzählung und Binnenerzählung, in die weitere Binnenerzählungen verschachtelt sind, ärgerte mich über die bisweilen sehr manierierte, exaltierte Sprache, die mir vorgewarntem Leser anzeigte, dass die Einflüsse von deutschem Expressionismus und französischem Surrealismus und Symbolismus nicht zu verkennen sind.

Neben dieser Seite des Erzählten, die mit Akrobatik kaum beleidigend bezeichnet wäre, hat die Erzählung natürlich auch einen höchst handfesten Inhalt: es geht um den Aufstand im Warschauer Ghetto, der mit der tödlichen Niederlage der Aufständischen endete und mit der Ausradierung des Ghettos selbst, begonnen symbolisch mit der Sprengung der Großen Synagoge. Ich hätte manches zu schreiben gehabt: über den Rahmen, wo ein Mann zum ersten Male in seinem Leben nach Warschau kommt mit einem Brief genannten Papier bei sich, das dann zur Binnenerzählung wird. Das ist eine in der Literaturgeschichte nicht selten gewählte Konstellation, nur hier verschweigt das Ich wie der Autor Hermlin auch, wie das Papier in die Tasche des Warschau-Besuchers gelangte. Ich empfand und empfinde das als einen schweren Mangel der Geschichte. Also vertiefte ich mich nach fast 15 Jahren der Abstinenz von Hermlins Biographie abermals in dieselbe. Las in den frühen Büchern (ich besitze auch die seltenen, die mit der „Stalin-Kantate“ oder „Russische Eindrücke“ von 1948, die man heute suchen muss) von Warschau-Besuchen in Reportage-Form. Hermlin war auch Teilnehmer des von England nach Warschau verlegten II. Weltfriedenskongresses, in dessen Gefolge der Weltfriedensrat gegründet wurde. Ich stolperte von einem Ärgernis zum anderen.

Ich kann und will gar nicht alle hier aufzählen. Ich greife nur eins heraus: fast begeistert erzählt Hermlin davon, wie das ehemalige, dem Erdboden gleichgemachte Ghetto mit einer dicken Betonschicht überzogen wird, auf der dann Massen von Wohnhäusern hochgezogen werden sollen und beim zweiten Besuch auch schon hochgezogen sind. Sofort fielen mir Erzählungen meiner kurz vor ihrem 91. Geburtstag verstorbenen Mutter ein. Zwei Dinge bewegten sie immer wieder: der Umstand, dass die Nazis den „Juden-Friedhof“ ihrer Stadt gepflastert und Bänke aufgestellt hatten, und der Umstand, dass die Polen alles überbauten, als sie in das vordem deutsche Gebiet einzogen nach Kriegsende. Als ich vor einigen Jahren meine Mutter und eine ihrer Schwestern dorthin begleitete, sah ich den gemeinten Ort, an dem es anders als am Platz des ehemaligen Ghettos in Warschau zu Hermlins Zeiten weder ein Denkmal noch auch nur eine Gedenktafel gab. Von bis heute andauernden Schwierigkeit unseres Nachbarlandes im Umgang mit dem eigenen Antisemitismus soll hier keine Rede sein, polnische Historiker haben sich mehrfach des Themas angenommen und sind bösesten Anfeindungen bei sich zu Hause ausgesetzt gewesen. Aus dieser Vorgeprägtheit heraus fiel mir auch auf, was mancher Hermlin-Leser vielleicht einfach übersah.

In „Die Zeit der Gemeinsamkeit“ kommen lettische und ukrainische SS-Einheiten vor. Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht 1951 noch eine Provokation war, Bruderländer aus dem Reich des Großen Stalin mit SS-Verbrechen in Verbindung zu bringen. Ich weiß, dass meine Mutter immer wieder erzählte, wie die lettische SS in den leeren Häusern der Geflüchteten mehr und wilder gehaust hatte als die Russen, die auf ihren Panje-Wägelchen kamen und mehr nach den Frauen und Mädchen ausschauten. Ich sah das Eckhaus, in dem eine Schulfreundin meiner Mutter und die Mutter dieser Freundin nach der Vielfachvergewaltigung sich gemeinsam das Leben nahmen. Ich verstand, warum die Deutsch-Sowjetische Freundschaft meiner kleinen Mutter wie auch die Deutsch-Polnische Freundschaft zu keiner Blüte kommen konnten. Warum der Jude Hermlin so seltsame Gedanken angesichts des Umgangs mit diesem Ghetto in Warschau haben konnte, bleibt mir nicht nachvollziehbar. Aber es wirft sofort jene Fragen auf, die 1996 Karl Corino aufwarf und unter den Freunde Hermlins eine wilde Protestwelle auslöste: Welches Problem hatte Hermlin, der mit seinem richtigen Namen Rudolf Leder hieß, mit seinem Judentum? Er verwandelte, ein Beispiel, seine aus Galizien stammende jüdische Mutter in eine schöne Engländerin, wo er auf sie zu sprechen kam.

Hat man aber, habe ich einmal den Sumpf der Hermlinschen biographischen Verlogenheiten betreten, der Falschdarstellungen, der Halbwahrheiten, des Verschweigens und des zeitlichen Verlegens von Ereignissen, des späten Erinnerns an Begegnungen, von denen früher nie, plötzlich mehrfach die Rede ist, man kann die Zeit um den 70. Geburtstag im Jahr 1985 herum als „Tatzeit“ ausmachen, dann kommt man vom Hundertsten ins Tausendste, jede halbwegs beantwortete Frage führt zu neuen unbeantworteten, was schlicht und ergreifend Zeit kostet. Und andere geplante Arbeiten mindestens erschwert oder zeitlich in höchste Bedrängnis bringt. Ich blättere in meinen Hermlin-Büchern. Da stoße ich in „Die erste Reihe“, Verlag Neues Leben Berlin 1951 auf ein Porträt von Hanno Günther, von dem ich nichts mehr weiß, als dass er der Namensgeber meiner Pionierorganisation an der Thomas-Müntzer-Schule ihr Gehren war. Lies mal, sage ich mir, und schon der erste Satz auf Seite 76 versetzt mich in helle Aufregung: „Am 30. Januar 1933 wurde, wie in allen Berliner Schulen, die schwarzrotgoldenen Fahne in der Neuköllner Rütlischule verbrannt und an ihrer Stelle die Hakenkreuzfahne gehisst.“ Man muss dazu gar nichts wissen, um den Verdacht zu entwickeln, hier liege eine von vorn bis hinten falsche Aussage vor. Warum aber?

Reichspräsident Paul von Hindenburg hat Hitler gegen 13 Uhr am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt, der Fackelzug, den jeder aus vielen Dokumentationen kennt, fand statt, als es schon dunkel war. Wer um alles in der Welt hätte nicht nur an einer, sondern angeblich an allen Schulen für das Verbrennen der Fahne der Weimarer Republik sorgen sollen? Der Unterricht war sicher damals wie heute auch mittags zu Ende, die Lehrer und die Direktoren waren noch nicht wegen politischer oder rassischer Gründe aus den Schulen verwiesen, alles war an diesem und den nächsten Tagen erst einmal wie immer. Man könnte einwenden, das sei ein verzeihlicher Lapsus. Ich würde dem umgehend zustimmen, wenn derartige Dinge nicht in vollkommen verschiedenen Texten aus vollkommen verschiedenen Zeiten immer wieder aufträten. Ich greife ein zweites Beispiel willkürlich heraus: Hermlin ist zum ersten Male in seinem Leben in Venedig, er ist nicht nur maximal begeistert, sondern er weiß als deutscher Dichter auch, was er dem Fürsten all der deutschen Dichter schuldig ist, er zitiert ihn über Venedig, aber nur die Begeisterung. Und er führt den Namen Stendhal mit sich, der auch in Venedig war. Seine Äußerungen ordnet er einem falschen Jahr zu, das kann passieren, sollte aber eigentlich nicht. Der Hauptunsinn aber ist eine anderer.

Allen Ernstes behauptet Stephan Hermlin, er sei an der Seufzerbrücke aus dem Boot gestiegen und, um den Blödsinn zu verdoppeln: er sei über die Seufzerbrücke zurück auf den Markusplatz gegangen, von dem er seine Leser dann wieder pingelig belehrt, dass die Piazetta, die man vom Wasser aus links des Dogenpalastes sieht, nicht schon der Platz selbst ist. Mit etwas Italienisch kommt man allein auf die Idee, dass Piazza und Piazetta etwas anderes sein müssen. Aber über die Seufzerbrücke ist niemals irgendein Touristen gelaufen, es sei, er hätte eine Eintrittskarte für den Palast erworben, die den Besuch des Gefängnisses einschließt. Dann hätte er von der Seufzerbrücke auf die Brücke schauen können, die Hermlin meint, die Millionen Touristen kennen, weil sie alle auf ihr stehen bleiben, um die Seufzerbrücke fotografieren. Hermlin hat, das darf man nach wenigen Beispielen weitab von einer gefälschten Biografie schon sagen, ein sehr laxes Verhältnis zu harten Fakten. Dass 1960 im Berliner Aufbau-Verlag niemand den gravierenden Fehler zu Venedig bemerkte, lag sicher an den Reisemöglichkeiten für einfache DDR-Bürger. Nur der Kongress-Tourist Hermlin durfte, und noch dazu nicht einmal auf eigene Kosten, in der halben Welt umherreisen und dann auch noch entspannt darüber schreiben, als sei es das Normalste der Welt.

Christel Berger hat im Band II ihres Groß-Werkes „Als Magd im Dichter-Olymp“ (Edition Schwarzdruck 2013) für Hermlin allein in den Jahren 1953 bis Ende 1956 26 Auslandsreisen vermerkt. Wenn aber jemand in einem späten Text wie „Ein Mord in Salzburg“, DDR-Erstveröffentlichung in Heft 4 von „Sinn und Form“ 1983, später auch bei Wagenbach 1985 in West-Berlin, munter schreibt: „Seit langer Zeit nützte ich jede Gelegenheit, um nach Salzburg zu fahren“, dann ist das zwar nach den Aufzeichnungen des Journalisten S., wie der Untertitel ausweist, aber es nervt den eingesperrten DDR-Leser. Dafür darf man als sensibler Dichter auch eigene Sensibilität entwickeln. Um die Kurve zurück zur Biografie zu gehen, rufe ich den kurzen Erzähltext „Corneliusbrücke“ auf, den sich übrigens auch Karl Corino schon hergenommen hat, der dabei allerdings selbst nicht zu Ende recherchierte. Die Corneliusbrücke in Berlin ist eine, die es tatsächlich gibt, die jetzige stammt aus den Jahren 1954/55, die ursprüngliche aus den Jahren 1874/75. Sie überquert den Landwehrkanal, dessen Nennung allein nicht nur bei gelernten DDR-Bürgern eine augenblickliche Assoziation aufruft: in den wurde die Leiche von Rosa Luxemburg geworfen. „Corneliusbrücke“ von Stephan Hermlin unternimmt nun einen sehr gewagten Versuch.

Den (für mich) glatt misslungenen Versuch, das eigene Leben über einen überaus seltsamen Umweg mit den Morden vom 15. Januar 1919 zu verknüpfen. Der Text imaginiert eine Situation, während der der noch nicht vier Jahre alte kleine Rudolf im Bett liegt, während sein Vater Klavier spielt und draußen eben die Morde passieren, die Schläge mit den Gewehrkolben, alles halt, was jedes Kind in der DDR hätte hersagen können. Wäre die Situation tatsächlich so gewesen, wie sie Hermlin entwirft, könnte man sagen: Ja, das ist legitim. Wenn ich später erfahre, dass zwei Aufgänge neben mir der weise Helge starb, während ich auf dem Klo saß und nach Mama rief, mir den Hintern abzuputzen, dann hätte das meine Phantasie womöglich auch angeregt. Hermlin aber zog noch den Feldmarschall Ludendorff mit in die Geschichte und Karl Corino dementierte, dass der dort überhaupt je wohnte. Was insofern richtig war, dass Ludendorffs Frau dort (in einer Pension) lebte und er sie, wenn er denn mal in Berlin war, dort besuchte. Es ist heute Sache von Sekunden, alle Berliner Wohnungen Ludendorffs inklusive historischem Stadtplan zu finden, man braucht nur Internet, in dem, Überraschung, nicht nur Hass-Kommentare und Ähnliches verbreitet werden. Man kann auch solide Informationen gewinnen, wenn man die richtigen Seiten aufruft.

Der Hammer aber ist etwas ganz anderes: Zu dem Zeitpunkt, den Hermlin imaginiert, um die Zeugenschaft eines historischen Augenblickes, wenn auch nur eine sehr indirekte Zeugenschaft, zu behaupten, war weder der kleine Rudolf noch seine Eltern in Berlin, alle zusammen wohnten noch in Chemnitz, wohin sie auch später noch einmal zogen und dort bis 1930 lebten. Der Wegzug aus Chemnitz ist dokumentarisch belegt für 1920, ein volles Jahr später. Ich verzichte heute darauf, das Zusammentreffen mit Joseph Roth im Mai 1939 in Paris in Frage zu stellen, ich verzichte darauf, die seltsame Geschichte um Céline, den französischen Faschisten und Antisemiten, von vermutlich Ende April 1939 in Paris in Frage zu stellen. Corino hat darauf hingewiesen in seinem 1996 erschienenen Buch „Außen Marmor, innen Gips“, wie schwer es gefallen sein dürfte, mit einem Kleinkind an der Seite, Hermlins Tochter nämlich, im aktiven Widerstand tätig gewesen zu sein. Hat er zu seinen Wirtsleuten gesagt: Passt gut auf das Kind auf, ich gehe mal ein paar Brücken sprengen und bin dann bald wieder zu Hause?? In „Hölderlin 1944“ erzählt das Hermlin-Ich, wie es unterm Stacheldraht in die Schweizer Freiheit kroch, das Fleisch auf den Schenkeln verlierend, in ständiger Furcht vor der SS, nachdem ihn ein Steckbrief zur Suche ausschrieb. Alles falsch, alles.

Das sagen die Dokumente: Hermlin ist mit seiner fünf Jahre alten Tochter 1943 in die Schweiz gekommen. Übertrieben gefährlich kann es also nicht gewesen sein. Zuletzt noch einige Worte zum „Abendlicht“. Nach den Enthüllungen von Corino war ein öffentlicher Streit darüber entbrannt, wie man denn ein Buch, das nicht als Autobiographie gekennzeichnet ist, wie eine Autobiographie behandeln kann und also auch die genannten Fakten überprüfen. Nun, das Buch ist überhaupt nicht gekennzeichnet: weder als Autobiographie, noch als Erzählung, noch als Roman. Letzteres wäre das einfachste gewesen, Roman kann man alles nennen, was sich nicht selbst dagegen wehrt. Interessant ist einzig und allein, wie es damals gelesen wurde. Ich zitiere ein sehr prominenten Leser: „Bei einer Besprechung von Stephan Hermlins Autobiographie würde ich natürlich und am ausführlichsten über den wunderbaren Bau und den herrlichen Klang seiner Prosa sprechen und verdiente Ohrfeigen links und rechts, wenn ich den gleichen „gesellschaftlichen Wert“ in einer Literaturkritik zu „Nackt unter Wölfen“ verwenden würde.“ Das wäre Stoff genug für eine ganze Magisterarbeit, denn Jürgen Kuczynski erinnert nicht nur listig an die Ohrfeigen, die seine Schwester Ruth Werner Stephan Hermlin 1978 angeboten hatte, sondern gab gleich eine Linie vor.

Dass er selbst dieser seiner Linie folgte, ist einerseits konsequent, andererseits hat Kuczynski mit seinen Bemerkungen zu „Abendlicht“ ein haarsträubendes Beispiel von freundschaftsdienlicher Besprechung geliefert. Die mit Bedacht genau die schwächsten Seiten des Buches lobt, als wären sie Sternstunden deutschen Literatur und mit eben dem Bedacht alles ausklammert, was das Buch bei all seinen gerade sprachlichen Schwächen, die Kuczynski sogar zitiert, in der Annahme, seine Leser seien blind, wichtigmachte anno 1979. Auch Corino hat nicht einen Satz auf die literarische Situation in der DDR investiert, die es in den Jahren 1977, 1978, 1979 gab. Nach der Biermann-Ausbürgerung, nach dem Boykott gegen Unterzeichner, dem Exodus von Unterzeichnern fehlte es dem offiziellen sozialistischen Literaturbetrieb an Vorzeigestücken. Man jubelte einen zweiteiligen Kolportagewälzer gegen Solshenyzin, in Massenauflage auf besserem Klopapier gedruckt, „Der Gaukler“ von Harry Thürk nämlich, durch alle Feuilletons, man jubelt „Kippenberg“ von Dieter Noll durch alle Feuilletons, der aber hatte sich mit unsäglichen Äußerungen derart kompromittiert, dass nicht einmal der eigene Sohn mehr mit ihm reden wollte bis zu einer sehr späten Versöhnung. In dieser Situation kam „Abendlicht“ wie gerufen, man musste nur den Inhalt komplett ignorieren.

Es stehen im „Abendlicht“ neben manchem Geschwurbel, neben Sprachbildern und Metaphern, die Zähne klappern lassen, Sätze über zwei Seiten, die Kuczynski gut fand, weil, nicht obwohl sie nicht endeten im syntaktischen Sinn, ganz klare Passagen, die nur Blinde nicht lesen konnten als fundamentale Kritik an DDR-Ästhetik, an DDR-Literaturtheorie, an schwachsinnigen Konstrukten, die aus einzelnen Klassiker-Sentenzen ganze Theoriegebäude bastelten. Das konnte 1979 allein Hermlin zum Druck bringen, der Freund Honeckers, mit dem er die dosierte Provokation vielleicht sogar absprach vorher, es ist nicht auszuschließen. Man kann bei Brigitte Reimann nachlesen, wie Hermlin als Zeuge einer Ulbricht-Rede geradezu körperliche Symptome zeigte, Reimann saß neben ihm, von dem sie auch erzählt, er sei an einer Kongress-Wandzeitung „König der Zierfische“ genannt worden. Statt Hermlin wollte ich eigentlich „Geschichten um Lenin“ lesen und schreiben, morgen sollte eigentlich ein Text von mir zum hundertjährigen Jubiläum der Uraufführung von „Himmel und Hölle“ erscheinen, Autor: Paul Kornfeld, der Prager, der zu den zu sehr Vergessenen gehört. Den werde ich nachreichen, den Lenin schaffe ich vielleicht sogar, ganz gestrichen aber ist der Plan „Walther Victor und Shakespeare“, zu dem ich das Vehikel des 125. Geburtstages am 21. April nutzen wollte. Ich entschuldige mich vor mir selbst mit dem Störfall Stephan Hermlin.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround