Kants Schatten
Von Hermann ist nicht die Rede. Es geht um Immanuel. Den aus Königsberg. Der jetzt noch mehr Pech hat als so schon. Denn geboren ist er in Königsberg, gestorben ist er in Königsberg und sein Grab ist auch in Königsberg. Ob mein Vater, als er in Königsberg stationiert war als Soldat der Wehrmacht, an Kants Grab gestanden hat, weiß ich nicht. Ich weiß, dass er das große britische Bombardement der Stadt Ende August 1944 erlebte und habe aus den Tagen vor seinem Tod 2004 eine Geschichte in den Ohren, die von einer Leiche auf einer Parkbank unter Schnee handelte. Mein Vater, 83, den Tränen nahe. Königsberg ist heute eine Stadt auf dem Mond. Früher fuhr man auf Skandinavien-Reisen hin, die in Leningrad endeten, als es schon St. Petersburg hieß. Ich gestehe, dass ich den Gedanken, eines Tages an Kants Grab zu stehen, nicht abwegig fand. Immerhin las ich im Herbst 1977 „Immanuel Kant. Einführung in Leben und Werk“ von Manfred Buhr komplett zu Ende, es war der 51. Titel des Jahres, den ich in mein damals noch recht junges Register eintrug. Buhr (22. Februar 1927 – 22. Oktober 2008) war mit Georg Klaus (28. Dezember 1912 – 29. Juli 1974) Herausgeber des „Philosophischen Wörterbuches“, dessen 6., überarbeitete und erweiterte Auflage von 1969 ich schon als Schüler der Goetheschule Ilmenau nutzte: ohne Schadensfolgen.
Große Ereignisse, heißt es, werfen ihre Schatten voraus, was bedeutet, dass Immanuel Kants 300. Geburtstag am 22. April 2024 ein großes Ereignis ist, denn Schatten wurden seit Jahresbeginn bereits einige geworfen. Ich selbst stieg, zu einem Drittel unschlüssig, was ich zum Jubiläum beitragen könnte, auf einen Stuhl. Denn meine Kant-Bestände stehen in der obersten Regalreihe, was damit zu tun hat, dass meine Bücher prinzipiell nach den Geburtsjahren ihrer Autoren angeordnet sind. Die Bestände vor Kant sind naturgemäß, will ich behaupten, deutlich geringer als die Bestände nach Kant. Er findet sich dort oben zwischen Anna Louisa Karschin und Gotthold Ephraim Lessing, Justus Möser ist nicht weit weg auf der einen Seite, Salomon Geßner auf der anderen. Bei all denen fühle ich mich eher zu Hause als bei Kant. Sie haben einfach lesbarere Bücher geschrieben. Im Buhr-Buch finde ich dennoch massig Anstreichungen, Ausrufezeichen, Kreuze, die verwendbare Zitate markieren. Ich war schon mit Eifer dabei, wenn ich auch meine Vorlesungen zu Kant nicht bei Gerd Irrlitz hören durfte, dem nur die Antike zugewiesen war. Damals konnte man in Berliner Antiquariaten mit Glück „Taschenausgaben der Philosophischen Bibliothek“ von Felix Meiner Leipzig kaufen, so kam ich günstig zu den Heften 24 und 69.
Es sind dies „Ausgewählte kleine Schriften“ und die „Einleitung zur Kritik der Urteilskraft“, die mich acht Mark kosteten. Die DDR verkündete nicht nur alleweil, Erbe der klassischen deutschen Philosophie zu sein, einschlägige Verlage gaben sich auch Mühe, diesem Anspruch zu entsprechen. Was beispielsweise dazu führte, dass man drei dicke Bände „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ von Hegel, Ausgabe des Reclam-Verlags Leipzig (Ganzleinen mit Schutzumschlag), für bescheidene 15 DDR-Mark haben konnte. Ausgaben der „Philosophische Studientexte“ des Berliner Akademie-Verlages waren deutlich teurer und meist jenseits des studentischen Budgets. Dagegen halfen auch 15 Mark Berlin-Zulage nichts, denn schon ein profanes Stück Kuchen kostete beim Berliner Bäcker mehr als doppelt so viel wie zu Hause hinter den Bergen. Am Ende jedenfalls kamen bei mir alle wichtigen und fast alle weniger wichtigen Schriften Kants zusammen. Sie landeten nach und nach in der zweiten Reihe, weil der Platz vorn einfach nicht mehr reichte. Vorn stehen noch die „Schriften zur Religion“ aus dem Union Verlag, „Von den Träumen der Vernunft“ aus dem Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar, „Zum ewigen Frieden“, „Der Streit der Fakultäten“ und „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“ (alle Reclam Leipzig).
Nachwendlich ergänzte ich nur wenig: „Immanuel Kant zu ehren“ aus dem Jahr 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) und „Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen“, ein Neudruck aus der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt. Dort finden sich auch jene Kuriositäten, mit denen sich Feuilletonisten den trockenen Stoff anfeuchten, indem sie vom Senf berichten, den sich Kant selbst anrührte oder von den Seilen in seiner Wohnung, die ihm den Weg zum Schnupftuch zu verlängern hatten. Zuletzt fiel mir ein Büchlein in die Hand, welches der Heimeran Verlag München 1950 herausbrachte. Es trägt den Titel „Tageslauf der Unsterblichen. Szenen aus dem Alltagsleben berühmter Männer“. Ich besitze es nur, weil es Paul Wiegler schrieb. Wiegler (15. September 1878 – 22. August 1949) war Mitbegründer von „Sinn und Form“, sein Name auf jedem Heft präsent, Mitbegründer des Kulturbundes, nur eben nicht der DDR, denn die gab es noch nicht, als er starb. Beinahe wäre er Arthur Eloesser vorgezogen worden im Haus Ullstein, als dieser die zweite Festanstellung bei der Vossischen Zeitung als Nachfolger von Alfred Klaar antrat. Sein Buch „Figuren. Literarische Porträts“ gehört zu den frühen Titeln der neuen Gustav Kiepenheuer Bücherei, noch ohne Nummer, die ich bis zum Ende der DDR eifrig sammelte.
Als ich mich im Vor- und Umfeld der beiden Schiller-Jahre 2005 und 2009 mit jenem Friedrich beschäftigte, stieß ich natürlich mit großer Regelmäßigkeit auf diesen Immanuel. Dennoch mied ich Themen wie „Schiller und Kant“ oder „Kant bei Schiller“ oder „Schillers Kant“, alles denkbare Überschriften, damals und bis heute. Ich würde auch keine Wetten abschließen, ob das noch kommt, denn „Die Braut von Messina“, die verschmähte Braut, interessiert mich immer noch viel mehr. Womit ich bei Klopstock wäre, der im oberen Regal natürlich direkt neben Kant stehen müsste und nur deshalb dort fehlt, weil er einen anderen Platz in einer anderen Ordnung besitzt. In der DDR gab es eine preisgestützte „Bibliothek deutscher Klassiker“ (BDK), herausgegeben von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Da kostete jeder Ganzleinenband fünf Mark der DDR, es war vorn ein Porträt drin, es war vorn eine informative Einleitung drin und hinten gab es erklärende Anmerkungen. Da steht Klopstock zwischen Winckelmann und Lessing, denn Lessing gibt es bei mir zweigeteilt. Ausgleichend aber legte ich noch vor den ersten Schattenwürfen einen mintfarbenen Centra-Chromos-Plus-Ordner an, auf dem hinten steht: 1724. Kant Klopstock. Er ist erst halb voll, die Jubiläen können noch zuschlagen.
Das Magazin für politische Kultur Cicero hat seine Januar-Ausgabe mit einem aufgehübschten Kant auf dem Titel erscheinen lassen: 300 Jahre Immanuel Kant. Der Erfinder der Moderne. Das sind so Titel. Und Chefredakteur Alexander Marguier, der sich einmal im Jahr bei mir bedankt, dass ich den Cicero immer noch und weiterhin lese, schrieb gleich vorn: „Immanuel Kant gilt bis heute als der Superstar der deutschen Philosophie.“ Wahrscheinlich muss man solche Sätze heute schreiben, weil Menschen, die Bedeutungen nicht zu erfassen vermögen, denen Bedeutung aber dennoch angedeutet werden soll, auf solche Albernheiten eben gleich anspringen: Superstar. Ich denke mir sofort all die ordinierten Inhaber von Lehr- und anderen Stühlen als Jury in: Deutschland sucht den Super-Philosophen. Immerhin: von Kant gibt es Insel-Bücher, die nur in meiner Sammlung fehlen: „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ war die Nummer 31 und erlebte elf Auflagen. Die Nummer 228 war zunächst über drei Auflagen hinweg „Zum ewigen Frieden“, ehe 1941, man darf darüber nachdenken, der ewige Frieden nicht mehr gefragt war, stattdessen „Von der Würde des Menschen“. Immerhin und verdienstlich: Auch Hegel und Fichte bekamen Insel-Bücher, Schelling, soweit ich es übersehe, bis heute nicht. Der Sammler in mir verschmerzt es.
Eine Abhandlung über Immanuel Kant und das Bier könnte mit Ehregott Andreas Christoph Wasianski (3. Juli 1755 – 17. April 1831) beginnen. Wasianski publizierte aus intimer Kenntnis 1804 „Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren“, war er doch in eben diesen Jahren etwas wie ein Schreibgehilfe und Sekretär des Philosophen, man nannte das einst einmal Amanuensis. „Kant aß nur einmal des Tages. … so war die Masse der von Kant genossenen Speisen nicht eben groß, besonders, da er nie Bier trank. Von diesem Getränke war er der abgesagteste Feind.“ Es wäre also kaum denkbar, eine Königsberger Biermarke mit seinem Porträt auf dem Etikett zu fabrizieren. Dabei gibt es die alte Brauerei Ponarth wieder. Die Königsberger Brauerei, zehn Jahre nach Kants Tod begründet, später als Brauerei Ostmark eine gleichnamige Biersorte vertreibend, dagegen schon wieder nicht mehr. „Wenn jemand in den besten Jahren seines Lebens gestorben war, so sagte Kant: „Er hat vermutlich Bier getrunken.“ Wurde von der Unpässlichkeit eines andern gesprochen, so war die Frage nicht fern: „Trinkt er abends Bier?“ Aus der Antwort auf diese Frage stellte dann Kant dem Patienten die Nativität.“ Worunter wir uns etwas wie ein Horoskop vorstellen wollen. Bierlos ist Immanuel Kant fast achtzig Jahre alt geworden, mit viel Wein ließ Goethe ihn glatt hinter sich.