Procida, Karfreitag
Testlauf zwei Tage vorher, er beginnt mit einer kleinen Überraschung. Die Überfahrt mit dem Schnellboot von Casamicciola nach Procida kostet ganze 6000 Lire pro Person, der Euro ist noch nicht erfunden. Und die Dame an der Hotelrezeption war offenbar schlecht informiert oder im bezahlten Dienst anderer Unternehmer, sie wollte uns mit dem Nennen eines deutlich höheren Preises wohl von der Individualtour abhalten. Wir sind dennoch gefahren. Haben das Boot im Hafen Sancio Cattolico verlassen, wo ein rostiges Wrack schräg im Wasser hing, als wolle es späteren COSTA-Superlinern zeigen, wie es aussieht, wenn zu nahe an einer Insel Spähtrupp gefahren wird. Himmel strahlend blau, hafennahe Kirche strahlend weiß und der Teufel, kurz vor den hohen Feiertagen der Teufel, ritt uns, einer Ausschilderung mit dem Wort „centro“ zu folgen. Zu Fuß.
Man soll nicht zu Fuß unbekannte Entfernungen ins Visier nehmen, wenn man am Vortag den Epomeo bestiegen hat, den man sich drei Jahre zuvor noch verkneifen musste, weil man nicht ahnte, dass Ostermontage in diesem Teil Italiens mit dem vollständigen und absoluten Hochklappen aller Bürgersteige und bürgerlichen Aktivitäten verbunden sind, kein Bus mehr, kein Taxi mehr, kein gar nichts. Ein halbes Jahr nach einem Infarkt auch der leichteren Sorte soll man ohnehin seine bergsteigerischen Vermögenswerte eher bescheiden veranschlagen, schon auf dem Vesuv versuchte die baumelnde Zunge Kontakt mit beiden Kniescheiben wechselweise aufzunehmen und da war es höhenhalber wenigstens noch kühl. Freund Epomeo aber ließ ein mehr als laues Lüftchen um sich wehen und registrierte ungerührt die etwas überzogene Zeit bis zum Übergang in den Normalpuls. Ein Schild mit der Angabe „centro“ besagt auf Procida keineswegs automatisch, dass auf diesem Wege auch tatsächlich etwas kommt, was mit dem eigenen Begriff von Zentrum auch nur annähernd in Deckungsgleichheit gebracht werden könnte.
Jener wohlbeleibte und friedvoll-freundliche Mann in seinem Micro-Taxi, dessen Dienste wir zunächst abgelehnt hatten, weil uns sein Insularitalienisch einen astronomischen Pauschalpreis suggeriert hatte, mag sich innerlich in sämtliche sieben Fäustchen gekichert haben, als wir erneut vor ihm standen, ergeben und bereit. Er ratterte, knatterte, feuerte, bretterte dann durch Gassen und Gässlein, von denen man nicht angenommen hätte, dass Twiggy mit eingezogenen Schultern hindurch gekommen wäre und erzählte uns fröhlich, was wir nicht verstanden. Immer wenn, er hielt, war das „bellavista“ und er kannte natürlich all diese Punkte bestens. Wir standen und starrten und staunten, wenn er über einen Zaun griff, um uns dort Zitronen vom Baum zu pflücken, die Stalins Akademik Mitschurin wohl gern als kommunistische Superzitronen vorgezeigt hätte, groß wie Staudämme und Stahlwerke und duftend und schmackhaft und nur für die besten aller Limoncello geeignet.
In der Kirche San Michele zeigte er uns die Qualität aller Vertäfelungen, indem er mit dem Fingerknöchel ans Holz klopfte, dass es den Holzwürmern, die seit der Renaissance oder später geruhsam ihre Gänge knabberten im geweihten Gebälk, Angst und Bange geworden sein muss. Er plauderte mit der rundlichen alten Dame, die die Aufsicht führte im Gotteshaus, woraufhin sie uns kleine Bildchen schenkte und uns zu den speziellen Sehenswürdigkeiten der Zeit vor dem Karfreitag führte. Hier standen alle die Dinge bereit für die Prozession, ganz nah, berührbar, die uns zwei Tage später gemeinsam mit anderen die Augen übergehen lassen sollten. Der Taxi-Mann freute sich wie ein Kind, er strahlte und drehte vermutlich vor lauter Freude mindestens eine Gassenehrenrunde mit uns, die wir von Meter zu Meter fröhlicher und fröhlicher wurden und bald selbst den astronomischen Preis als gerechtfertigt empfunden hätten, wenn er es dann gewesen wäre, aber es wurde es nicht, nicht einmal annähernd.
Über dem Epomeo stand eine dunkle Wolke, als ich das Kamera-Objektiv in seine Richtung drehte, Corricella sah von oben aus wie gemalt. Sofort, sofort verliebt man sich in solchen Anblick und für die Datenbank der persönlichen Urerlebnisse zählt dieser Mittwoch vor jenem Karfreitag als der Tag, an dem wir unsere erste Bruschetta verspeisten, wohlwollend beobachtet von drei Matrosen und einem Kind im sich erst später füllenden Ristorante, die Rückfahrt war mit 3500 Lire pro Person noch billiger und dauerte dafür etwas länger. Im Hotel lauschten wir teilfreiwillig den Gesprächen an den Nachbartischen, weil sie in westdeutsch-dominanter Lautstärke geführt wurden, als wäre der Verein der Alphamännchen aus dem Rhein-Main-Gebiet zum großen Betriebsausflug unterwegs. Es gab herrliche Katastrophen zu hören und peinliche Dummheiten und es gab eine Lehrersgattin, die einst die Schülerin des Knick-Spreiz-Senkfußes war, der den gemeinsamen Sohn schulmeisterte, als wolle er einen späteren Amokläufer aus ihm heranziehen.
Karfreitag dann ist Prozessionstag, man könnte meinen als gelernter DDR-Bürger, der konfessionell gebundene Bruder aus den uralten Bundesländern müsse kein höheres Ziel kennen als dies zu erleben. Doch sammeln sich schließlich deutlich weniger am Hafen in Forio als am Vortag gen Capri, wo die Sonne keineswegs im Meer versank. Mit Zwischenstopp in Ischia Porto verläuft der Ausflug, der 5.25 Uhr vor dem Hotel begann. Über den Bootslautsprecher gibt es Informationen zu dieser weltberühmten Prozession, sie ist offenbar an Außerirdische gerichtet, jedenfall in keinem Idiom, das wenigstens ansatzweises Verstehen ermöglicht hätte. Die sogenannte Reiseführung erschöpft sich in der Zuweisung des Standplatzes, der den Nachteil hat, nur Gegenlichtaufnahmen zu erlauben. Die Männer neben uns nehmen ihre Mützen ab, sie beten, einer weint hemmungslos. Im Zug sehen wir auch das, was wir aus San Michele kennen. Alle sind sehr ernst, alle erlauben sich nur angedeutete Blicke zur Seite.
Natürlich gibt es einen wie immer lautstark Kommentierenden, den wir leider verstehen, weil er, leider, unsere Sprache spricht. Er vergleicht, was er sieht, mit Karnevalumzügen zu Hause, was bestenfalls auf die Humorlosigkeit deutschen Vereinskarnevalismus bezogen sein kann, sonst aber einfach nur daneben ist, daneben. Wir sehen kleine schwarz-gold gekleidete Kinder, die von ihren Vätern getragen werden. Alles dauert gute zwei Stunden, die ganz Kleinen schlafen schon auf den Schultern der Papas. Es fällt auf, dass Mädchen und Frauen erst sehr weit hinten im Zug kommen und in den Musikkapellen, es fällt auf, dass der Trompetenton vom Beginn nachhallt durch Mark und Bein. Nur ganz wenige Meter entfernt, im Hafen Corricella, ist die Bar Graziella ein Ort, wo der Touristenstrom offenbar selbst an einem solchen Wimmeltag eine unsichtbare Wand nicht durchdringt. Hier sitzen die Männer an Netzen, vor den Fenstern des Hauses hängt Wäsche bis direkt über einige der Tische. Es geht gemächlich und es geht freundlich zu.
Wir umrunden, ehe wir wieder auf Ischia Porto zu steuern, noch einmal die gesamte Insel, werfen vorerst letzte Blicke auf Terra Murata mit San Michele. Wir bemerken, dass unsere Flasche Limoncello nicht vollkommen dicht ist. Im Hotel offeriert der Kellner Epomeo Bianco, den er am Vortag noch als ausverkauft gemeldet hatte.