Truman Capote: Ischia

Die Sache scheint einfach. Truman Capote, der am 25. Augst 1984, wenige Wochen vor seinem 60. Geburtstag, starb, war neben vielem, was er war, auch ein Reisender. Als solcher begann er seine Reportage „Ischia“ aus dem Jahr 1949, 1950 erstmals gedruckt, mit einem ziemlich merkwürdigen Satz. Er lautet: „Ich weiß nicht mehr, warum ich überhaupt hier bin: Ischia.“ Ein Forschungsgebiet „Erste Sätze“ gibt es wohl für Romane, denn da beginnt einer knapp und bündig mit „Ilsebill salzte nach.“ Und die sich daran anschließende Zwei-Millionen-Frage stellt höchste Anforderungen: „Welcher Roman beginnt so: „Die Hundertvierjährige, die auf der Kellertreppe ausrutschte und sich das Steißbein brach“; „Der Torwart, der Elfmeter schoss und meistens traf“; „Der Butt“ oder „Die Nudelprobe“. Der andere: „Die Erde, Tellus, ein kleiner Planet, strudelt emsig durch den kohlschwarzen, atemlos eisigen Raum, der durchspült wird von Hunderten von Wellen, Schwingungen, Bewegungen eines Unbekannten, des Äthers, und die, wenn sie Festes treffen und Widerstand sie aufflammen lässt, Licht werden, Elektrizität, unbekannte Einflüsse, verderbliche oder segnende Wirkungen.“ Kurz der eine, lang der andere, der zweite wenig preisfragentauglich. Für Reportagen scheint es keine Erst-Satz-Analysen zu geben. Obwohl sie auch den Ton anschlagen, die Neugier wecken, falls selbige bis dahin schlief. Mindestens auf den zweiten Satz.

Bei Capote geht der so: „Irgendwann redeten die Leute nur noch über Ischia, auch wenn die wenigsten diese Insel überhaupt gesehen hatten oder höchstens von der bekannteren Nachbarinsel Capri aus, als gezackten blauen Schatten über dem Horizont.“ Was sind das für Leute, die über Ischia reden, ohne je da gewesen zu sein? Und das wenige Jahre nach dem Krieg, bei dem sich viele Amerikaner erste Italienkenntnisse geholt hatten von Süden her kommend? Wir müssen sie uns, weil es ja Truman Capote ist, der es schreibt, wie die heutigen Rotary- oder Lions-Club-Freunde vorstellen, die von Albanien reden. Man muss dort gewesen sein, ehe alle hinfahren und darf dann auch die Nase über alle rümpfen, die noch nicht dort waren, obwohl doch alle davon redeten. Ich kenne fast nur Leute, die Capri von Ischia aus sahen, die Farbe der einschlägigen Schatten war dabei niemals Gesprächsgegenstand. Capote weiß, dass alle, die nicht nur redeten, in Ischia Porto landeten vom Festland her, anno 1949 kam man noch direkt von Neapel, nicht wie unsereiner von Pozzuoli, wo die friedlichsten streunenden Hunde einem am Schnürsenkel schnüffelten, die man sich vorstellen kann. Es roch nach Schwefel, behauptet das Langzeitgedächtnis der Nase. Und wir landeten in Casamicciola, Ischia Porta sahen wir erst sehr viel später und später als Capote ohnehin.
Der aber wusste von einem Flugzeugabsturz: Linienflug Kairo via Rom, von dem wir nie hörten.

Unsereiner bestieg in Casamicciola den Bus, Truman Capote war auf eine Kutsche angewiesen, die in der grünen Dämmerung eine Straße hoch über dem Meer benutzte. Aber er fuhr nach Forio, blieb nicht in Porto. „Die meisten Besucher kommen nie über Porto hinaus, denn dort sind die guten Hotels, die guten Strände“. Von Panza aus, noch hinter Forio von Casamicciola her gesehen, ist Porto eine halbe Inselumrundung weit weg. Wegen guter Strände fährt da niemand extra hin, allenfalls wegen des Castello Aragonese oder des Weines wegen, der in kleinen gelben Krügli gereicht wurde, die wie Hähne aussahen und aus deren Schnäbeln es dunkelrot ins Glas lief. Capote übrigens, dem der Wein zusagte, was amerikanischen Amerikanern nicht automatisch als arteigen zuzuordnen ist bis heute, da sie immer noch aus Packpapiertüten trinken und aus Karaffen, von denen niemand weiß, was sie wirklich beinhalten, weil sie eben kein Etikett haben (auf Ischia also kein Etichetta), Capote versetzt semiperfekt den „Lacrima Christi“ von den Hängen des Vesuv und aus Kampanien auf die Insel, wo feiner Wein wächst, nur just dieser eben nicht. Man konnte 1949 noch nicht googeln, wenn man eigene Irrtümer verhindern wollte. Die Nachwelt freut es: Hier irrte Truman Capote. Dem es wohl wenig bedeutet hätte, einschlägig belehrt zu werden. „Wenn man ein Tagebuch noch einmal durchliest, dann meistens die weniger ehrgeizigen Eintragungen“, weiß er.

Und ein Tagebuch hat er offenbar geführt in seinen früheren Jahren, nur stand es ihm später nicht mehr zur Verfügung. Dafür wusste er von Procida als der Gefängnisinsel, denn auf dem Schiff in Richtung Ischia waren nicht nur junge Männer, die ins Kloster Ischia eintreten wollten, sondern eben auch Häftlinge für Procida. Vor mehr als zwölf Jahren schrieb ich „Procida, Karfreitag“ und bin nun daran erinnert, weil Capote eine Prozession mit der gelandeten Jungfrau Maria erlebte, die durch alle Dörfer getragen wurde. „Am großen Tag war jeder Balkon im Ort mit Spitzenbändern und feinem Leinenzeug geschmückt.“ Noch bemerkenswerter vielleicht: „Jemand hatte sogar dem Dorftrottel ein sauberes Hemd angezogen“. Allein dieser Satz ruft bei uns heute reihenweise sogar Antidiskriminierungsbeauftragte mit Lese-Rechtschreib-Schwäche auf den Plan. Der Dorftrottel, den ich noch eigenen Auges erleben durfte, ist per Definition ausgestorben, was man sich als gar nicht unangenehmen Tod vorstellen darf. Capote erlebte gar zwei von ihnen: „Die beiden Dorftrottel sind Freunde. Einer trägt immer einen Blumenstrauß mit sich herum, den er brüderlich mit seinem Kollegen teilt, wenn er ihn trifft.“ Unter Schlaueren ist das Teilen weniger gebräuchlich, schon gar nicht das von Blumensträußen. Darüber meditierte Capote aber nicht. „Inseln sind wie Schiffe, die permanent vor Anker gegangen sind.“ Das landet in meiner Schachtel für Insel-Sätze.

Auch dieser hat gute Chancen: „Offensichtlich war Ischia nicht der Ort, an dem es auf einzelne Stunden ankam, Inseln sind das nie.“ Dagegen würde ich stillen Protest einlegen gehen diese Behauptung: „... die Ziegenherden blökten dazu wie rostige Flöten.“ Vielleicht kommt diese etwas kuriose Hörweise noch aus der Erinnerung an die Geschichte, die der Gast vor seiner Ankunft über das Schicksal der Überlebenden des Flugzeugabsturzes gehört hatte, „die seien von plündernden Ziegenhirten gesteinigt worden.“ Als unsereiner die Insel ohne Furcht vor Ziegenhirten erkundete, ging die Rede, die Mafia selbst achte darauf, dass Touristen, weil Einnahmequelle, unbelästigt blieben in jeglicher Hinsicht. Unser Servierkellner bekannte 1994 seine Begeisterung für Silvio Berlusconi. Ob Truman Capote von Alcide de Gasperi Notiz nahm, der am Ende acht Amtszeiten überstand, ist nicht überliefert, vermutlich interessierte es ihn nicht. Wir erlebten, wie Berlusconi in sehr kurzer Zeit seinen Erstkredit verspielte. Und die Preise 1949? „Das Essen ist gut und mehr als reichlich, mittags wie abends fünf Gänge mit Wein. Alles zusammen kostet pro Monat gerade einmal hundert Dollar.“ Und die Landsleute? „Zurzeit halten sich vier Amerikaner in Forio auf, und wir treffen uns regelmäßig im Café von Maria auf der Piazza.“ Rochen sie einander, trafen sie sich zufällig oder weil alle redeten, ohne zu kennen? Oder trugen alle amerikanische Touristenhemden?

Truman Capote holte jeden Morgen die Post: „Der ausbleibende Brief aus Argentinien ist die tiefere Ursache von Giocondas ganzem Elend.“ Viele Italiener sind dorthin ausgewandert, der Amerikaner sieht die hohe Arbeitslosigkeit natürlich und weiß, was dies bedeutet. Er wartet in Marias Café auf die Post und beobachtet, was auf der Piazza geschieht: „In ihren Holzpantinen und schwarzen Umhängen sehen die Schulkinder aus wie Amseln, wenn sie singend durch die Straßen laufen.“ Und braucht dann doch sein Tagebuch. „Ischia ist steinig, ein nacktes Land, bei dem man unwillkürlich an Griechenland oder Nordafrika denkt.“ Falls man je dort war, natürlich, worüber Intellektuelle, wo immer sie wohnen, nie nachdenken. „Schon kurz hinter der Stadt geht es in die Weinberge mit ihren Wolken von Bienen und den grellgrünen Eidechsen auf den jungen Blättern.“ Auch ich belichtete einst auf dem Weg zur Sorceto-Bucht gleich am Ankunftstag eine solche flinke Eidechse, später noch manche ihrer Artgenossinnen. Grün war nur der Rücken bis etwa zur Mitte des Körpers, dafür die Augen wach und dunkel. „Es ist also nicht schwer, auf Ischia einen Strand zu finden, an dem man ganz allein ist.“ Wir waren in der Bucht nicht ganz allein. Einige Briten, sehr wetterfest, saßen im noch kalten Meer mit ihrem breiten Hintern direkt über den warmen Quellen unter Wasser. Und sie schauten uns glücklich an, obwohl wir aus dem Land des Krauts kamen.

„Die Fensterläden sind geschlossen. Schlaf geistert durch die Straßen. Um fünf machen die Geschäfte wieder auf.“ Das sollte man wissen, ob man aus New York kommt oder aus Ilmenau. Dafür kann man in Panza noch gegen 23 Uhr frische, wirklich frische, unfassbar frische Orangen kaufen, die jenseits jeder Werbung wahrscheinlich 15 Monate reiften, noch grüne Blätter an jeder Frucht und sie schmecken, als wollten sie jede Orange in den Nachtschatten stellen, die anderen Ortes wagte zu wachsen. Nur die Zitronen auf Procida, aus denen der beste aller Limoncellos stammt, sind noch imposanter, wenn auch vor allem an Größe. Auf dem Strand von Forio sah Truman Capote Fischernetze, er meint vermutlich den lang sich hinziehenden Citara-Strand, an dessen hinterem Ende wir zu unserem zweiten Ischia-Aufenthalt Quartier bezogen. Capote blieb beneidenswert lange, er sah, was wir nicht sahen: „Das grüne, noch winterliche Wasser im März färbt sich im Juni blau.“ Und meinte deshalb: „Woran man den Sommer erkennt: Man steht früher auf und bleibt abends länger draußen.“ Von der süditalienische Hitze schweigt der Amerikaner aus New York, teilt seinen Lesern stattdessen mit: „Die Insel ist ein Paradies für Schmetterlinge, und selbst die Berge bieten den Bienen viele süße Sachen.“ Ob wir im Oktober, wenn wir kommen aus sehr guten Gründen im kommenden Jahr, das so sehen werden wie er, werden wir sehen. Also.


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