Bleak House

Zu Fuß kann man von Ramsgate aus hinkommen, es dauert nicht so lange, selbst wenn man den Weg unten am Ufer nimmt, der nicht immer leicht zu laufen ist. Ein erstes Foto in meinem Album stammt vom 19. August 2001. Die Häuserreihe von Broadstairs, dahinter aufragend: Bleak House. Vier Tage später waren wir drin. Da hatten wir Rochester bereits hinter uns, das Charles-Dickens-Centre, Dickens' Chalet, hellblau und dunkles Ocker, ein Löwe auf weißem Grund. Bereits hinter uns die Erfahrung, was für wunderbare Dinge The English Heritage bietet, Sarah hat sich für ein Jahr die Mitgliedschaft gesichert, uns Visitors' Handbook inklusive Historic Attractions Map. Zwei Besuche, im März, im August, zwei bestens bestandene Bewährungsproben im Linksverkehr und eine einfache Erkenntnis: No problem. Was für Burgen, was für Parks, Sheerness nicht weit, hat sich da nicht Uwe Johnson zu Tode gesoffen?

In Broadstairs stößt man allenthalben auf den Namen Charles Dickens. Ich bin halbwegs im Bilde über ihn, einer meiner ersten Beiträge für die Berliner Zeitung war dem 175. Geburtstag gewidmet, die Wochenend-Ausgabe vom 7./8. Februar 1987 stellte ihn unter die Überschrift „Mit Unmengen von Figuren bevölkert“. Damals ärgerte ich mich noch über Titelzeilen, trug die Streichungen mit Fassung, wenn sie nicht die Substanz berührten. Bei Dickens wurde, meine ich, meine Mitarbeit nicht aufs Spiel gesetzt. Dass ich vor Erreichen des Rentenalters leibhaftig und selbst und in eigener Person die Insel erreichen würde, in Dover von der Fähre, weil Ramsgate kein Fährhafen mehr ist für Touristen, nur noch für Güter, wenn ich komme, das hätte mir keiner voraussagen sollen. Schon meine Englisch-Lehrerin in Berlin während des Studiums war mir wie vom anderen Stern vorgekommen, wenn sie von England erzählte.

Der Eindruck von Überfülle ist hängen geblieben, ich habe sein Porträt fotografiert außen mit dem Kranz rundherum, dem Namen darunter, patiniert, mit den Lebensdaten. Alt ist er nicht geworden. Unten ist ein maritimes Museum mit irrwitzigen Karten, die Stellen verzeichnen, wo Schiffe versanken. Es muss ein ganzer, dicht besiedelter Schiffsfriedhof da sein am Meeresgrund und das Museum bietet diverse Überreste. Wir haben natürlich den Blick in Dickens' Speisezimmer geworfen, so verstaubt sah das gar nicht aus. Wir haben natürlich den Blick auf Dickens' Billardtisch geworfen und auf das Bett im Schlafraum. Hier lag er also, Häkeldeckchen auf dem Plumeau, Wärmflaschen, es zog wohl vom Kanal her in dieses hoch gelegene vierstöckige Haus. Kein röhrender Hirsch über den Kopfkissen, wohl aber ein Geweih, armselig, oder eine sehr besondere Erinnerung und eben deshalb nicht armselig. Das Bull Hotel Rochester, in dem Dickens mehrfach weilte, wirbt zwischen den Wärmflaschen. Warum weilen Dichter eigentlich immer und andere bedeutende Persönlichkeiten, während unsereiner einfach nur da war oder ist?

Dickens Schreibtisch steht vor dem Fenster, es ist ein guter heller Platz, Meerblick, der beim Schreiben freilich eher ablenkt, die kleine Zimmerpalme daneben hat sicher erst lange nach dem Besitzer das Licht der Palmenwelt erblickt. Die Blumen auch. Es sieht, wen wundert es es, victorianisch aus in diesem Haus. Charles Dickens hat vor dieser Königin als Schauspieler agiert, Hans Christian Andersen hat es aus dem Jahr 1857 überliefert, als er mehrere Wochen bei Dickens wohnte, den er schon im Juli 1847 erstmals getroffen hatte in England und mit dem er seither Briefe wechselte. „Man möchte in der nächsten Umgebung eines Dichters so gern die Vorbilder jener Gestalten suchen und finden, die man in seinen Schriften liebgewonnen hat.“ Schrieb Andersen und lobte die Gattin in höchsten Tönen, von der sich Dickens ein Jahr später scheiden ließ.

Jetzt steht Bleak House zum Verkauf, zwei Millionen Pfund soll es kosten, lese ich in der Süddeutschen. Und erfahre nebenher, dass schon seit 2004 kein Blick mehr erlaubt ist ins Innere des Sommerdomizils, es wurde aus finanziellen Gründen geschlossen. Wer es kauft, darf ein Hotel daraus machen. Und umbauen, wie es heißt. Gut dass wir da waren, als Sarah ein Jahr bei Peter und Michelle lebte, während sie an der Churchill School arbeitete und lernte. Vielleicht bringt ja der 200. Geburtstag von Dickens am 7. Februar 2012 irgendeinen auf den Gedanken, dass es bessere Ideen geben könnte. Dann muss auch der Südengland-Baedeker nicht korrigiert werden. Wir hier finden es nicht einmal merkwürdig, eine Scheune zu retten in Stützerbach, in der Goethe weder „David Copperfield“ zu Ende geschrieben hat, noch das Meer sehen konnte.


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