Nachfreude

Wenn das Navi für gut 150 Kilometer noch eine Fahrtzeit von etwa drei Stunden anzeigt, ist Nachdenklichkeit das Geratene. Zweifel wollen sich nicht unterdrücken lassen, zumal der Splügenpass gar nicht erst ins Visier kommt. Dafür der Julier, später der Maloja, vorher die Ausschilderung St. Moritz und Silvaplana, das kennen wir doch, das haben wir doch bei Nebel und Regen, bei Sonnenschein später auch noch, angefahren, das war doch der Weg zum Nietzsche-Haus, einmal geschlossen, später uns freundlich aufnehmend. Der Blick auf die Kinder-Regatta unter Postkartenhimmel, eifrig filmende Eltern am Ufer, fast wie der Blick auf genau fünf Störche im Grün zwischen Lustenau und Zollamt Au. Störche, die sich stoisch zeigen im verrückten Verkehr all der Leute mit Korridor-Vignette für ganz bescheidene zwei Euro.

 Er zieht sich hin, dieser Weg bis Dongo und wir hätten anrufen sollen, wann wir kommen. Wer aber weiß das schon und als wir tatsächlich die drei Stunden fast verbraucht haben, liegen wir gut im Limit. Zwei kleine alte Männer sitzen auf weißen Plastikstühlen, als wir auf den Weg einbiegen, den uns die GPS-Koordinaten weisen. Sie fragen uns, ob wir wohl die sind, die erwartet werden, und wir sind es natürlich. Einer springt auf und ruft einen Namen, dann eilt uns die Frau entgegen, die uns den Schlüssel aushändigt und alles zeigt. Sie entschuldigt sich, weil sie nur rasch eine Bluse über den Bikini geworfen hat. Was für ein feines Gefühl: wir haben einen mächtigen Balkon, wir haben Zugriff auf einen üppigen winzigen Kräutergarten mit Pomodoro, sogar eine Spülmaschine. Und es gibt eine Katze, die quer über den Tisch im Garten liegt und zu den freundlichen Katzen gehört, wie wir seit der Engadiner Geländerkatze in Guarda keine mehr hatten. Die ihrerseits an eine in Malcesine erinnerte, bunt gefleckt wie die Opa-Katze der Kindheit.

 Wo sind wir hier am Comer See? Der Ort hat eine Partnerschaft mit Arromanches in der Normandie, da, wo der Landungshafen 1944 zum D-Day aus dem Boden gestampft wurde, der Wasser war. Natürlich haben wir dort nicht eine Sekunde daran gedacht, dass wir sieben Jahre nach zwei Besuchen an der Kanalküste dem Ortsnamen in der Lombardei begegnen könnten, einfach so, auf dem Rückweg vom ersten Fußmarsch zu einem Supermarkt an der Straße nach Gravedona. Dongo ist nicht der Ort, wo man nach George Clooney Ausschau halten muss. An der Anlegestelle der Schiffe trifft man täglich dieselben Leute, die neugierig die Ankommenden und die Abfahrenden besichtigen. Wir haben uns für eine Woche der Seefahrt verschrieben, besuchen Como, Bellagio, Tremezzo, Bellano.

 Das eine Schiff fährt langsam und hält überall, das andere Schiff heißt auf gut italienisch Speed Boat. Von Dongo nach Como braucht das langsame reichlich drei Stunden, das ist ein wenig heftig. Die anderen Touren aber wechseln wir das Boot, einmal schnell, einmal langsam. Die junge Frau am Schalter, die immer auch die Brücke zum Schiff schiebt, wenn deren Besatzung die Leinen geworfen hat, hat ein gutes Personengedächtnis. Sie lächelt freundlich, wenn sie die Karten ausgedruckt hat. Und sie grüßt uns, wenn wir zurückkehren am Nachmittag. Der Mann im Rollstuhl mit dem Mund voller Kaugummi hat dann seinen Stammplatz verlassen, die deutsche Mutter mit dem energischen Erziehungston muss früher gefahren sein. Wir sind sicher, dass sie nie auf die Idee gekommen wäre, ihr Kind nach 21.30 Uhr zum späten Gassigang mit Hund in den Sportwagen zu setzen. Italienische Mütter in Dongo sehen das energiefrei lockerer. Sie nehmen sogar die Großmutter mit auf die späte Runde.

 Am Morgen kommen drei verschiedene Lieferungen ins Haus neben uns. Wir sehen den Mann nicht, der sie entgegen nimmt. Eine besteht aus zwei Tüten, die durchs Fenster gereicht werden, eine besteht aus einer Tüte, die in einen Korb gelegt wird, der an der Außenmauer befestigt ist. Eine wird ins Haus gebracht durch die Tür. Und wenn der Tag zu Ende geht, wir mit Kerze und Wein unserem Balkon huldigen, erreicht uns vom Haus gegenüber nicht enden wollendes Palaver. Man trifft sich dahinter im Hof, man bleibt jeden Abend lange beisammen und wenn alle zu ihren Häusern in der Nachbarschaft schlurfen, schauen sie hoch zu uns, unauffällig selbstredend. Wir sind die Gäste, die lange und viel frühstücken. Die Gäste, die morgens ein Ei essen und dafür ihren eigenen Senf mitgebracht haben.

 Die Weine am Abend müssen verschiedene Bedingungen erfüllen. Erinnerungen sollen sie wecken, das überlassen wir den Weißen, Überraschungen sollen sie bieten, das gestatten wir den Roten. Einer aus der Region Basilicata ist umwerfend, er hätte es verdient, wie ein sämiger Alt-Balsamico molekülweise auf die Zunge getropft zu werden. Ein Rosso di Valtellina macht ihm Konkurrenz. Alter Hemingway, wie wahr sind deine Worte: „Wein ist eines der zivilisiertesten Dinge der Welt und eines der natürlichsten Dinge der Welt, das zu größter Vollkommenheit gebracht worden ist, und es bietet dem Vergnügen und dem Verständnis weiteren Spielraum als vielleicht irgendein anderes rein sinnliches Ding, das sich kaufen läßt.“ Schon allein wegen dieses Satzes gedenke ich deiner, Hem, am 17. Oktober in der Ilmenauer Stadtbibliothek.

 Zu später Stunde beendeten die Nachtinsekten ihren Tanz unter der Straßenlaterne. Wir haben nicht ausdiskutiert, ob die Schreie der Fledermäuse sie dazu veranlassten oder nur einfache Müdigkeit. 10.18 Uhr oder 10.49 Uhr fuhren für uns die Boote, kein Grund für Eile also. An keinem Abend und in keiner Nacht.


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