Bad Schandau 1963

Auch 1963 war der sechste August ein Dienstag. Die SÄCHSISCHE ZEITUNG erfreute ihre Leser mit einem Beitrag für das Sommerloch. Dachzeile: „Kultureller Streifzug durch Bad Schandau“, Überschrift: „Wandern und Lesen“, gedruckt mit orangefarbenen Lettern, die beiden Verben interessanterweise in Versalien, auch der kursiv gesetzte Bildtext mit dieser Farbe unterlegt. Die Wiedergabe des Schwarzweißfotos erlaubt wegen des groben Rasters nur mit Mühe eine Identifikation der abgebildeten Personen, ein gravierender Schreibfehler im Bildtext erledigt den Rest: Familien Ulbrich und Schneider aus Ilmenau auf dem letzten Teil ihrer Wanderung auf der idyllischen Dorfstraße in Postelwitz: „Wir wandern gerne und abends lesen wir. Das ist die beste Erholung.“ Vorn links auf dem Foto sieht man einen vergleichsweise sehr dünnen kleinen Brillenträger, neben ihm einen klar kräftigeren Jungen, beide in kurzen Hosen.

Die Familie Ulbrich aus Ilmenau war tatsächlich die Familie Ullrich aus Gehren, während die Familie Schneider aus Ilmenau tatsächlich die Familie Schneider aus Manebach war. B. Pilarski steht unter dem Artikel, Bernd oder Barbara, das bleibt geheim. Damit Text und Bildtext nicht etwa unterschiedliche Informationen übermitteln, heißt es im Fließtext: „Auf der idyllischen Dorfstraße in Postelwitz trafen wir zwei Familien aus Ilmenau. Auf unsere Frage hörten wir: „Wir fühlen uns sehr wohl hier, das Wandern ist anstrengend, aber sehr erholsam. Es ist gewissermaßen Sport. Abends lesen wir.“ Und der kleine Steppke äußerte: „Das Liebste für mich ist schmökern. Kulturveranstaltungen müssen gut sein, wenn sie uns anlocken sollen.“ Es soll hier nicht unterstellt sein, dass die Liebe zum sächsischen Staatsratsvorsitzenden in Sachsen so groß war vor 50 Jahren, dass gewöhnliche Reporter immer nur Ulbrich verstanden.

Das Drama für den kleinen Steppke, also für mich, war, dass ich kleiner Steppke genannt wurde und mir ein Satz in den Mund gelegt war, den ich nie im Leben gesagt hatte. Ohne dass mir damals ein Oberseminar über sozialistische Tagespresse nachgeholfen hätte, erfuhr ich leibhaftig, wie vertrauenswürdig ein Printmedium ist. Auf kindgemäße Weise sozusagen wusste ich sofort, was heutige Chefredakteure in Erfurt oder anderswo immer noch gern in Abrede stellen, wobei sie dann gern pauschal auf DAS Internet hauen. An meine anspruchsvolle Rede über Kulturveranstaltungen knüpfte der instinktsichere Autor die folgende Lehre: „Die Umfrage beweist, daß die kulturellen Bedürfnisse unserer Werktätigen gestiegen sind. Alte Vorstellungen von der kulturellen Arbeit in den Urlaubergebieten taugen nichts mehr. Auch hier in der Kulturarbeit ist Qualität Trumpf. In Bad Schandau ist man bemüht, mit dem ständig steigenden Niveau unserer Menschen Schritt zu halten, damit der Urlauber nach 13 Tagen Aufenthalt, erholt und bereichert, in Betrieben und Institutionen zu seinem und unser aller Wohl neue Taten vollbringt.“

An die neuen Taten, die ich nach Heimkehr in meinen Betrieb zu Hause vollbrachte, kann ich mich nicht mehr erinnern, ob die Institutionen bebten, als meine Mutter und mein Vater sich mit erholungsgeschwollenen Brüsten in ihnen zurück meldeten, weiß ich ebenfalls nicht mehr, insbesondere  mein Vater ist dazu nicht mehr befragbar. Für mich aber war das damals der erste und einzige FDGB-Urlaub, den ich je mit meinen Eltern erlebte. Ich war im Februar zehn Jahre alt geworden, meine Intelligenz versetzte mich bereits in die Lage, ein einfaches Kartenspiel mit den 32 Skatkarten so zu erdenken, das man es allein spielen konnte, ohne es je langweilig zu finden. Lieber aber waren mir meine Indianer, von denen ich nur sehr wenige mit auf die Reise nehmen durfte, zu denen aber, so will es mein Gedächtnis, neue, und sogar welche aus Hartgummi, die nicht gleich zersprangen, wenn sie einmal erschossen von einer fiktiven Felswand stürzen mussten, gekauft wurden. Das weniger erfreuliche Fazit zum Abschluss der Bildbetrachtung: die Familie Schneider aus Manebach lebt komplett nicht mehr, auch mein Kinderfreund Rüdiger nicht, der kein schönes Ende hatte. Horst Schneider war ein Freund meines Vaters, einen weiteren Schneider-Freund gab es noch in Elgersburg, sie waren nicht miteinander verwandt.

Bis 1963 hieß reisen für mich: wir fahren nach Mühlberg. Sehr viel seltener auch: wir fahren nach Bad Sulza. Die Reise nach Mühlberg war, mit dem Zug bestritten, ein Abenteuer. Man stieg in Haarhausen oder Sülzenbrücken aus, lief durch die Felder oder fuhr auf dem Rad, also ich auf dem Rücksitz, denn ich hatte kein Rad und wäre auch zu klein für ein Rad gewesen. Und nun Bad Schandau im Elbsandsteingebirge. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir unterwegs waren, ich weiß eigentlich fast gar nichts mehr, kann aber ein Fotoalbum bemühen, um mir selbst den Anschein zu erwecken, mir fiele dann doch das eine oder andere ein. Ich kenne die Geschichten, die in regelmäßigen Abständen über mich als Urlaubskind erzählt wurden. Eine betrifft die Sammlungen des Dresdner Zwingers, von denen ich jede Uhr, jedes Stück Porzellan gesehen haben wollte, ehe ich zum Gehen zu bewegen war. Natürlich stand ich vor der Sixtinischen Madonna, wie man da so eben mit zehn Jahren steht. Näher war mir wohl der Ganymed im Schnabel des Adlers, glaube ich.

Wir wohnten in einem Haus mit der Nummer 13 und ich trug, wenn ich besonders fein aussehen sollte, kurze weiße Strümpfe in den Schuhen, die keine Sandalen waren. Wir mussten ziemlich oft mit der Fähre über die Elbe, weil die Bahn auf der anderen Seite abfuhr und ankam. Die Elbe sah braun aus und roch. Unser kulturvolles FDGB-Zimmer hatte fließendes kaltes Wasser aus einem Krug in eine Schüssel. Meine Mutter ist auf den Fotos 35 Jahre alt, so alt wie meine Tochter heute, zu der ich Kind sage. Ich sehe flache Schuhe, die für schmale Klammsteige und sandsteinige Wege dezidiert ungeeignet sein mussten, an Unfälle oder Stürze kann ich mich dennoch nicht erinnern. Ich sehe Orte, die mit Namen wie Kuhstall bezeichnet werden, die Bastei natürlich, manchmal sitze ich malerisch mit Rüdiger auf einem Felsen, in den schon Trittmöglichkeiten für kleine und größere Füße eingebohrt wurden. Vor einer Kanone auf der Festung Königstein enthüllt sich das ganze Dilemma des kleinen Steppke, er war klein und er war dünn, er hätte den Fliegenden Robert doubeln können mit leichtem Schirm.

Das Wort Kasematten erreichte 1963 auf dieser Festung erstmals mein Ohr, ein Sechs-Mal-Sechs-Foto zeigt Eltern, die je ein Kännchen Kaffee trinken, ich argwöhne, dass ich der Fotograf war mit einer Kamera, die den einprägsamen Namen „Pouva Start“ trug. Die Tasche um meinen Hals sieht jedenfalls nicht aus wie das Etui des „Sternchen“, welches auch 1963 Familienbesitz wurde, auf dass ich ungestört die Schlagerrevue mit Heinz Quermann hören konnte, wenn mir danach war. Und Hörspiele wie „Schkid, die Republik der Strolche“ in vielen Fortsetzungen. In einem Freibad aber habe ich das Sternchen über der Schulter, die Legende besagt, dass ich wegen meiner geringfügigen Speckschicht in Freibädern immer zeitig und gründlich fror. Auch in Dresden fror ich und es lag nicht am Anblick der Ruine der Frauenkirche, sondern am ganz profanen Wetter. Wie groß mein Interesse an den Kunstblumen in Sebnitz war, ist den Fotos nicht zu entnehmen, ich bin auf ihnen einfach gar nicht zu sehen, meine Anteilnahme am Ausflug wohl schon damit dokumentierend.

Kein Foto zeigt, was mich am längsten beschäftigte, was am intensivsten in mein kindliches Weltbild eingriff. Wir unternahmen nämlich auch einen Ausflug an die tschechische Grenze. Schöna, Schmilka, ich tendiere zu Schmilka, und wir kamen so nah ran, dass wir die andere Seite gut und bequem sahen. Wohl noch nie in meinem zehnjährigen Leben war ich so enttäuscht. Auf der anderen Seite sah es haargenau so aus wie bei uns. Kein anderes Gras, kein einziges anderes Tier, die Vögel hier wie da. Selbst die Tschechen, die wir sahen, sahen aus wie wir. Damals wusste ich noch nicht, dass sie in Badehose in die Sauna gehen, wenn sie ihrerseits nach Bad Schandau kommen, und sich trotzdem nicht schämen. Ich wusste überhaupt noch nichts in punkto Sauna. Erst zwei Jahre später, 1965 nutzten die Tschechen ihre zweite Chance, mir eine herbe Enttäuschung zu bereiten. Die Goldene Stadt Prag sah schwarz aus und grau. Aber das wäre eine andere Geschichte.


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