Beckett: Warten auf Godot, Landestheater Coburg
Die Tür zur Reithalle öffnete sich früher als sonst in der berechtigten Annahme, es dauere bei der Sitzverteilung des Abends etwas länger. Denn die Zuschauer müssen ihre Plätze diesmal zu beiden Seiten der Spielfläche einnehmen, die letzten ließen sich zudem noch Zeit. Derweil agierten Stephan Mertl und Helmut Jakobi bereits mittendrin, indem sie die beiden Stühle für sich mal dahin, mal dorthin stellten, den Mond an seinem Seil bewegten, diesen oder jenen Premierengast begrüßten, bis es dann doch richtig zur Sache ging. Die sichtbar platzierte Souffleuse Hildegard Gall benannte die Szene und dann durfte Stephan Mertl versuchen, aus den zu engen Schuhen zu kommen, die der irische Nobel-Preisträger des Jahres 1969, Samuel Beckett, für seinen Estragon vorgeschrieben hat. Seit reichlich sechzig Jahren haben unzählige Darsteller mit dieser Schuh-Übung begonnen, allein in den ersten fünf Jahren nach der Pariser Welturaufführung am 5. Januar 1953 schauten mehr als eine Million Theaterbesucher dabei zu.
Das Landesthater Coburg hat somit auf eine sichere Bank gesetzt und damit alle Freunde unsicherer Bänke wieder einmal enttäuscht. Wer aber kommt, um nichts als einen modernen Klassiker zu sehen, vielleicht DEN Klassiker der Nachkriegsmoderne, der bekommt, was er in Coburg mit geradezu frappierender Konstanz erwarten darf, solides Theater. Stephan Mertl hat zuletzt in Süskinds „Der Kontrabass“ durchaus brilliert und war Sultan Saladin, als Helmut Jakobi Lessings Nathan spielte. Ich habe den auch als George in „Wer hat Angst vor Viginia Woolf?“ in guter Erinnerung. Beide sind für zwei lange handlungsarme Akte Estragon und Wladimir, die sich mit Didi und Gogo anreden. Ihr Warten ist seit mehr als sechzig Jahren der lebende Beweis, dass auf die Bühne gestellte Langeweile nicht nur nicht langweilig sein muss, sondern auf gar keinen Fall langweilig sein darf. Frühe Kritiker folgten dem Nicht-Geschehen noch atemlos, das muss man heute nicht mehr, man darf auch gelassen auf deren musterknäbische Versuche schauen, sinnige Sätze über den nie auftauchenden Godot abzulassen.
Falls ein künftiger Politiker einmal eine Dissertation schreiben möchte, bei der er nicht Gefahr läuft, Plagiate zu begehen, könnte er sich den Konjunktiv-Sätzen widmen in Beckett-Kritiken. Otto Waalkes hat die Fragetechnik zum geheimnisvollen Godot unsterblich parodiert, als er, natürlich ohne diesen Zusammenhang einzurechnen, in seiner Tirade über „Teo, wir fahr'n nach Lodz“ erörterte, wer denn „vier“ sind, die „vier Musketiere oder gar vier alle?“ Es ist, um es 2013 noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen, eine müßige Übung, dem Godot auf die Schliche kommen zu wollen. Schon früh wurde der Ire Beckett selbst zitiert, er hätte geschrieben, wer Godot sei, wenn er es denn wüsste und auch als er längst den Nobelpreis erhalten hatte und gefragter Regisseur seines eigenen Frühwerkes war, gab er keine Deutungsvorschläge vor oder ganz und gar Interpretationen seiner selbst. Von allen emsigen Versuchen, aus Godot Gott zu machen oder den Frieden oder das universelle Symbol alles dessen, auf das DER MENSCH warte, ist keiner überzeugender als der andere, allenfalls fragt man sich, warum Beckett, wenn er das Jeweilige meinte, es nicht gleich sagen wollte. Das aber ist die Frage an jedes Kunstwerk, das interpretatorische Turnübungen seiner Kritiker aushalten muss.
Also Estragon und Wladimir warten auf Godot, der Satz fällt im Verlaufe der gut zwei Stunden Spielzeit immer mal wieder, manchmal muss ihn, schöner Regie-Einfall von Johannes Zametzer, Hildegard Gall soufflieren, der aufforderne Ruf „Hildegard!“ geht dann direkt an sie und sie verzieht bei ihrer Antwort selbstredend keine Miene. Die beiden Namen haben irgendwen vor Jahren mal auf die Idee gebracht, sie als Symbole für Ost und West zu sehen. Bei Wladimir kann man getrost auf einen gewissen Weltrevolutionär schauen, dessen Überreste in einem Mausoleum zu Moskau matt beleuchtet aufbewahrt werden, der Name bedeutet, das aber ist seltsamerweise nie jemandem im Zusammenhang mit diesem frühen Beckett aufgefallen, „Beherrsche die Welt!“. Estragon dagegen ist eher ein Gewürz und gibt als solches manchem Essig den besonderen Geschmack. Möge der allgemeinen Namenssymbol-Geschichte durch diese Nebenbemerkungen kein weiteres überflüssiges Kapitel hinzugefügt sein. Sie warten und sie hatten, das sagen ihre Hüte, früher schon bessere Zeiten, wobei die sehr weit zurück liegen müssen. Sie sind unzertrennlich, obwohl ihnen gelegentlich die Trennung erstrebenswert erscheint. Sie liebäugeln auch mit dem Selbstmord, finden dann aber Gründe, ihn ncht zu vollziehen.
Von Godot, das ist eines der Angebote des Textes, kann Rettung, Erlösung oder auch Strafe kommen. Es kann eine Absprache gegeben haben. Dagegen spricht der Umstand, dass beide nicht wissen, wie er aussieht, sie könnten sonst nicht Pozzo für ihn halten, als der mit Lucky an der Leine auftaucht, um Abwechslung in die beiden nahezu aktionslosen Akte zu bringen. Die beiden schon erwähnten Stühle verwandeln sich, verkehrt herum aufgestellt und mit den Resten einer vorher von Estragon größtenteils aufgegessenen und vollbackig zerkauten Mohrrübe drapiert, in den Baum, den Beckett für seine leere Spielfläche vorgesehen hat. Der im ersten Akt kahle „Baum“ trägt im zweiten Akt „Blätter“, bedeutet das. Jeder echte „Baum“ auf einer Godot-Bühne würde schlechter passen. Pozzo ist Niels Liebscher, der unlängst im „Reigen“ alle Männer-Rollen spielen musste und dies bravourös leistete. Er hat auch bei Beckett einen dankbaren Part, den er im zweiten Akt, am Boden blind verröchelnd, ehe er wieder auf die Beine kommt, genüsslich ausreizt.
Ihn, wie es in den Fünfzigern angelegentlich geschah, als eine Art universellen KZ- Aufseher zu deuten, war damals platt überzogen und wäre es jetzt noch mehr. Beckett ist in seinen jungen und mittleren Jahren vom ersten großen Hype einer Philosophie buchstäblich unmittelbar ummantelt gewesen, der Existentialismus französischer Prägung war in einer Weise allgegenwärtig im feuilletondominierten öffentlichen Bewusstsein, wie es bis dahin noch nie ein „Ismus“ geschafft hatte. Das stiftete übrigens zugleich die bis heute immer schwerer erträgliche Tradition fortlaufender Süchtigkeit nach neuen Philosophie-Ikonen aus dem Lande von Sartre und Camus. Wenn denn schon ein Bühnenwerk den Stellvertreter Philosophie-Gottes auf Erden spielen soll, wie es dieser „Tragikomödie des Wartens“ interpretatorisch zugemutet wurde, ist es die Stellvertretung von existentialistischer Lebens-Philosophie mit ihren ewigen Geburtsfehlern. Als Aphorismus auf das scheinbar vollkommen existentialismusferne Menschenbild des real existierenden Sozialismus ist der Satz notorisch geworden: „Im Mittelpunkt steht der Mensch, aber nicht der einzelne.“ Ich weiß nicht, ob Beckett das unterschrieben hätte als Essenz seines Spiels, falsch wäre es nicht gewesen und dumm sogar fast noch weniger.
Niels Liebscher führt an seinem Strick den wundhalsigen Lucky Thomas Straus, zuletzt Vockerat in Hauptmanns „Einsame Menschen“. Dem hat der Meister bis auf eine Ausnahme keinen Text gegeben. Die eine Ausnahme aber ist eine der tollsten und berühmtesten und dankbarsten Ausnahmen nicht nur des wortkargen absurden Theaters, welches sich in vielem von „Warten auf Godot“ herschreibt. Eine vorsorgliche Regieanweisung könnte, sechzigjährige Bühnengeschichte belegt es, gleich „Szenenapplaus“ heißen. Auch in Coburg stellt sich der Lucky-Darsteller in die lange Folge der Szenenapplaus-Empfänger, in die einzureihen vor Jahren in Bochum selbst der Fernseh-Oberunterhalter Harald Schmidt sich nicht zu fein war, eher im Gegenteil. Thomas Straus rattert den mit Abstand längsten Text-Part der Vorlage herunter, dass es eine Art ist (die schräge Bruchstückhaftigkeit dieser Denk-Demonstration auf Pozzo-Befehl hat freilich, es sei nicht verschwiegen, jede Möglichkeit des unbemerkten Versprechens in sich, der Sprecher kann sich, wann gibt es das schon, eigentlich gar nicht versprechen, selbst wenn er es tut, auch das ist absurd in allem Absurden).
Albert Camus hat, weil sein hundertster Geburtstag näher rückt, mag das erwähnt werden, den Selbstmord zur Grundfrage der Philosophie deklariert. Der seine Dramen in französischer Sprache schreibende Ire Beckett hat diese Grundfrage auf eine Weise beantwortet, die ihre Frische erstaunlich staubfrei behalten hat. Es mutet heute fast komisch an, wie frühe Kritiker ihn vor dem Vorwurf des Nihilismus zu bewahren suchten, der offenbar in den fünfziger Jahren ein starkes Geschütz war in West und in Ost. In der DDR gab es „Warten auf Godot“ erstmals 1987 in Dresden, Wolfgang Engel führte Regie. Auch die DDR war ein Land des Wartens, nur waren die Gegenstände des Wartens systembedingt profan. In Coburg übernimmt das Vertrösten auf den nächsten Wartetag ein souverän spielendes Kind. Es dürfte der Logik von Programmheften zufolge Luis Lorenz gewesen sein, falls es Luca Schenk war, der als Zweitbesetzung genannt wird, gilt das Premierenlob ihm. Coburg hat ein dankbares Premierenpublikum. Ich applaudiere sehr gern mit. www.landestheater-coburg.de