Goethe: Stella; Landestheater Coburg

Diese „Stella“ wird gar nicht so selten inszeniert, wie alle behaupten, die schon mal einen Satz geschrieben haben wollen, ehe sie zur Sache kommen. Es gibt Kritikerinnen, die reisen zu Stadttheateraufführungen im festen Wissen, was Stadttheateraufführungen an sich und ohne weiteres sind, sie kennen im Zweifelsfall nicht einmal die Stadt, in die sie reisen, weshalb sie vorsorglich etwas Glühwein nehmen auf dem Markt, ehe sie sich dem grauenhaften Erlebnis aussetzen, an dem sie dann ihr Mütlein kühlen und der oberste Nachtkritiker lässt den gequirlten Quark dann auch noch Jahre im Archiv stehen, auf dass die zeitverrückte Nachwelt sehe, was möglich ist an pausbäckiger Ahnungslosigkeit gepaart mit schrägem Sendungsbewusstsein. Warum denn schließlich dieser Früh-Goethe immer wieder den Weg in Spielpläne findet, könnte wenigstens versuchsweise erklärt werden. Dies aber würde Vorbereitung voraussetzen.

In Coburg jedenfalls ist die „Stella“ der erneute Beweis für die noch gar nicht aufgestellte These. Der Fünfakter enthält zwei Frauenrollen, auf die, einem verständigen Kritiker zufolge, Darstellerinnen regelrecht versessen sind. Die These setzt zum pauschalen Lob von Darstellerinnen charmant voraus, dass selbige einen ansehnlichen Überblick über mögliche Rollen besitzen. Wie dem auch sei, die schiere Größe des Landestheaters zu Füßen der Veste hält für jeden Regisseur, jede Regisseurin die Reihe kurz, die abzuschreiten wäre, um die möglichen Stellas und Cäcilien vorprüfend in Augenschein zu nehmen. Um so bewundernswerter ist, und zwar immer wieder, wie ich mich inzwischen durchaus zu sagen traue, wie die beinahe alternativlose Wahl dennoch trifft und trägt. Kerstin Hänel ist Cäcilie, anfangs Madame Sommer, Philippine Pachl ist Stella. Da sie ganz allein denn doch nicht können, stehen ihnen Frederik Leberle als Fernando, Eva Marianne Berger als Lucie und Elin Hintzmann als Annchen zur Seite.

Gespielt wird auf einer kahlen erhöhten Fläche (Bühne und Kostüm Markus Karner), auf der hinten so etwas wie ein Paravent aus aufgehängten Nadelbaumzweigen den Blick fängt, hinter dem Philippine Pachl schon spielt, ehe sie spielen muss. Sie berührt mit Stirn und Wangen den stachligen Behang, was ihr wohl Berührungserinnerungen verschafft. Bei Goethe ist die Eingangsszene so, dass ein anderer Kritiker einst meinte, sie sei eine der allerstärksten gar der europäischen Theaterliteratur vor Aufkommen des psychologischen Theaters. Regisseur Andreas Ingenhaag hat sich der damit denkbaren Exposition begeben, seine Streichung aller Nebenfiguren bis auf das Annchen führt unweigerlich dazu, dass unverzichtbarer Text, unverzichtbare Information auf das Kind übertragen werden müssen. Diese Kompensation der Strichfolgen ist kein Fehlgriff, zumal das Kinderstimmchen eine Farbe einführt, die für den Coburger Schluss nach achtzig Minuten gebraucht wird.

Überhaupt der Schluss: da Vorwissen um ihn sicher in die Rubrik überflüssige Angeberweisheit verwiesen wird in der flinken Jetztzeit, sei es zum einhundertsechsundsiebzigsten Male wiederholt: es gibt zwei Schlüsse. Einen frühen mit Happy End, der nach Maßgabe der jeweiligen Zeit in unterschiedlichem Grade als anstößig empfunden wird. Auf alle Fälle verkörpert er auch heute noch das Abweichende von der Norm, dem dennoch keineswegs automatisch alle Sympathien aller Abweichsympathisanten aus Überzeugung automatisch zufließen. Einen späten, an dem Schiller mitwirkte, um die „Stella“ für Weimar und seine Hofbühne salonfähig zu machen, der eher ins Arsenal der Rührstücke greift, die auch im Klassiker-Weimar immer den um Längen stärkeren Beifall auf sich zogen als die Klassiker selbst. Wenn Fernando in Coburg mit einer Pistole hantiert, ist das das Durchschimmern der melodramatischen Pseudotragik des Zweitschlusses.

Doch weder lässt Ingenhaag seinen Fernando sich erschießen noch seine Stella sich vergiften, auch das Kuschelmärchen vom Grafen von Gleichen, mit dem in der Erstfassung Goethes Cäcilie der empfindsam-sturmdrängerischen Lösung Bahn bricht, ist ihm nicht das Ende vom Lied. Die Konstellation des „Schauspiels für Liebende“, wie es hieß, ehe es rüde zum Trauerspiel gebogen wurde, obwohl Goethe ja alles andere als Tragiker war und alles Tragische eigentlich mied, ist nicht auflösbar. Der kritische Pfiffikus nennt Konstellation heute gern Versuchsanordnung, ohne damit viel zu gewinnen, denn auch als Versuchsanordnung wäre „Stella“ auf der Error-Seite von Trial and Error. Abgewinnen lässt sich dem nur etwas, wenn man sich erlaubt, dem in Zeiten von Strukturalismus, Poststrukturalismus und Diskusanalysmus gründlich verpönten Biographismus und Psychologismus wenigstens versuchsweise etwas Raum zu geben.

Denn einig sind sich alle „Stella“-Deuter, dass das Spiel nur aus der speziellen späten Frankfurter Lebenssituation des jungen Goethe gesehen werden kann, im Koordinatensystem zwischen Darmstädter Empfindsamkeit, Lili-Schönemann-Liebeswirren, Schweiz-Reise. Der Anteil Goethe in Fernando ist sehr hoch, wenn man dem Real-Goethe bis 1775 den Wunsch-Goethe Goethes hinzurechnet. Dass seine frühe „Stella“ dem späten Goethe von „Dichtung und Wahrheit“ trotz dort  ausführlichster Lili-Abhandlung nicht einmal einen Hinweis wert war, ist mehr als bezeichnend und hat natürlich vor allem die Psychoanalytiker unter den Goethe-Deutern auf den Plan gerufen. (Auch der „Faust“ in seiner Phase als später so genannter „Ur-Faust“ ist dem Autobiographen Goethe bekanntlich nur eine einzige knappste Erwähnung wert). Und da Goethe nie zwischen zwei Frauen stand wie sein Fernando, sondern immer, wenn es auch nur näherungsweise ernster wurde, die Flucht ergriff, bleibt bis heute interessant, was er da in Dichtung umformte aus seinem Innersten.

Die Coburger Inszenierung unternimmt es nicht, darauf Antworten zu suchen, denn schon die zweifelsfreie Identifikation der Stella des Spiel mit der Lili des Lebens griffe daneben, Stella ist Lili und ist nicht Lili. Der Marxist Paul Rilla schrieb nach einer „Stella“ im frühen Nachkriegsberlin: „Goethe ist zu groß, um es nötig zu haben, aus seinen Nebenwerken interpretiert zu werden.“ Darum ging es freilich auch gar nicht. Schon eher um das, was der große Goethe-Biograph Richard Friedenthal (ja, es gab große Goethe-Biographen vor Rüdiger Safranski und zwar einige) meinte, wenn er festhielt: „Schwesterlich wollen die beiden Frauen nun mit ihrem Fernando zusammenleben, dem weiblichsten aller Männer, die Goethe je gezeichnet.“ Diese Brücke führt sehr direkt zu Kurt R. Eissler, der die zweite Frau des Spiels im Leben als auf Goethes Schwester Cornelia hindeutend ansah. Das hört selbst die posthagiographische Goethe-Darstellung hierzulande heute noch immer nicht sehr gern, überhört es am liebsten.

Andreas Ingenhaag lässt Frederik Leberle in Coburg einen Fernando spielen, der in der Tat Züge ausstellt, die eher weiblichen Charakteren ungefragt abgenommen werden. Er ist auf dieser hellen Spielfläche in zwei sehr kurz aufeinander folgenden Situationen derart ausschließlich seinem Gefühl hingegeben, ausgeliefert, dass ihm auch nicht die Spur von Reflexion kommt. Er heuchelt nicht, wenn er eben Cäcilie und dann Stella innig umarmt, ihm geht es nur um sich und seine Gefühle, sie will er in Worte fassen, sie will er zum Ausdruck bringen. Der reale Goethe brauchte zu solchen Zwecken Briefpartner, idealerweise Briefpartnerinnen wie Auguste Stolberg, denen er sein Herz ausschüttete. Dass noch die unendlich vielen Briefe an Frau von Stein weniger tatsächliche Liebe ausdrücken als autosuggestives Gefühlsausdruckstraining waren, gehört zwar nicht zu den beliebtesten Thesen unter Goetheanern, wird aber auch nicht vehement ausgeschlossen.

Dagegen sind vor allem Kerstin Hänel als Cäcilie, aber textbedingt etwas weniger auch Philippine Pachl in all ihrer emotionalen Not, geradezu faszinierend reflektiert. Sie zeigen die letztlich vollkommen zweifelsfrei der männlichen überlegene weibliche Vernunft, auch wenn sie wenigstens phasenweise in ihrem Leben bereit waren oder noch sind, diese Vernunft mit Schwung beiseite zu schieben. Der Fernando zwischen beiden aber ist, wenn er denn überhaupt einmal nicht nur fühlt, immer noch und unaufhebbar auf sich selbst fixiert. Das Selbstmitleid steht gewissermaßen immer hinter der Tür und hält die Klinke in der Hand. Frederik Leberle blickt oft wie versonnen ins Publikum. Und liegt einmal, feine Idee, wie Tischbein-Goethe mitten auf der Bühne. Die schönen Wunschsätze, die Goethe seiner Cäcilie, seiner Stella in den Mund legt, damit sein Fernando sich nicht selbst rechtfertigen muss, was ihm schwer fallen müsste bis zur Unmöglichkeit, sie treffen den sichtbar werdenden Fernando eigentlich nicht, denn sie meinen seinen Schöpfer. Goethe ist es, der sich autotherapeutisch Absolution erteilt für seine ständigen Fluchten, indem er ihnen höheren Weihen unterlegt, die viel mit dem Wort Freiheit zu tun haben. Wer aber Frau und Kind verlässt, um mit einer Minderjährigen in wilder Ehe zu leben, der erregt nicht gänzlich grundlos einen Hauptpastor Goeze und seinen immergrünen Nachwuchs.

Fast immer belegen Kritiken zu mehr oder minder gelungenen „Stella“-Inszenierungen die Dominanz der Cäcilie-Darstellerinnen, ein Kritiker schlug einst aus diesem Grunde gar vor, dem Stück ihren Namen zu geben. Coburg bricht da nicht aus. Kerstin Hänel ist eine sehr starke, eine im Abwenden eindrucksvolle Cäcilie. Und als sie mit Stella, die ihr kaum nachsteht, eine versunkene Weile umschlungen tanzt, mit den Haaren der Jüngeren spielend, ist eine Lesart angedeutet für eine Lösung, die auch schon gespielt wurde auf deutschen Bühnen: die des finalen Verzichts auf den Mann, auf vor allem diesen Fernando. Für Lucie, Cäcilies Tochter, hat die Regie auf stärkere Akzentuierung verzichtet, sie ist damit goethe-nah nicht mehr als eine Nebenrolle. Das Annchen aber, das wie ein Teufelchen mal rechts, mal links, mal hinten auftaucht, es steht zum Coburger Schluss wie ein Engelchen beleuchtet vor den Zweigen, liest aus dem Märchenbuch die Geschichte vom Grafen vor und die anderen Darsteller sprechen kanon-artig mit.
  www.landestheater-coburg.de


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