Kleist: Amphitryon; Bühnen der Stadt Gera
Das berühmteste „Ach“ der Theatergeschichte, will man es forsch sagen, ist geeignet, selbst eine missratene Inszenierung versöhnlich enden zu lassen, wenn nur die Darstellerin, die es über die Lippen bringen muss, überzeugt. War die Aufführung bis dahin schon ansehnlich, kann das „Ach“ das Krönlein sein, das Tüpfelchen auf dem I. Raphaela Möst sprach ihr „Ach“ auf der Ines-Nadler-Schräge liegend und vom kommenden Sohn noch nichts ahnend mit genau dem Gehalt angereichert, den die Regie Fabian Alders diesem Lustspiel nach Moliere von Kleist offenbar geben wollte. Alder lässt seine Spielfassung nach 100 Minuten enden, sechs Rollen, keine Nebenrollen, keine Statisterie, Bühne sparsam bis karg und vermittelt dennoch das gute Gefühl, Kleist vertraut zu haben. Was angesichts des unsterblichen Textes keine Leistung zu sein scheint, aber eine ist.
Seit der Antike geistert die Geschichte durch die Welt, denn sie erzählt nicht weniger und nicht mehr als die Herkunft des berühmtesten aller Helden, des Herakles (latinisiert: Herkules). Er ist die durch die Göttlichkeit seines Erzeugers legitimierte Frucht eines sexuellen Abenteuers des obersten Gottes Zeus (Jupiter) mit der Perseus-Tochter Alkmene, der nach irdischem Recht angetrauten Gattin des thebanischen Feldherrn Amphitryon. Die Philologie aller Schulen und Schattierungen hat bis zum Überdruss erörtert, wie sich Kleists Text zu seiner Moliere-Vorlage verhält, diese wiederum zu Plautus und so weiter und so fort. Man kann bändeweis nachlesen, wie sich im Lustspiel die angebliche Kant-Krise Kleists spiegelt, Verweise auf Kleists unterstellte Philosophie der Ehe, destilliert aus seinen Briefen an die Verlobte Wilhelmine von Zenge, füllen weitere Bände. Das Lustspielhafte des Lustspiels aber, das geht den meisten Deutern nicht auf oder bald verloren.
Dabei ist dieses Spiel um verwirrte Gefühle und mit ihnen eine rare Sache in der deutschsprachigen Theaterliteratur, die selbst in ihren klassischen Klassikern mit Komödien von Rang geizt, eine Not, die sich im Lauf der Jahrhunderte zur Tugend mauserte, denn scheinbar lauert in aller Komödie der Flachsinn. Dem huldigten theaterpraktisch zwar selbst Goethe und Schiller am und mit dem Weimarer Theater bis zum Exzess, indem sie Kotzebue und Kotzebue und Iffland und Iffland spielten, die reine Lehre aber tritt mit Entschiedenheit dagegen an, selbst wenn sie gar nicht erst eigens formuliert wird. Dieser Kleist, dessen „Zerbrochnen Krug“ Goethe 1808 höchstselbst floppen ließ, über die Details seines Versagens ließe sich immer noch trefflich streiten, dieser Kleist jedenfalls konnte etwas, was außer ihm, so verrückt es klingt, nur noch Shakespeare konnte, Goethe nicht, Schiller nicht. Er konnte, heutig gesagt, tragisch und er konnte komisch. Allein die Worterfindungen in diesem „Amphitryon“ sind umwerfend für voraussichtlich ziemlich alle Zeiten.
In Gera kann die Regie natürlich auch nichts, was unmöglich ist. Sie kann die Rollen des Spiels, die kein komisches Potential haben, nicht damit nachrüsten. Die gravierendste Folge davon ist, dass die Titelrolle immer die undankbarste des Abends bleibt. Der arme Kerl, der im Krieg Siege erringt, um zu Hause in den Armen einer liebenden Gattin die andere Seite des Glücks dieser Erde zu genießen, wird nach Strich und Faden betrogen, ohne zu verstehen, was und wie ihm geschieht. Alkmene ergeht es kaum besser, nur hat ihre im Kern tragische Rolle ganz andere Facetten auf den Weg bekommen, so dass in aller Regel die Alkmene nie bis zum finalen „Ach“ warten muss, ehe sie endgültig glänzen kann, während der Feldherr eigentlich tun kann, was er will, seine Blässe ist textimmanent. Florian Stiehler durfte ausgleichend in Gera als Amphitryon stimmgewaltig singen im Rücken der Zuschauer, als die finale Wahl heranrückte, in der vor und von allem thebanischen Volk entschieden werden sollte, welcher Amphitryon denn nun der wahre sei.
Philipp Reinheimer spielt den Sosias und wenn er mich unaufdringlich an den Kasimir erinnerte in „Kasimir und Karoline“, dann lag das daran, dass er den Kasimir seinerzeit spielte. Ihm hat die Regie ein wenig das Entree gemopst, mit dem bisweilen ein Sosias seine Mitspieler schon an die Wand gespielt hat, ehe die überhaupt auf der Bühne erschienen sind. Das hat eine einfache Ursache: Er hat den meisten Text von Kleist, mehr als 600 Verse, das ist auf der Bühne wie mit den Finanzen im wirklichen Leben, man kann am meisten dort sparen, wo viel zu holen ist, den stummen Nebenrollen eignet dafür einfach keine Substanz. Geblieben ist für diesen ostthüringischen Sosias dennoch viel genug vom ersten Auftritt mit der Funzel bis zum Schluss, wo es um die Wurst geht, also genauer um Wurst mit Kraut. Er steckt seine Prügel ein, er steht mal wie ein Mauerblümchen, mal kullert er mit den Augen und ein Tänzchen wagt er auch. Sehr fein.
Während die Zuschauer noch auf ihre Plätze strömen, sieht man in der Mitte eine Camping-Konstellation, flache Liegestühle, ein ebenso flaches Tischchen, darauf das gute alte Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel mit Würfeln, ein Kühlschränkchen, aus dem nach Bedarf die Nebel steigen oder Dosengetränke zu entnehmen sind, später auch ein Piccolo-Sekt. Diese Szenerie memoriert im Ansatz die französische Vorlage, wo es ein Vorspiel gibt, in dem Merkur der Nacht den höchstgöttlichen Auftrag erteilt, sich zu verlängern, damit Zeus mehr Zeit bleibt für sein potentes Tun in Alkmenes Bett. Und diesen Punkt visiert Regisseur Alder griffsicher an. Denn letztlich geht es nicht um irgendetwas besonders Hohes, besonders Edles, gar empfindsam zu Verklärendes. Nein, auf den Punkt gebracht, erlebt Alkmene im Zeitraffer einer Liebesnacht mit dem mächtigsten aller Götter, was das kleistferne Sprichwort so ausdrückt: Bis 35 machen die Frauen es aus Liebe, danach, weil es Spaß macht.
Die fast ekstatische Freude, die in dieser Alkmene Raphaela Möst nachbebt, als sie im kurzen Hemde den Gatten anspringt, verrät mehr als jedes Wort. Die eheliche Pflicht, sicher auch zuvor nicht mit Abscheu vollzogen, hat plötzlich fast unendlich Spaß gemacht, hat Befriedigung verschafft, wir ahnen die multiplen Orgasmen der verlängerten Dunkelheit und der große Gott Zeus ist männchenstolz, nur das „Wie war ich?“ hat er nicht zu fragen. Alkmene spürte den Unterschied selbstverständlich, führte ihn, und konnte es auch gar nicht, natürlich nicht auf das Tun einer anderen Mannsperson zurück, sondern auf eine wundersame Steigerung aller bezüglichen Potenzen des heimkehrenden Gatten. Dem, als er dann tatsächlich erscheint, natürlich nicht ansatzweise vorstellbar ist, was seine Alkmene bei seinem erneuten, scheinbar erneuten Anblick bewegt. Für den Zuschauer ist alles offenbar und durchschaubar und jeder mehrsinnige Satz des Dialogs verschafft der Vergnügen des Vorauswissens, in diesem Lustspiel eben ein Hauptvergnügen.
Ralph Jung ist Jupiter. Er ist das, wenn er nicht eben mit freiem Oberkörper agiert, in einer operettenhaften Paradeuniform. Seine Göttlichkeit, die physisch triumphiert, versagt trotz aller dialektisch-sophistischen Frage-Rhetorik und die Verblüffung, die immer wieder durch Alkmenes Antworten, fast noch mehr durch Alkmenes Nicht-Antworten provoziert wird, die spielt Jung auf verschmitzt-überzeugende Weise. Dazu passt das Blechdonnern das Endes in fast genialer Weise, allein dieser Einfall verdient die Wiedereinführung der Kopfnoten im Theater-Zeugnis. Auch der Göttervater verfällt der Kleistschen Verwirrung der Gefühle, männlich-irdischer als er verhält sich auch kein irdischer Mann und seine Klage „Auch der Olymp ist öde ohne Liebe“ heimst das teilnahmsvollste Zuschauerlachen ein, das sich denken lässt. Da ist die in ihrer ätherischen Feinheit fast unspürbare Idee mit den Würfeln längst vergessen: Von wem war doch gleich der distinkte Satz „Gott würfelt nicht!“ Der Geraer Kleist-Jupiter hat gewürfelt. Mit Merkur (Henning Bäcker), dem der verdoppelte Sosias nicht missrät, sicher aber mehr Farbe vertrüge. Wobei auch hier der Akzent von Kleist kommt und also schwer vermeidlich ist.
Vanessa Rose als Charis, die nach klar längerer Ehe als ihre Herrin wenig Skrupel hätte, den vergleichbaren Ausdauertest mit einem Zweitsosias zu vollziehen, sie bedroht den ersten ja auch glaubhaft mit einem anderen Seitensprung, ergreift die Rollenchance mit beiden Händen und beiden Füßen. Verblüffend, was alles auf schräger glatter Fläche geht und wirkt, wenn selbst die Liegestühle unsichtbar sind. Merkur widersteht ihr, weil der vergnügliche Teil seiner wie immer dienenden Rolle schon an Sosias abgearbeitet wurde, die Verführungskünste der Charis verfangen nicht bei ihm. Dem zuzuschauen, macht Spaß in Gera. Dass sie im Gegensatz zu Herrin Alkmene, die die Mutter des Herkules werden wird, auch weiß, dass Liebe durch den Magen geht, finden sterbliche Zuschauer zweifellos der herzlichen Zustimmung wert. Kleistfern ergänzt weiß man im Land der Roster sehr wohl, dass Essen der Sex des Alters ist. Man muss nur zeitig genug damit anfangen. Vorher ist ein Gang zur Bühne am Park auch nicht zu verachten.
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