Tschechow: Die Möwe; Gastspiel Deutsches Theater Berlin
Man kann aus den Lachern schließen, welche Bevölkerungsgruppen Meiningens dieses grandiose Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin mit der fast sechs Jahre alten Jürgen-Gosch-Inszenierung der grandiosen Komödie „Die Möwe“ von Anton Pawlowitsch Tschechow erlebten. Als der von Christoph Franken in prallster Körperlichkeit gespielte Lehrer Semjon Semjonowitsch Medwedenko sagte: „Wissen Sie, man sollte einmal ein Stück darüber schreiben, wie wir Lehrer leben, und das auf die Bühne bringen. Wir haben's schwer, sehr schwer.“, gab es einen Lachschwall.
Als der von Peter Pagel gespielte Arzt Jewgenij Sergejewitsch Dorn den von Christian Grashof gespielten Pjotr Nikolajewitsch Sorin tröstete, gab es einen weiteren Lachschwall: „... was für Sünden haben Sie begangen? Sie haben fünfundzwanzig Jahre der Justiz gedient, das ist alles.“ Diesmal hörte man wohl die zahlreichen Justizangestellten Meiningens von Staatsanwaltschaft bis Landgericht und sie hatten sicher allen Grund. Selbst die 25 Jahre mögen für manchen Import-Volljuristen aus dem Altbundesgebiet bald erreicht sein
Jürgen Gosch, der diese „Möwe“ sterbenskrank am 20. Dezember 2008 in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz auf die Bühne brachte, das Stammhaus erlebte damals gerade eine Asbestsanierung, hat der tieftraurigen vieraktigen Komödie das Komische keineswegs genommen. Er hat Tschechow überhaupt nichts genommen. Er hat hat ihn auf seine höchst besondere, seine unnachahmliche Art auf den puren Text zurückgeführt, dass man von einer Gänsehaut zur nächsten geleitet wird von diesen Darstellern, die das beherrschen, was in nicht wenigen anderen Inszenierungen anderer Stücke, in denen auch alle eben nicht spielenden Darsteller den eben spielenden zuschauen, so oft und so peinlich in die Hose geht. Das ist Schauspielertheater, das noch mit dem Stück im Stück, gespielt auf einem Stein, der anfangs sichtlich unter Mühen wegen seines Eigengewichtes herangetragen wird, beweist, wie wenig es braucht für ganz großes Theater und wie oft ein Vielfaches an Aufwand insbesondere an avantgardistischer Energie einfach nur zum gespielten Mumpitz gerät. Zum Heulen gut diese Mimen und sie waren das, wenn man den zahlreichen Premierenkritiken glauben will, vom ersten Tag an.
Sehr selten findet man solche Einstimmigkeit unter den Präzeptoren der deutschsprachigen Großkritik (und denen, die sich da eigeninitiativ einordnen). Nur Barbara Villiger Heilig für die NEUE ZÜRCHER fiel damals mit einer rein beschreibenden Besprechung aus dem Rahmen, in der Buchkritik nennt man dergleichen milde verächtlich Inhaltsangabe. Sonst aber: Rüdiger Schaper im TAGESSPIEGEL, Christopher Schmidt in der SÜDDEUTSCHEN, Ulrich Seidler in der BERLINER ZEITUNG, Peter Michalzik in der FRANKFURTER RUNDSCHAU, Eva Behrent in der TAZ, Reinhard Wengierek in der WELT, Hans-Dieter Schütt in NEUES DEUTSCHLAND, die Aufzählung ist nicht komplett, alle, alle begeistert, enthusiasmiert, Lobgesänge anstimmend, wie man sie auch als Kritikenleser gern genießt. Das Meininger Publikum darf sich glücklich schätzen, dieses und kein anderes Gastspiel erlebt zu haben. Es darf sich traurig schätzen, weil ihr Theaterherzog nicht öfter schöne runde Jubiläen produziert, die solche Gastspiele ermöglichen. Und ich will meinen, dass auch die zahlreichen Ensemblemitglieder des Meininger Theaters im Publikum, zwei Reihen vor mir klatschte Hans-Joachim Rodewald keineswegs verhalten, Gewinn verbuchen können.
Tschechows „Möwe“, die bei der Uraufführung durchfiel und erst danach vom Moskauer Künstlertheater aus ihren bis heute anhaltenden Siegeszug über die Bühnen der Welt antrat, hat eine Eigenart, die vor fast hundert Jahren der Begründer der SCHAUBÜHNE und späteren WELTBÜHNE, Siegfried Jacobsohn, ziemlich bündig formulierte: „Aber es ist kein Schauspiel, sondern eine Folge dämmernder Stimmungen, oder richtiger: die Wiederholung einer einzigen Stimmung von lastender Schwermut.“ Ob die Herausgeber der „Theaterkritischen Schriften“ schlampig arbeiteten oder nur eine Schlamperei Jacobsohns übersahen, ist heute nicht mehr festzustellen, dennoch verblüfft es, dass eine Ikone der Theaterkritik den Schuss auf die Möwe, den bei Tschechow erfolgreich der Jungdichter Kostja (Konstantin Gawrilowitsch Treplew) abgibt, dem erfolgreichen Schriftsteller Trigorin zuschreibt und außerdem den Arzt Dorn einmal 25, einmal 60 Jahre alt sein lässt. Wir landen immer wieder bei Lenin: Nur wer nichts macht, macht auch keine Fehler, was an den Fehlern und ihrer Ärgerlichkeit, da wiederhole ich mich gern mit vollstem Glashausbewusstsein, freilich gar nichts ändert.
Im zweiten Akt lässt Tschechow seinen Schriftsteller Boris Alexejewitsch Trigorin (Alexander Khuon) sagen: „Ein Stoff für eine kleine Erzählung: Ein junges Mädchen wie Sie wächst am Ufer eines Sees auf; sie liebt den See wie eine Möwe und lebt frei und glücklich wie eine Möwe. Aber dann führt ein Zufall einen Mann an den See, der sieht das Mädchen, und in einer müßigen Laune stürzt er es ins Verderben, so wie diese Möwe.“ Dieser Trigorin führt immer sein Notizbuch bei sich, um sich aufgeschnappte Wörter oder plötzliche Ideen aufschreiben zu können, diese ständige Begier, aus allem Erleben Literatur zu machen, ja der Zwang, daraus Literatur, machen zu müssen, kommt in der zeitgenössischen Literatur gar nicht selten vor, auch bei Heinrich Mann findet man das Motiv in einer seiner Künstlernovellen. Hier aber notiert sich Tschechows Trigorin etwas wie den Plot der gesamten Komödie, um es modisch zu sagen. Die Möwe steht für Nina Michailowna Saretschnaja (Kathleen Morgeneyer, die die genannten Jahre nach der Premiere noch immer und vielleicht sogar noch intensiver als 2008 in einer Weise brilliert, dass einem der Atem still stehen will).
Am Anfang besteigt sie im flattrigen Weißkleidchen den Stein, der wenig sicheren Halt gibt den bloßen Füßen der 1977 geborenen Schauspielerin. Sie trägt den Text vor jenes seltsamen symbolistisch-impressionistischen Bühnenwerkes, mit dem Konstantin Gawrilowitsch Treplew, genannt Kostja (Jirka Zett) das verdorbene Theater seiner Gegenwart aufmischen möchte, es ist eine Liebhaberaufführung im Park des Sorin-Gutes. Der Text ist haarsträubend wie alle überambitionierte Avantgarde, die mit Programmschriften beginnt statt einfach Kunst zu liefern. Am Ende trägt Kathleen Morgeneyer den Text noch einmal vor, nun in Schwarz, nun am Ende der Komödie. Man möchte beide Auftritt am liebsten noch einmal synchron sehen, um sagen zu können wie ein Theaterprophet auf dem Berg Simili: Sehet, dies ist Schauspielkunst, lasst euch nicht anderes einreden, vertraut nicht den ewigen Nickmännchen und -weibchen, die ihr im Fernsehen täglich 24 Stunden beobachten könnt. Sprachmodulation ist ein Kunststück, das fast alles Gezappel, Gefuchtel, alles Augenverdrehen und Brauenfalten überflüssig macht, ein und dieselbe Stimme kann so anders sein, herrjeh!
Die Inszenierungsidee mit der schwarzen Wand, der schwarzen Sitzbank, dem schwarzen Molton (das erkannte ich nicht aus der siebten Reihe, zweites Parkett, sondern raube es aus einer anderen Kritik) führt Jürgen Goschs „Onkel Wanja“ fort, seinerzeit kaum weniger gefeiert, es erlaubt, eben weil er die Darsteller hat dazu, eine Ensembleleistung, die an Jazz-Konzerte der obersten Liga erinnert: jeder Instrumentalist bekommt die Chance für sein Solo, die Summe der Soli ist am Ende mehr als ihre Addition. Was zunächst scheint, als wolle Christian Grashof als Sorin mal gleich alle anderen an die Wand spielen, entpuppt sich schnell als Auftakt in eben der schließlich vollkommen und irreversibel überwältigenden Reihe der Rollenspiele, in die die Darsteller eintreten um sie mit ihrem Zurücksetzen dann wieder zu verlassen. So wären sie auch als Perlenkette zu apostrophieren: Meike Droste als Mascha, Tochter des Gutsverwalters, die schnupft wie ein Kerl und schluckt wie ein Kerl (2008 will einer ein Kiffen beobachtet haben und dann wiederum ein Koksen, seltsam genug, der Kritiker hat vermutlich nie Schnupftabak gesehen in seinem Leben), die zynisch ist und hellsichtig und besoffen sein kann, ohne zu chargieren.
Natürlich Corinna Harfouch, derentwegen allein manche zu Berlin ins Theater gehen: Vermutlich hat sie höchsten Selbstgenuss, wenn sie zu Beginn des zweiten Aktes sich vom Doktor Dorn (Peter Pagel) bestätigen lässt, jünger als Mascha auszusehen, obwohl sie doppelt so alt ist (in der Rolle). Sie ist knapp und prägnant, sie ist verführerisch, verspielt (männliche Kritiker haben von ihrer Traumfigur zu schweigen) und plötzlich rast sie, plötzlich ist alle Souveränität weg, als dieser Trigorin sich von ihr gewissermaßen die Erlaubnis holen möchte, nun seiner neuen Liebe zu Nina folgen zu dürfen. Wie schnell kann eine solche Furien-Megären-Szene kippen ins Billige, wie meilenweit hält Corinna Harfouch sich genau davon entfernt. Auch im Umgang mit ihrem hellblonden Sohn, den Jirka Zett, man verzeihe den Kalauer, ein kräftige Spur zu jirkahaft spielt, was nach der Premiere dazu führte, dass eine Mehrzahl der Kritiker/innen vor allem seine Haarfarbe erwähnte. Mich quälte seine Stimme, was vermutlich genau so beabsichtigt war.
„Die Möwe“ verhandelt in ihrer Kaum-Handlung eigentlich Interna, nämlich Literatur, Kunst, Theater und es ist sehr charakteristisch, dass Tschechow sich kein Sprachrohr formt. Er selbst steckt in mindestens drei Personen seines Spiels, in Kostja und Trigorin, im Doktor, den es bei ihm immer gibt, weil er halt selbst ein Doktor war. Das Publikum lacht heftig in Meiningen, als just der Doktor dem pensionierten Juristen sagt, mit sechzig habe man beim Arzt nichts mehr verloren: „Mit sechzig Jahren ärztliche Behandlung! ... Mit sechzig noch den Arzt bemühen und bedauern, daß man seine Jugend nicht genossen hat, das ist, gelinde gesagt, leichtfertig.“ Das ist weniger zynisch, als es klingt, es ist ein Zeugnis der durchschnittlichen Lebenserwartung zu Tschechows Zeiten, weshalb eben heute auch die Frauenalter von 50 oder gar 40 nicht nur ihren Schrecken, vor allem aber ihr früheres Erscheinungsbild so radikal verloren haben. Die Frauen dieses Alters stellen in aller Regel die gleichaltrigen Männer mindestens optisch so sehr in den Schatten, dass man sie kaum noch wahrnimmt. Man schicke Fotografen und Soziologen zu Klassentreffen!
Tschechow lässt in seiner „Möwe“ Tropfen auf Tropfen im schmalen Fass Kostja sich sammeln, bis es schließlich zum Überlaufen kommt. Außerhalb der Spielfläche fällt ein Schuss und dass es keine explodierte Ätherflasche ist, wie der Doktor rasch zwecklügt, weiß man, weil Kostja vorher minutenlang ausdauernd und schweigend seine Manuskripte zerrissen hat. Die Szene des finalen vierten Aktes erstarrt zum Standbild,wo eben noch ein nichtigen Spiel mit Zahlen um Geld gespielt wurde. Dann ist Zeit für Beifall, der anhält, rhythmisch wird und ein paar wagen es sogar, stehend zu applaudieren. Alle, die sich verneigen, haben ihn verdient, auch die hier bisher noch nicht genannten Bernd Stempel (der Gutsverwalter Schamrajew) und Simone von Zglinicki (seine Frau), die in undankbarer russischer Vermummung zu verharren hatte und so fein um die Gunst des Doktors Dorn warb, der einst wohl ein Herzensbrecher war, dem man verzieh als Frau. Stempel spielte einen der wirtschaftlichen Vernunft dienenden Verwalter mit einer dröhnenden Kunstliebe, die Pferde, die er arbeiten lässt, statt sie verwöhnten Liebhabereien zur Verfügung zu stellen oder auch nur gewöhnlichen Transportzwecken, sind so etwas wie eine Frühform des Kirschgartens für Lopachin.
Man sollte sich hüten, dem wunderbaren Text Tschechows einzelne Zitate zu entnehmen, um daraus ein vermeintliches Weltbild ihres Autors zu basteln. Mit einer Ausnahme vielleicht. Sorin, der Staatsrat, der gern ein Dichter geworden wäre und gern geheiratet hätte, spricht ihn im ersten Akt: „Ohne Theater geht es nicht.“ Die von mir konsultierten Premierenkritiker stimmen 2008 nicht nur in ihrer Begeisterung für Jürgen Goschs „Möwe“ überein, sondern ebenfalls im dezenten Übergehen dieses Satzes. Bei Gerhard Stadelmaier, der eben deshalb hier erst Erwähnung findet, steht dagegen, es handle sich um „den belebendsten, den schönsten, den kürzesten, den wunderbar bündigsten Satz, der über das Theater überhaupt zu sagen ist.“Und es folgt: „Mit Sorins herrlichem Satz, der im Jahr 1896 zum ersten Mal der Welt zu Ohren kam, könnte man die Theaterdebatten aller Zeiten sowohl bestreiten als auch sofort beenden.“ Mehr ist dazu nicht zu sagen.
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