Schiller: Wallenstein; DNT Weimar
Es müsste eine Kritik geben, die nicht nur die Premieren erwandert, sondern auch, wenigstens probeweise, einmal nachschaut, wie es der Inszenierung nach der Ersterprobung weiter ergeht. Hasko Webers „Wallenstein“ hat seit der Premiere am 30. Januar offenbar schon Wandlungen erfahren, vielleicht sogar eine Entwicklung, jedenfalls sah ich keinen fremdelnden Dominique Horwitz und auch keinen linkischen Tanz im letzten Bild. Nach fast genau vier Stunden Netto-Spielzeit holten sich die Darsteller (Darstellerinnen eingeschlossen) ihren verdienten Beifall ab, nur die gehandicapte Johanna Geißler (Hut ab für ihre unter diesen keineswegs selbstverständlich so zu meisternden Umständen grandiose Gräfin Terzky) verkniff sich wiederholtes Erscheinen inklusive Verbeugungen, was ihr vergönnt sei. Eine Kritikerin, die noch vor der Premiere den „Wallenstein“ als das Ende von Schillers dramatischem Schaffen bezeichnete, obwohl sie es sicher besser weiß, hätte vom Seitenverantwortlichen in der Redaktion vor der Blamage bewahrt werden können, dies wiederum hätte einen solchen mit Ahnung und Kenntnis vorausgesetzt.
„Wallenstein“, mit seinen über drei Teile gestreckten siebentausendsechshundertunddreiundzwanzig Versen (ausgeschrieben wirkt es noch erdrückender, nicht?), ist dramaturgisches Irrsinnsprojekt und Herausforderung für jeden ehrgeizigen Spielleiter zugleich. Seit sich Friedrich Ludwig Schröder Schiller höchstselbst als Wallenstein verweigerte, haben die Großen und die ganz Großen der Branche die Rolle gespielt und einer der größten der professionellen Zuschauerbranche, nämlich der kaum übertreffbare Siegfried Jacobsohn, hat mitleidlos gemeint und zwar auf Schiller, nicht etwa auf Max Reinhardt, um den es ging, gemünzt: „Dem ist sein Held auf eine Weise mißlungen, die des stärksten Schauspielers Arbeit dazu verdammt, Stückwerk zu bleiben.“ Da der Kritiker seine Meinung schlagend begründete, bliebe für die rund hundert Jahre seither nur die Folgerung, die Geschichte der Wallenstein-Rolleninterpretationen sei eine Geschichte voller großartigen Stückwerks (Fehlleistungen fallen freilich nicht darunter), man darf den Darstellern folglich alles vorwerfen, nur eben das nicht, selbiges abgeliefert zu haben. Dominique Horwitz passt gut in die Reihe.
Intendant und Regisseur Hasko Weber verfügt über ausgewiesene „Wallenstein“-Erfahrung: am 11. September 1998 gab es eine von ihm verantwortete Premiere des Schillertheaters NRW in der Pauluskirche Unterbarmen, gespielt wurde eine Kammerspielfassung von Hasko Weber und Gerold Theobalt, dann auf den Tag genau ein Jahr später, am 11. September 1999, in Dresden die Inszenierung mit Dieter Mann als Wallenstein), bei der übrigens der jetzige Weimarer Obrist Buttler, Chef eines Dragonerregimentes, diese Rolle auch schon spielte: Sebastian Kowski. Theater-Weimar hat vor Weber schon einen „Wallenstein“ an einem Abend gehabt, die Premiere war am 10. November 1984, Schillers Geburtstag, Regie und verantwortlich für die Bühnenfassung Fritz Bennewitz. Bernd Lange, jetzt in der Doppelrolle des General Götz und des Kommandanten von Eger, Gordon, war damals zunächst ein Kürassier vom lombardischen Regiment, dann der erste Bediente beim Grafen Terzky und schließlich noch ein Gefreiter und der Hauptmann Deveroux, den jetzt Jonas Schlagowski spielt. Den Ruhm des Patents auf eine Vier-Stunden-Fassung aber hat der Dichter Friedrich Schiller selbst, er ließ eine solche 1802 in Hamburg spielen, nachdem er schon 1798 im Detail über sie nachgedacht hatte.
Es sei darauf verzichtet, Webers jetzige Streichungen und ihre jeweilige Sinnfälligkeit mit überflüssigen Schulnoten zu versehen, das Ergebnis rechtfertigt den Versuch zweifellos. Und es fällt angenehm auf, dass auch die immer gefährdeten „Stellen“, die jeder kennt und mitunter schon gar nicht mehr Schiller zuordnet, nicht absichtsvoll entfielen. Das erkennende Gemurmel im Parkett und auf den Rängen ist ja keineswegs etwas, auf das man mutwillig pfeifen sollte. Dass aus mindestens zwei Dutzend Rollen allein in „Wallensteins Lager“ sich Jonas Schlagowski und Michael Wächter einige ganz wenige per einfachem Kostümwechsel herauszugreifen hatten, deutet die Dimension an, die der Eingriff in Text und Substanz ausmacht, aber eben nicht zu vermeiden ist, wenn man nicht eher traditionell zwei Abende füllen will oder ein Mammut-Projekt abspulen mit Straßenbahnfahrten quer durch eine Spielstadt über acht Stunden und mehr. Die beiden Pausen, die sich auf eine runde halbe Stunden summierten, waren vor allem Umbau-Pausen, Thilo Reuther wartet mit drei ganz unterschiedlichen Bühnenbildern auf, die vor allem symbolisch wirken sollten, auch seine Kostüme orientierten sich in diese Richtung, wobei man es nicht toll finden muss, wenn Soldaten ein T-Shirt tragen dürfen, auf dem „Soldat“ steht. Auch glaube ich ausdauernd nicht, dass der Buttler-Blick auf einen Laptop ein Stück heutiger macht, das im Dreißigjährigen Krieg spielt.
Im Lauf der Jahre gewöhnt man sich an diese Mätzchen wie an die Fußballer-Sätze, die mit „Wie gesagt“ beginnen, obwohl vorher noch gar nichts gesagt wurde. Bestimmte allzu vordergründige Symboliken haben und das muss allerdings gesagt werden, nicht selten die Neigung zu unfreiwilliger Komik und die bekommt selten einem Stück. Dass die kleinen Muntermacher der Regie, da wird mal eine „Linie“ Koks gezogen, dort ist Octavio Piccolomini mit seinem Tee und seiner Keksrolle unterwegs, schließlich zieht er sogar noch einen überdimensionierten Jägermeister aus der Tasche, ertragbar sind und vor allem die Anspannung im Publikum lockern, ist fast eine therapeutische Leistung. Wie blass war er denn nun, dieser Gegenspieler Wallensteins, dieser Octavio, den ja eigentlich auch schon sein Grauton-Kostüm hinreichend charakterisiert, im Kontrast zum Schwarz-Weiß Wallensteins natürlich? Ingolf Müller-Beck ist vielleicht genau deshalb nicht zum klassischen „Gegenspieler“ aufgelaufen, weil er das von der Rollenvorgabe her gar nicht kann. Im ganzen langen Schiller haben beide keinen gemeinsamen Dialog. Er verkörpert eher die heutige Normalkarriere von Parteijugend im Ortsverein bis Spitzenamt über alle Stufen und Schritte als den Charismatiker, der Wallenstein vielleicht war, bevor die Handlung des Stückes einsetzte.
Die geschichtsphilosophische Substanz der Schiller-Trilogie ist ebenso wie die Abbildlichkeit des Wallenstein auf der Bühne zum tatsächlichen Wallenstein der Geschichte kein Tageskritiken-Thema, freilich wäre Wallenstein als einer, der Frieden will und daran gehindert wird, ein stark miniaturisierter Wallenstein. Da scheiden sich Selbstdeutungen in Interviews und Bühnenerlebnis wohltuend voneinander. Horwitz zeigt keinen, der ein „Held“ wäre, wohl aber einen, der, wenn es die Zeit erlaubt, ein sehr normaler Mensch sein kann, mit einer kleinen Geste zur Gattin (Anna Windmüller), mit der auffordernden Geste an Thekla (Nora Quest), sich doch auf seine Knie zu setzen, mit einer gerade wegen ihrer Zurückgenommenheit eindrucksvollen Trauer um den toten Max Piccolomini (Tobias Schormann). Souverän lässt er die sehr direkte Werbung der Gräfin Terzky an sich abprallen, die eben nicht nur eine Machtversessene ist, sondern eine wirklich starke Frau, eine, die eine große Gegenspielerin wäre, wenn sie es hätte sein sollen. Sie zeigt es vor allem, aber nicht nur, im Umgang mit den beiden anderen Frauen. Thekla in weißen Kniestrümpfen und Faltenrock übersteigt ihre äußere Erscheinung sehr bald, weder gegenüber der Tante noch mit Max Piccolomini hat sie jenes Retortenhafte, das der Figur gern nachgesagt wird. Fast imposant zeigt sie das, als sie den Botenbericht vom Tod ihres Liebsten anhört, den der Max-Darsteller bringt, was eine feine Idee ist. Blass bleiben übrigens, verglichen mit Charakterköpfen beiderlei Geschlechts, junge Leute fast immer, vor allem aus der Sicht älterer Leute beiderlei Geschlechts.
Für Dynamik im buchstäblichen Sinne sorgen Sebastian Nakajew als Wallensteins Schwager und Krunoslav Šebrek als Feldmarschall Illo, einmal „Super-Illo“. Sie absolvieren Aufgänge und Abgänge, Passagen quer über die Spielfläche, fuchteln mit Pistolen und machen Intrige sichtbar. Bastian Heidenreich ist Isolani, jener sprichwörtlich gewordene General der Kroaten, dessen langer Weg sein Säumen entschuldigt. Als Kroate wäre ich angesichts seiner Rollengestalt in meinen Gefühlen verletzt, ich würde deshalb aber keine Weimarer Fahne anzünden. Insgesamt vermittelt die General-Versammlung das Bild eines üblen Söldnerhaufens, man mag sich die Mannschaften kaum vorstellen, wenn ihre Obersten schon so sind. Sebastian Kowski als Buttler fällt heraus. Nicht nur, dass er mit zunehmender Spieldauer immer dominanter wird auf der Bühne, er ist auch von anderem Kaliber. Als Octavio ihn wie Schillers Elisabeth im nächsten Stück „Maria Stuart“ den Davison zynisch in Verantwortung nehmen will, geht er ab nach hinten. Seine beiden Mörder haben den Kaiser-Verräter Wallenstein im Feldbett erwürgt. Octavio tritt an die Rampe, man hört ein klirrendes Glas, das Publikum wird aufgefordert, die Hörgeräte auszuschalten. Der erschrockene und schmerzvolle Blick zum Himmel entfällt. Der verdiente Beifall nicht, siehe oben.
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