Goethe: Iphigenie auf Tauris; Düsseldorfer Schauspielhaus
Wenn der Intendant des Hauses vor den Vorhang tritt, ehe dieser sich gehoben hat, darf man fast immer eine Überraschung gewärtigen, Intendanten sind keine Grußwortsprecher, Hasko Weber auch nicht. Er verkündete die unfrohe Botschaft, dass Jakob Schneider, Darsteller des Orest, kurzfristig begleitet ins Krankenhaus gebracht werden musste, weshalb Thiemo Schwarz, Darsteller des Arkas, die Rolle zusätzlich zu seiner eigenen vom Blatt sprechen werde. Als nach gut hundert Minuten der Schlussbeifall anhob, galt er zuallererst der bravourösen Leistung von Schwarz, der natürlich auch davon profitierte, dass er keine Szenen mit sich selbst hatte und seit dem 26. September 2014, dem Tag der Premiere im Großen Haus in Düsseldorf, das Stück mit seinem Kollegen Schneider oft genug erlebt hat, der Notwendigkeit, etwas zu erfinden, also enthoben war. Die Besucher genossen das keineswegs zweifelhafte Vergnügen einer Improvisationsleistung, die kaum Wünsche offen ließ. Die leicht nach vorn geneigte viereckige Spielfläche, die an achtfacher Befestigung beweglich von der Decke hing (Bühne und Kostüme Katrin Kersten) und viel Gleichgewichtssinn forderte, versinnbildlichte wohl zuallererst schwankenden Boden unter den Füßen aller Agierenden und das an diesem regnerischen Donnerstagabend nunmehr unfreiwillig sogar auf mehrfache Weise.
Vor fast sechzig Jahren fragte anlässlich der beispielhaften Gustav-Rudolf-Sellner-Inszenierung zu den Ruhrfestspielen der alles andere als leicht zu begeisternde österreichische Kritiker Friedrich Torberg: „Gibt es an Goethes „Iphigenie“, diesem edelsten unter allen Schauspielen deutscher Sprache, überhaupt etwas zu „inszenieren“? Spricht da nicht jede Zeile so gewaltig für sich selbst, dass man gar nichts Besseres tun kann, als sie sprechen zu lassen?“ Und er ergänzte sofort: „Denn diese „Iphigenie“ ist ja zu allem auch noch ein grandioses Theaterstück. Und ihr Autor, der zu allem auch noch ein gewiegter Bühnenpraktiker war, hat sie schon von sich aus so vollendet „in Szene gesetzt“, dass für den Regisseur – woferne er das Stück und nicht sich selbst in Szene setzen will – tatsächlich nicht mehr viel zu tun bleibt.“ Die Düsseldorfer Regie lag in den Händen von Mona Kraushaar, die sich erfreulicherweise nicht selbst in Szene setzen wollte. Ihre Zutaten sind vor allem die Zutaten der Musik von Sebastian Herzfeld, die, tut mir leid, im ganzen den Eindruck erweckten, als entstammten sie einem doch nicht restlosen Vertrauen in den überlieferten Text. Die Regie erlaubt im Spiel auch nonverbale Artikulationen, die nach Verlegenheitslösungen klingen. Weniger wäre, so seltsam das klingen mag angesichts von scheinbar fast nichts, mehr gewesen.
Fast zehn Jahre vor Torberg sah ein anderer Österreicher die „Iphigenie auf Tauris“, Hans Weigel. Er meinte festhalten zu müssen: „Kein Drama kann in unseren Tagen von erschütternderer Aktualität sein als dieses scheinbar marmorkühle Schauspiel, in dem doch aller Menschheit Leid und Größe gültige Gestalt gefunden hat, das vom Urbeginn unserer abendländischen Welt her den Weg in eine auch für uns noch ferne Zukunft weist: zur Überwindung der Barbarei durch Wahrheit, zur humanitas.“ Wer den Text zur Gänze liest und Goethes Dramen sind immer auch und oft sogar zuerst Lesedramen, wird, falls er nicht sehr merkwürdig konstituiert ist, einen buchstäblich unfassbaren und staubfreien Reichtum bemerken. Selbst wenn er von Goethes Biographie, von seinen Kooperationen mit Schiller, vom zeithistorischen Kontext, von Antike-Bezug und Stoffgeschichte wenig oder keine Ahnung hat, bleibt ihm sehr viel dieses Reichtums. Dem Theaterzuschauer schließt er sich vermutlich am ehesten auf, wenn die Regie dem Text und nur dem Text Zeit und Raum, also auch die Pausen, reden lässt. Erst dann entdeckt man diesen Freund Pylades (Konstantin Bühler ein wenig wie Art Gafunkel), dem Goethe, man denke darüber nach, die deutlich mehr der stärkeren Sätze zugeordnet hat als Orest. Siebt man heraus, was Potential für den Zitatenschatz hat, steht Pylades nicht weit von Iphigenie selbst.
Mona Kraushaar hat an Iphigenies facettenreicher Figur ausgerechnet das bei Goethe wahrhaft verblüffende und weit über seine Zeit hinaus weisende antipatriarchalische, das, sagen wir, feministische, Element gedimmt. Oder sollte das gar eine exponiert weibliche Zurücknahme sein? Von handlungsarmem Geschehen ist vorschnell und oft die Rede anlässlich der „Iphigenie“, als ginge es im wirklichen Leben anders als in diesem Sprechstück zu wie im Mega-Action-Kino US-amerikanischer Machart. Das Düsseldorfer Programmheft wartet mit Mythos-Paraphrasen von Heiner Müller und Peter Hacks auf, greift mit der hochberühmten Adorno-Lesart auf einen Text zurück, den der Interpretationsstand selbst von Arthur Henkel oder Oskar Seidlin schon hinter sich gelassen hat. Das Spiel auf dem schwankenden Viereck aber ist überlegen, erhaben, weil eben der Text auf seiner Höhe bleibt, die kaum profaniert werden kann. Tanja Schleiff vor allem, die als diese Iphigenie bisweilen wirkt, als wollten ihre Worte buchstäblich den Mund nicht verlassen, als scheuten sie den Raum, in dem sie wirken sollen, spielt den Reichtum, bis er funkelt. Und ihr Widerpart Andreas Grothgar als Thoas, König der Taurer, zeigt genau, was Arkas Thiemo Schwarz der Priesterin vorwarnend ankündigte: rhetorische Defizite. Grandios, falls Absicht.
Dankenswert, dass aus dem Wissen, Tauris sei unter heutigem Namen die Krim, keine albernen Aktualitäten destilliert wurden, auch die griechische Verachtung für Barbaren, gegen die sich Thoas fast am Ende ziemlich lautstark wehrt, hat keine Schleusen für Wegwerftheater geöffnet. Den Einsatz von Kinderstimmen für die Vorgeschichte der Atriden kannte ich schon. Er und Iphigenies eigene Enthüllung ihrer Familiengeschichte halfen vor allem dem großteils jungen Publikum, aber auch etlichen älteren Besuchern, hörbar wenig weiter. Ringsum auf dem Weg zum Theatervorplatz erläuterte man sich danach gegenseitig heftig das scheinbar komplizierte Beziehungsgeflecht der fünf Bühnenfiguren und ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen zu nur namentlich genannten Personen und Vorgängen. Man muss wohl doch sehr pessimistisch sein, was Wirkungen betrifft. Dass da von Größe geredet wird und was sie ausmacht, dass es da um Bruder-Schwester-Beziehungen geht, bei denen man probehalber durchaus auch an Johann Wolfgang selbst und Cornelia Goethe denken kann, dass Sätze klingen, als wären sie in Richtung Schiller geschrieben oder hätten dessen Antwort in eigenen Dramen herausgefordert, das ist aufregend. Für wen aber?
Nimmt man das Äußerliche am Geschehen, dann hat die Priesterin der Diana, die für Griechen eigentlich Artemis hieß, ihre größte Wirkung auf den König Thoas. Der wandelt sich, der verzichtet nicht nur bald nach ihrer Ankunft auf Tauris auf die landesüblichen Menschenopfer, der verzichtet unter ihrer Einrede auf die Erfüllung seiner persönlichsten, seiner menschlichsten Wünsche. Sie soll dem kinderlosen König eigentlich die Linie fortsetzen und das Land stabil halten. Dann aber lässt er Bruder, Schwester und Pylades ziehen, er reicht ihr nach langem Zögern, nach schon erfolgtem Abgang nach hinten wiederkehrend doch noch die Hand. Zu Goethes Zeiten hieß das: Barbaren sind auch Menschen. Mona Kraushaar und Dramaturg Oliver Held hätten dem Publikum mehr zumuten sollen. Allein der finale Argumentationswettstreit zwischen Iphigenie und Thoas zeigt eine so starke Frau, die gerade nicht mit den Waffen einer Frau, wie sie gern verstanden werden, einen unblutigen Sieg erringt. Was sie sagt, wie sie es sagt, ist heutiger als manches krampfige Gender-Manifest. Diese „Iphigenie auf Tauris“ hat selbst eine hochpolitische Dimension, an der eben gar nichts verschwommen humanistisch ist. Düsseldorf hat alles in allem auf zu viel verzichtet. Wie viel dennoch blieb, spricht für das Drama. Dann die für vier Akteure. Beifall. Mehr Gastspiele, bitte.
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