Schnitzler: Das weite Land; Deutsches Theater Berlin

Eine ganze Woche bin ich täglich mehrmals an der Villa vorbeigegangen, die Arthur Schnitzler zum Schauplatz seiner Tragikomödie in fünf Akten „Das weite Land“ erkor. Es ist die Villa, in der am 21. Februar 1899 ein Kind geboren wurde, dessen Vorname sich Schnitzler für den dreizehnjährigen Sohn seines Paares Genia und Friedrich Hofreiter wählte: Percy, ein Name, an dem sich der Kritiker Alfred Kerr 1911 ein wenig albern rieb, ohne von den Zusammenhängen zu wissen. Percy Eckstein, Sohn von Friedrich Eckstein (17. Februar 1861 – 10. November 1939) und Bertha Eckstein-Diener (18. März 1874 – 20. Februar 1948), hat sich vor allem als Übersetzer einen Namen gemacht, aber auch eigene Werke veröffentlicht. Seine Mutter errang unter ihrem Pseudonym Sir Galahad später einigen literarischen Ruhm, sein Vater ist vor allem wegen seiner Beziehungen und Freundschaften zu Sigmund Freud, zu Gustav Meyrink, zu Rudolf Steiner, Peter Altenberg, Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal, Franz Werfel, Adolf Loos oder Anton Bruckner und etlichen mehr unvergessen geblieben. In ihrer Villa in Baden bei Wien aber, denn um die geht es, war eben auch Arthur Schnitzler ein gern gesehener Gast. Man nannte sie damals noch das St.-Genois-Schlössl, später Villa Aichelburg. Sie wurde 1926, mit der Eröffnung des noch jetzt imposanten Thermalstrandbades, zum Restaurant.

Wo heute unermüdliche Schwimmer ihre Bahnen ziehen, darf man sich den Tennisplatz hinter der Villa vorstellen, der in „Das weite Land“ eine gewisse Rolle spielt. Alfred Polgar war regelrecht entzückt von den dramaturgischen Möglichkeiten, die ein solcher Platz für das Bühnengeschehen eröffnet: „Das Tennisspielen ist eine großartige Erfindung für den Dramatiker. Eine Passion, wie solch ein Garten mit angrenzendem Tennisplatz die Szenenführung erleichtert! Der Tennisplatz wirkt als Menschenreservoir. … Ein Griff und die Bühne ist überfüllt, ein anderer Griff: und sie ist evakuiert. Sehr praktisch!“ An überfüllten Bühnen freilich besteht längst kein Bedarf mehr, auch Jette Steckel, für diese Schnitzler-Inszenierung des Deutschen Theaters in Berlin verantwortlich, hat Rollen im Dutzend gestrichen und das in nachvollziehbarer Absicht. Das Hintergrund-Ping-Pong des Spieles, zu Lebzeiten des Autors sicher auch akustisch vernehmbar gemacht, immerhin brachten neun namhafte Bühnen gleichzeitig die Uraufführung am 14. Oktober 1911, einen Rekord markierend, den erst Gerhart Hauptmann fünfzehn Jahre später brechen sollte mit seiner „Dorothea Angermann“, wäre an der Reinhardtstraße fast ohne Funktion, denn auf der Bühne sieht man eben nicht eine wie immer gebaute Villa mit Garten, sondern einen Turm aus Sitzmöbeln (Florian Lösche), den, wer den Stücktext vorher kennt, zwanglos mit dem Aigner-Turm assoziieren kann.

Der vor allem im dritten Akt eine gewichtige Aufgabe hat. Bis dahin dient er eher beiläufig als zwischenzeitliche Schauspieler-Ablage, dann aber agieren Felix Goeser (Friedrich Hofreiter) und Anna Drexler (Erna Wahl) auf und nieder und führen vor, was bei Schnitzler nur als gewissermaßen modernisierter Botenbericht erscheint: die Besteigung des nach dem Hotelbesitzer Doktor von Aigner benannten Felsens. In ihrer Schnitzler-Biographie hat Renate Wagner geschrieben: „Bis heute ist es eine Aufgabe der Regisseure geblieben, in diesem Akt zu streichen und zu bremsen, um nicht plötzlich eine unproportionierte Posse das unterschwellig dramatische Geschehen überlagern zu lassen.“ Just dieser Aufgabe hat sich Jette Steckel gestellt, bei näherem Hinsehen fehlen ihrer Personage fast ausschließlich jene Akteure, die im dritten Akt auftreten, der als einziger nicht in Baden bei Wien, sondern in der Südtiroler Sommerfrische nahe der Seiser Alm handelt. Man kann das als Verlust sehen, zumal der Hotelportier eine wirklich feine Rolle ist und zudem noch ein lebendes Vorbild hatte, aber das muss nun wirklich eine heutige Aufführung nicht interessieren. Die Kritik nach der Premiere am 12. Dezember 2014 hat ihr Augenmerk stark auf Anna Drexler fixiert, den gar nicht mehr kommenden, den eigentlich schon angekommenen Jungstar. Das hat seine Ordnung, ich muss diese Melodie nicht nachpfeifen.

Gehen wir zu Maren Eggert als Genia Hofreiter über. Werner Schneyder, der „Das weite Land“ 1998 am Südthüringischen Staatstheater Meiningen inszenierte und nicht nur zu meiner großen Freude gleich noch ein Buch darüber veröffentlichte, konnte sie noch nicht meinen, als er schrieb: „Denn die Künstlerinnen, die sich kraft ihres Ranges dieser Figur bemächtigten, waren fast immer - charmant geschätzt – fünfzehn Jahre älter. Das ändert nichts an der Wahrheit. Genia Hofreiter ist 31 Jahre alt.“ Fast auf den Punkt traf die charmante Schätzung Ursula Lingen, die die Genia 1974 am Münchner Residenztheater gab, Paula Wessely hatte die 50 bereits hinter sich, als sie mit ihrem Gatten Attila Hörbiger das Paar Hofreiter spielte, er übertraf schon deutlich die 60, als er der bei Schnitzler 42 Jahre alte Friedrich sein durfte. Maren Eggert aber wirkt als Genia so jung, wie sie sein sollte, man traute nach Neugierblick in den Geburtstagskalender seinen Augen nicht, wüsste man nicht längst, dass 40 von jetzt die 30 von unlängst sind, Aging und Anti-Aging beiseite gelassen. Das Verrückte an der Rolle ist mittlerweile nicht mehr, dass Genia jung zu sein hat und ihr dennoch ein dreizehn Jahre alter Sohn geglaubt werden muss. Heute werden die jungen Frauen oft erst Mutter oder sind es noch nicht lange, wenn sie so alt sind, wie Maren Eggert tatsächlich ist. Es ist eben doch Zeit vergangen seit Arthur Schnitzler.

Das mit den Halbtönen, den Ober- und Untertönen, den Zwischentönen schreibt sich fix hin, gerade wenn es um Arthur Schnitzler geht. Aber Darsteller, die eben diese nicht beherrschen, fallen auch buchstäblich aus der Rolle. Maren Eggert nicht, Anna Drexler auch nicht, sie treffen den Ton, nur richtig laut werden, das führt an Grenzen. Aber deshalb stehen ja Frauen auch kaum auf dem Kasernenhof und kommandieren Exerzierstunden. Daneben steht Ulrich Matthes als Hofreiter-Freund Doktor Franz Maurer. Bei dem reicht eine gehobene Augenbraue, eine Silbe. Wohl dem Haus, das solche Akteure hat. Es gibt nur Szenen mit ihm, die man speichern möchte. Wie er die Contenance zeigt im Dialog mit seinem Freund, der ihm diese Erna ausgespannt hat, die er nicht hoffnungslos, aber erfolglos liebte: er wird nicht mehr zu sehen sein hier, teilt er mit. Da kann einer Subtext spielen, Hintergrund, man sieht die Anstrengung nicht, die vielleicht nicht einmal eine ist. Deshalb gehe zum Beispiel ich ins Theater. Und ich verstehe Arthur Schnitzler zutiefst, wenn er die Kritiker verlogen nennt, die ihm „die Theuerungskrawalle zur dramatischen Behandlung aufgeben“. Bei Werner Schneyder heißt es: „Seltsam, Geschichte ist wie ein Prospekt, den man hinter Schicksalen vorbeizieht. Die Prospekte wechseln, verschwinden. Die Schicksale bleiben.“ Mehr ist dazu, was auch immer die jeweiligen Krawalle zu verlangen scheinen, nicht zu sagen.

Herzlich lacht selbst das Berliner Publikum, wenn Felix Goeser klagt, man müsste mit vierzig jung sein. Herzlich lacht es auch, als Erna ihren Liebeswunsch äußert, sie wolle Friedrichs Haare verwuscheln, denn der hat gar keine, auf dem Kopf jedenfalls nicht. Und so greift Erna in sein Hemd, wo sich, dürfen wir annehmen, das eine oder andere Brusthaar findet, so weit eine Brust im Zweifelsfall reicht. Es stehen viele Sätze mit Erna in meinem Notizbuch, weniger mit Friedrich. Die Hofreiters werden beide von den Aigners in ein seltsames Innehalten gezwungen. Die Schauspielerin Anna Meinhold-Aigner (Almut Zilcher), deren Sohn Otto (Ole Lagerpusch) später hinter der Bühne im Duell fällt, macht Genia klar, es gebe Dinge, die nicht verjähren. Das ist ein grandioser Frauendialog zwischen Eggert und Zilcher. Hier versteht man, was Kerr einst meinte, als er schrieb: „Das ganze Stück scheint nicht vom Männerstandpunkt verfasst.“ Er beobachtete halb unterbrochene Handführungen: „Etwas ganz Großes.“ Daran hat sich nun wieder gar nichts geändert. Die Guten können es, die ganz Großen brauchen nichts weiter. Dem Rest muss die Regie befehlen, ins Taschentuch zu husten. Bildlich gesprochen. Felix Goeser schüttelt, als draußen die Stimme Percys ertönt, ein Weinen. Bei Schnitzler steht: „Er wimmert einmal leise auf.“ Wie man das spielt, was ich für nicht spielbar hielt, führt Goeser vor. Fast gegen Schnitzler. Gut.

Dem Doktor von Aigner (Bernd Stempel) glaubte ich seine zahlreichen Kinder nicht, doch vermochte er es wie die ferne Ex-Gattin bei Genia, diesen Friedrich aus der puren Selbstsicherheit zu reden. Dem Bankier Natter (Helmut Mooshammer) hätte die eingefädelte Rache-Intrige etwas diabolischer geraten dürfen, seine Frau Adele (Katrin Klein) ist mehr als das Sonnenscheinchen, das sie ansatzweise vorführt, sie steht auf dem Boden der Realität, von der Schnitzler ein Bild gibt. Wäre noch Erna Wahls Mutter (Simone von Zglinicki). Ihr Hauptsatz ist die Frage, was aus den Zigarren geworden ist, die Friedrich Hofreiter dem toten Pianisten Korsakow bringen ließ als Einlösung der Spielschuld. Und sie macht auch aus den Nebensätzen Hauptsätze, mehr muss man nicht verlangen. Am Ende bin ich versucht, in „Das weite Land“ eine Variation auf das uralte Gebot „Du sollst dir kein Bild machen“ zu sehen. Jedenfalls scheitert Friedrich Hofreiter, der Züge von Louis Philipp Friedmann (1861 – 1939) tragen soll und von Arthur Schnitzler (Überraschung!), zu wesentlichen Teilen daran, dass die Bilder, die er sich macht, nicht stimmen. „Das weite Land“ war es vor fünfzig und mehr Jahren, dass neue Neugier auf Schnitzler auslöste. „Das weite Land“ ist es, wie hier am Deutschen Theater, immer noch. Das kann man im Namen der Theuerungskrawalle kleinreden. Muss man aber nicht.
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