Brecht/Weill: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny; Bühnen der Stadt Gera

„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ ist eine Oper. Und zwar eine, die mehr Oper ist als jene, die das Wort bereits im Titel führt, „Die Drei-Groschen-Oper“. Nicht, dass es eine Entdeckung wäre, dass in Opern gesungen wird. Es überrascht nur, wenn man aus reiner Unachtsamkeit das Wort Oper und den Namen Brecht nicht in einer Datei gespeichert hat. Es gibt folglich den klassischen Opern-Effekt: Man versteht nicht, was gesungen wird, genauer: man versteht die singenden Männer ziemlich gut, die singenden Frauen ziemlich schlecht oder gar nicht. Das ist von Gott so gewollt, könnte man sagen, sonst hätte er andere Gesangsstimmen geschaffen. Nun ist aber in einer Oper, deren Libretto Brecht geschrieben hat, dummerweise der Text sehr viel wichtiger, in Brechts Sicht sogar das Wichtigste, verglichen mit der Musik, als sonst. Kurt Weill sah das anders, es kam ausgerechnet im Gefolge der Zusammenarbeit am Mahagonny-Projekt zu einem sehr heftigen Streit. Nimmt man die Oper, wie sie sich traditionell darstellt, die Tradition hier sehr weit verstanden von Gluck bis Alban Berg, dann ist der, der das Libretto schreibt, fast immer nicht sehr viel mehr als der Pizza-Bote, der für feste Nahrung in den Probenpausen sorgt. Man hat den Namen bestenfalls einmal gehört, wer aber ist Lorenzo da Ponte neben Wolfgang Amadeus Mozart?

Die Puristen haben hoffentlich an dieser Stelle gerade einen neuen Klingelton am Handy installiert. Brecht und Weill trafen sich in ihren Intentionen. Nicht in allen natürlich, aber in einer soliden Schnittmenge. Sie wollten, wie ewig und drei Tage alle Menschen in der Revolte, der Tradition einen dosierten Todesstoß verpassen. Der eine musikalisch, der andere gleich mit einer ganzen Theorie und ihrer dann freilich böse eigengesetzlichen Praxis. Kaum war das epische Theater der Augsburger Jupiterstirn entsprungen, meldete sich eine nahe liegende Assoziation: die epische Oper. Ein Ergebnis: „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Man kann nachlesen, was dieses Wort, dieser Name, zunächst einmal bedeutet hat, und wenn man es gelesen hat, sagt man sich, darauf muss auch erst einer kommen: Münchner Spießbürgerei und frühes Nazi-Treiben. Wenn mir einer verriete, er hätte er an Edelholz gedacht, würde ich ihn nicht umstandslos einen Deppen nennen. Aber: allein der Gedanke, mittels einer Oper eine Art von Fundamentalkritik am kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem üben zu wollen mit Hoffnung auf Wirkung, allein dieser Gedanke ist kühn bis verwegen. Immerhin: die Uraufführung in Leipzig und eine Reihe der vor 1933 noch folgenden Inszenierungen schienen den Machern recht zu geben: Theaterskandal.

Schon für sein „Kleines Theatertagebuch“, veröffentlicht im September 1965, hielt Joachim Kaiser aber fest: „So wie der Puccini-Hörer selig immer wieder die schönen Stellen wiederfinden will, sucht der Brecht-Kenner süchtig nach immer den gleichen Demonstrationen, nach immer der gleichen, wohlformulierten antikapitalistischen, antiidealistischen, falsche Beschwichtigungen zerstörenden, linken Rechthaberei.“ In der Theaterpraxis bedeutet das: den Spielplanbauern springt überraschende Aktualität ins Auge und den Brecht-Kennern wird eine Sucht-Befriedigung in Aussicht gestellt. Wohl all denen, die den Text vorher gelesen haben. Denn die berühmtesten Songs zu kennen, vorgetragen von Lotte Lenya und anderen Brecht-Interpreten allerlei Geschlechts seit nunmehr über achtzig Jahren, das reicht nicht. Als anno 1998 die Salzburger Festspiele mit „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ eröffnet wurden, Regie kein Geringerer als Peter Zadek, sah sich Matthias Matussek genötigt, seine Kritik so zu beginnen: „Brecht zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, das ist Kapitalismuskritik bei Kartenpreisen bis zu 700 Mark – natürlich ein Lacher. … Unten die Leute von Salzburg mit Juwelen und oben die Leute von Mahagonny mit Transparenten im markerschütternden Patt des bürgerlichen Kulturbetriebs.“ Das ist geblieben.

Walther Victor, der die Uraufführung am 9. März 1930 im Leipziger Neuen Theater sah (Regie Walther Brügmann, Bühnenbild und Projektionen Caspar Neher), schrieb im „Sächsischen Volksblatt Zwickau“: „Zunächst zeigt sich, dass der Angriff auf das Theaterpublikum im Opernhaus am mühevollsten ist. … denn hier sitzt die Elite derer, die an der Vergangenheit kleben.“ Ersteres stimmt sicher immer noch, wenngleich längst nicht mehr ausschließlich, das andere gehört eher selbst der Vergangenheit an. Immerhin: zur Opernpremiere passt auch heute noch die schwere Robe und die volle Schmuckschatulle, im haupt- und großstädtischen Sprechtheater würde just das wie eine Dresscode-Verletzung daherkommen, was bis heute Provinz-Premieren immer auch eine lustige Umfeld-Komponente verleiht. „Die Stadt Mahagonny ist nichts anderes als das Mittel, die herrschende Gesellschaft formell bühnenfähig zu machen.“ So Victor, man möchte leicht traurig meinen: selige Zeiten, da noch Modelle ersonnen wurden, um etwas zu zeigen. Aber auch: unselige Zeiten, die unter einem Segel antikulinarischen Theaters schipperten, das Publikum für formbare Masse hielten, dabei aber keineswegs ergebnisoffen modellierend, sondern mit komplett vorgegebenem Lernziel. Der Operngänger sollte idealerweise zum Klassenkämpfer mutieren.

Das, wir müssen nun langsam zu Roland Schwabs Inszenierung an den Bühnen der Stadt Gera kommen, die musikalische Leitung liegt in den Händen von Takahiro Nagasaki, kann heute und nicht erst heute keine ernst gemeinte Absicht mehr sein, sollte sie je als solche gegolten haben. Das Programmheft hat ein Gespräch mit dem Regisseur und glänzt durch wohltuende Abwesenheit von überambitioniertem Text-Geschwurbel, selbst die Probe Adorno ist lesbar und verständlich. Schwab im Wortlaut: „Bei Mahagonny inszeniert man keine Individuen, keine Gesellschaft, man inszeniert eine ganze Stadt … Regie ist hier Kampfzone, wie überhaupt das Stück ein einziger Kampfsport ist. Schweißtriefend und animalisch. Ich versuche die dynamischen Abläufe dieser Sin City aufzuzeigen und aufzumischen. Eine Stadt wie ein pulsierendes Lustzentrum, eine Stadt, die wie ein Hurrikane in permanenter Rotation um ein (Sinn-) Vakuum zirkuliert. Eine Cloaca Maxima, die ihre Einwohner verschluckt und wieder ausscheidet. Die Stadt Mahagonny ist vor allem eines: rege Darmtätigkeit.“ Christl Wein hat dafür eine Schräge gebaut mit einem ziemlich großen Loch in der Mitte, die Protagonisten sind anspielungsreich kostümiert: Man kann an diverse US-amerikanische Endzeitfilme denken und ihre martialischen Lumpen-Uniformen, auch an diverse Rock-Musiker.

Das große Orchester sitzt nicht im Graben, sondern oberhalb des Geschehens und teils an den Seiten, ein Steg läuft von der geneigten Spielfläche, die wegen des Loches zu dauernden Kreisbewegungen von Chor und Solisten zwingt, mitten durchs Parkett, auch das an Rock- und Popkonzerte erinnernd. Vielleicht ist das letztlich der Grund für die mich, ich bin ehrlich, sehr irritierende komplette Gleichförmigkeit aller Bewegungsabläufe von Christel Loetzsch als Leokadja Begbick: immer dieser Wiegeschritt mit leicht geknickten Beinen, er tendiert für mich allzu heftig in Richtung Andrea Berg, wenn sie besonders luderhaft-verrucht wirken möchte. Oper ist aber, auch wenn sie zu ihrer Entstehungszeit damalige Pop-Einflüsse absichtsvoll aufnahm und verarbeitete, wie es eben Kurt Weill tat, immer noch Oper. Mit ihrer gesanglichen Leistung wog Loetzsch das freilich mehr als auf. Auch die anderen, Hans-Georg Priese als Jim Mahoney, Kai Wefer als Dreieinigkeitsmoses, Paul Kroeger als Fatty, Anne Preuß als Jenny Hill, Alexander Voigt in Doppelrolle als Jack O-Brian und Tobby Higgins, Johannes Beck als Bill und als Alaskawolfjoe Ulrich Burdack, überzeugten, wobei ich gern einräume, im eigentlich Musikalischen kein ambitionierter Experte zu sein oder noch werden zu wollen. Bisweilen war es mitreißend.

Wie sehr sich Zeiten änderten seit 1930, erhellt die große Selbstverständlichkeit, mit der in Gera nach dem Fressen und vor dem Kämpfen und Saufen, das Lieben, der Liebesakt zelebriert wird. Anlässlich der Uraufführung und danach erregte sich die Rechts-Presse darüber, dass man Männer vor einem Bordell Schlange stehen sah, die dann darin verschwanden. Walther Victor ließ in seiner Premierenkritik das Lieben einfach unerwähnt und hielt sich an Fressen, Saufen und Boxkampf, denn so weit reichte auch der linke Avantgardismus damals noch nicht, drastische Simulationen von Fließbandsex in diversen vollkommen eindeutigen Stellungen auf eine Bühne zu bringen. Die wilhelminische Zeit mit ihrer verklemmten Moral war am Ende der Weimarer Republik weniger vergessen und viel wirksamer noch, als man sich das wegen einiger Skandale vorstellen mag, die man aus der Theatergeschichte kennt. Dennoch wollte der Kritiker Victor offenbar irgendwie das Wort gewagt unterbringen: „Grandios die dichterische Konzeption einer Gerichtsszene, die gewagteste Anklage der Klassenjustiz, die je das Licht der Opernbühne erblickt hat.“ Die Szene gab es in Gera natürlich auch, gerade bei ihr musste man sehr genau auf den Text achten. Von Klassenjustiz sah ich nichts, las ich bei Brecht nichts, eher wirkt das wie kaschierte Selbstjustiz.

Bliebe die Frage, wie viele Klassenjustizanklagen auf Opernbühnen es 1930 bereits gab und wie die waren, wenn sie weniger oder gar nicht gewagt waren. Wahrscheinlich aber wollte der Kritiker mit seiner dreisten Behauptung einfach nur einen falschen Superlativ formulieren, was bis heute als sehr beliebtes kritisches Stilmittel gilt, etwa: Das ist der beste spanischsprachige Löwenbändiger-Roman des Herbstes. Brecht-Projektionen gibt es in Gera selbstredend auch, auf zeitgemäße Weise freilich: Fast ständig hat einer oder eine eine kleine Kamera in der Hand, deren Bild dann auf eine Fläche oberhalb der Bühne übertragen wird. Jim Mahoney stirbt in Gera auf nicht ganz eindeutige Weise, den unappetitlichen elektrischen Stuhl hat man sich erspart. Lange aber steht der zum Tode Verurteilte im Loch, von oben in helles Licht getaucht, er steht wie der Gekreuzigte. Die wiederholte Aufforderung „Küss mich!“, an Jenny gerichtet, erlaubt sogar eine Assoziation zum Ende von „Faust“, was mir vielleicht gar nicht aufgefallen wäre, hätte ich nicht am Vortag einen „Urfaust“ gesehen. Sollte dieser Brecht da gar eine besonders gedrehte Anspielung gebaut haben? Jim Mahoney nimmt wie Gretchen sein Schicksal an, fordert lediglich noch: „Lasst euch nicht verführen!“ Die angekündigten drei Stunden mit Pause dauerte es nicht bis zum Premierenbeifall.

Bei dem Blumen auf die Bühne flogen. Die Nagelprobe der Inszenierung werden die nächsten Aufführungen sein, im November geht die Oper dann nach Altenburg. Nicht wenige Ideen mit hübschem Schauwert dürften sich als publikumswirksam erweisen, sie helfen erfreulich dem Chor aus der wohl nie ganz zu bannenden Verlegenheit, Verlegenheitsgestik und -mimik zu nutzen, um nicht einfach nur starr auf den nächsten Einsatz zu warten. Skandalös war nichts. Man könnte, wenn man es sehr weit treiben wollte mit der Aktualität, die Urteilsbegründung für den ehemaligen Holzfäller aus Alaska für fortlaufend gültig erklären: „Wegen Mangel an Geld / Was das größte Verbrechen ist / Das auf dem Erdenrund vorkommt.“ Nur ist in diesem speziellen Fall der Geldmangel selbst verschuldet, ein Wetteinsatz hat diesen Mann um alles gebracht, was er hatte. Für wie auch immer Selbstverschuldetes die Gesellschaft verantwortlich zu machen, ist in einem ganz bestimmten politischen Spektrum eine Basisüberzeugung. Das macht sie nicht besser. Große Achtung vor dem Geld anzuklagen, macht seine tatsächliche Rolle nicht kleiner. Der Satz: Lieber reich und gesund als arm und krank – er klingt nur zynisch. Brecht/Weill lassen „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ mit absurden Losungen und Transparenten enden, sie wussten, warum.
www.tpthueringen.de


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