Nestroy: Umsonst; Theater Rudolstadt
Wiederholtes Lob nervt die Gelobten seltener als wiederholte Verrisse die Verrissenen. Ich leugne nicht, dass Lob für das Rudolstädter Sommertheater den Anschein haben könnte, Verrisse des Wintertheaters nicht etwa aufheben zu wollen, sondern echt vergiftetes Lob zu sein. Es gibt freilich immer Gelobte, die lieber Gift schlucken wie eine lutschglatte Kröte, als sich nebenwirkungsfrei durch den Wolf drehen zu lassen. Hinein also: „Umsonst“ gehört unter den 67 abendfüllenden Bühnenwerken des Johann Nepomuk Nestroy, denen sich ein weiteres gutes Dutzend den Abend teilleer lassende Bühnenwerke beigesellen, sicher nicht unter die Top Ten, mit ähnlicher Sicherheit auch nicht zu den Top Twenty, alles darunter liegt unter dem Aufmerksamkeitshorizont selbst von Auskennern, die bekanntlich gefährlicher sind als die Kenner. Immerhin: Das Wiener Burgtheater, dessen Spielplanung man eine gewisse Kompetenz auch bei schlechtem Willen wird kaum absprechen können, hatte in der Spielzeit 1986/1987 nicht nur die „Umsonst“-Premiere am 21. Juni 1987, es gönnte sich, damals gab es noch keine Etat-Skandale in Wien, ein Programmbuch von 192 Druckseiten Dicke, für Sucher: es war das Programmbuch mit der Nummer 20. Darin findet sich von Seite 67 bis Seite 152 der dreiaktige Text, den man sonst nicht so leicht findet. Plus viel dazu.
Rudolstadt spielt laut Programmflyer eine Fassung von Hans Weigel, was bedeutet, es spielt eine Fassung eines höchst kompetenten Fassungsherstellers. Von Hans Weigel (29. Mai 1908 bis 12. August 1991) stammen nicht nur mehrere Nestroy-Fassungen, er hat auch in seinem unbedingt empfehlenswerten Buch „Flucht vor der Größe“ (Wien 1960, Wollzeilen Verlag) einen der besten Nestroy-Essays, die ich kenne, zum Druck gegeben, den Qualitätsvortritt dabei gern dem Nestroy-Kenner Karl Kraus lassend, der am 13. Mai 1912 in seiner „Fackel“ eine wahres Nestroy-Feuerwerk abfackelte unter der Überschrift „Nestroy und die Nachwelt. Zum 50. Todestage“. Das beste Zitat daraus wäre ein kompletter Nachdruck, aber man kann sich für den hiesigen Zweck natürlich auch bescheiden: „In den fünfzig Jahren nach seinem Tode hat der Geist Nestroy Dinge erlebt, die ihn zum Weiterleben ermutigen. Er steht eingekeilt zwischen den Dickwänsten aller Berufe, hält Monologe und lacht metaphysisch.“ Auch schrieb Kraus 1912: „Er trifft die Nachwelt, also versteht sie ihn nicht.“ Diese Kanone hätte für das „Umsonst“ in Rudolstadt dann doch ein deutlich zu großes Kaliber. Man soll mit Festungsmörsern auch dann nicht auf Spatzen schießen, wenn es ein feiernder Salutschuss ist. Beifallskonzentrat reicht, die Darsteller müssen 19 Uhr noch einmal ran.
Nun hat man in Rudolstadt natürlich nicht einfach nur die Weigelsche Fassung der Nestroyschen Posse in drei Akten gespielt. Das wäre zu einfach, da dürfte der Intendant nicht Steffen Mensching heißen. Der sich für sein Sommertheaterstück, was immer es ist, wer immer es in Regie nimmt, Jahr für Jahr eigene neue Lieder ausdenkt, die dann gesungen werden. Ich wüsste aus den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre keines zu nennen, in dem diese Lieder neben der Mütze waren. Ein Sondervergnügen also aus dem Absingen von Intendanten-Liedern, das gehört zu Rudolstadt wie der Seitenhieb auf Saalfeld, die Außenspielstätte mit dem widersittlich okkupierten Kreissitz. Der Gesang und Saalfeld, bedarfsfällig durch Oberhof ergänzt, erlauben ohne unelegante Manöver den Orten Nestroys auszuweichen, ohne einen auffallenden Tatbestand zu schaffen. Die Orte im Original heißen Steyr und, Überraschung, Braunau. Steyr ist, Tourismuswerbung, die drittgrößte Stadt in Oberösterreich am malerischen Zusammenfluss von Enns und Steyr und Braunau liegt am Inn, womit sich weitere Erklärungen erübrigen, man frage die Adolfe dieser Erde, warum. Da passen Rudolstadt, Saalfeld und Oberhof natürlich deutlich besser zum Sommer, den man sich immer sonnig denken darf, selbst wenn er es nicht ist. Im übrigen wurde bei Nestroy stets gesungen.
Muss man die Handlung einer Posse nacherzählen? Man muss nicht. Dennoch: Zwei Wunschpaare: ein Arthur und eine Emma, ein Georg und eine Sali, müssen durch etliche Türen und über etliche Stufen sausen, ehe sie sich haben, nachdem sie sich endlich kriegen durften. Rund um sie Väter, Mütter, Vormünder, die alle dies und jenes verfolgen. Happy End in doppelter Ausführung, finaler Gesang, bunte Kostüme, weniger bunte Dekoration auf der Bühne. Warum das alles an der Heidecksburg? Im ersten Akt geht es auch um Theater in der Provinz, der Autor Nestroy, den zu Lebzeiten alle fast ausschließlich als Schauspieler wahrnahmen, der buchstäblich Hunderte von Rollen spielte hauptsächlich ihn Wien, aber auch in der Provinz seine Erfahrungen machte, wusste, wovon er schrieb. Dann gibt es da ziemlich lange, ehe es aus dem Blick gerät, Anspielungen und mehr als Anspielungen auf Schiller, die natürlich in „Schillers heimlicher Liebe“ Rudolstadt doch noch eher genossen oder belacht werden als in Mittweida oder in Wenigenlupnitz. An Schiller hat sich Johann Nepomuk Nestroy, heutig gesprochen, zwar nicht abgearbeitet, aber wo der Hieb zur Seite möglich war, hieb er ihn. Man kann in Nestroy-Biographien nachlesen, welche Schiller-Rollen er selbst spielte, auch hier wusste er, wovon er schrieb. Spaß war ihm wichtig, mit Schiller auch.
Im Shuttle-Bus zum derzeit nicht bespielten Theater bemängelte ein Besucher anschließend das Bühnenbild wegen seiner Blässe, wurde von einem anderen Besucher über die Anforderungen an die Farbfestigkeit bei schlechtem Wetter unter freiem Himmel aufgeklärt, dann einigte man sich über die farbigen Qualitäten der Kostüme. Wer dann noch erlebte, welch Beifallssturm der rosa Plastikeimer auf dem Kopf von Frau Zeppelmeyer auslöste, konnte sicher sein, Possenwirkungen sind Possenwirkungen, die gehen ohne Umwege über Hirne direkt ins Zwerchfell. Gut, so weit. Das Possenhafte an der Posse hat die Nebenwirkung, dass jene Rollen, denen die Possenhaftigkeit im Ensemble der Rollen am meisten fehlt, die Geblaumeierten des Abends sind. Im Rudolstädter „Umsonst“ ist die Geblaumeierte des Abends Laura Bettinger. Fragte ich mich zunächst: hat sie ihr Talent heute in der Garderobe gelassen, dachte ich, als ich wirklich gedacht hatte: Pech für sie, dass sie mitten in einer wilden Posse mit Gesang ausgerechnet die Rolle mit Spaßpotential Null erwischt hat. Eine muss die Emma spielen. Selbst der Major Tellheim ist ja bei jeder „Minna von Barnhelm“ fast regelmäßig der Geblaumeierte, dennoch wäre bei Emma, wie man heute so hübsch sagt, Luft nach oben gewesen. Manuela Stößer als Frau Zeppelmeyer und Anastasia Mispl hatte es leichter.
Bei Nestroy-Stücken ist es hilfreich zu wissen, dass er sich selbst mit unausrottbarer Vorliebe die schönste oder mindestens die zweitschönste Rolle auf den Leib schrieb. In „Umsonst“ spielte er dereinst den Schauspieler Pitzl, den in Rudolstadt Johannes Geißer gab. Den Arthur hatte er seinem Kollegen Karl Treumann (27. Juli 1823 – 18. April 1877) auf den Leib geschrieben, Nestroy und Treumann spielten seit 1847 gemeinsam am Wiener Carltheater, in Rudolstadt ist Andreas Mittermeier der Arthur. Geißer und Mittermeier profitieren von der Rollensubstanz, aber sie können natürlich nur deshalb profitieren, weil sie es können. Der Fassungsersteller Hans Weigel charakterisierte das Theater seines Mutterlandes so: „In Österreich werden wenig große Stücke geschrieben, und das kommt nicht daher, dass Österreichs Klima dem Theater ungünstig wäre. Im Gegenteil: der Schauspieler, das Spielen ist hier besonders wichtig. Man schreibt keine großen, sondern brauchbare Stücke. Man schreibt vor allem Rollen.“ Und: „... er nahm seine Stoffe, wo er sie fand, sie bedeuteten ihm wenig ...“. Bei „Umsonst“ merkt man Letzteres mehr als in anderen Nestroy-Stücken, da hat er sogar bei sich selbst abgeschrieben, seine Vorlage hieß „Nur keck“, und Biograph Franz H. Mautner (8. Juni 1902 – 6. Februar 1995) spricht gar von geistiger Dürftigkeit.
Das kann den Besuchern im Sommertheater Rudolstadt letztlich gleich sein. Sie sehen ihren Johannes Arpe als Kapitalisten und Vormund Finster über die Bühne marschieren, sie sehen ihre Ute Schmidt als Wirtin Sauerfass (bei Nestroy ist die Wirtin ein Wirt, einen „bösen“ solchen gibt es in Rudolstadt auch, der spielt aber nicht, sondern bewirtet Spieler). Joachim Brunner ist Maushuber, der Vater des jungen Maushuber, wie Johannes Geißer immer wieder sagen muss, und Jochen Ganser ist der junge Maushuber, Ignaz mit Vornamen, außerdem ist er der Schauspieler Fischer. Christof von Büren (Bühne und Kostüme) hat die beiden Maushuber identisch gekleidet, was, weil es eine Posse ist, keineswegs hilft bei der Vaterschaftsfeststellung auf der Bühne. Denn der Arthur, der hat sich vorübergehend als junger Maushuber ausgegeben, wie überhaupt das Ausgeben für einen anderen der Running Gag des Possenabends ist. Das klappt komischerweise immer seit den frühen Komödien der alten Griechen, die zu ihrer Zeit bekanntlich durchaus junge Griechen waren. Finster jedenfalls will keineswegs Mündel Emma für sich selbst, sondern für seinen Neffen, er ist froh, endlich für den Rest seines Lebens voll Genuss Witwer zu sein. Johannes Arpe sammelte viele Lacher für seine schönen Sätze über Ehe und den Stand nach dem Hinscheiden eines der Partner.
Man muss nicht zwingend wissen, das Nestroy zeitlebens das (un-)frohe Trauma einer eigenen gescheiterten Ehe zu Bühnenliteratur machte, wenn man es weiß, schadet es nichts. Im Publikum sitzen immer genug Eheerfahrungsträger, denen eifriges Nicken den Theaterabend versüßt. Weil Tino Kühn, der Kellner Georg, ein Kerl wie ein Baum ist, muss Sali (Marie-Luise Stahl) auf einen Stuhl steigen, seine Stirnhöhe zu erreichen. Als Intendant(in) zu Beginn agiert sie auf ebener Bühnenerde. Und Matthias Thieme, der Regisseur wie der Musikverantwortliche Thomas Voigt dürften den Followern ihrer Kunst neue hinzugefügt haben, egal in welchem Medium, es darf auch der Gruß von der anderen Straßenseite ein, zu Nestroys Zeiten in Wien lüftete man den Hut. Johannes Geißer spricht den Nestroy-Satz des Abends für mich: „Auf dem Theater schaut jeder besser aus als so; ich namentlich, ich mach' mich bei schlechter Beleuchtung sehr gut.“ Ich ende mit Hans Weigel über Nestroy: „Er machte sich keinerlei Illusionen, er war skeptisch gegen jegliche Größe, die eigene mit eingeschlossen, er war stets auf das Schlimmste gefasst. Die Nachwelt ist im Begriff, ihn zu widerlegen, indem sie ihn bestätigt.“ Unter diesem Blickwinkel wäre „Umsonst“ alles andere als umsonst inszeniert worden, Nestroy verleiht Flügel. Oder verwechsle ich da was?
www.theater-rudolstadt.de