Neil Simon: Sonny Boys; Meininger Staatstheater
Theaterabende, die ihre Zuschauer mit geschlossenem Vorhang empfangen, sind selten geworden. So selten, dass man sich bisweilen fragt: hat dieses Haus überhaupt noch einen richtigen Vorhang oder ist der in die Textilspende für den städtischen Kindergarten gewandert? Früher, ganz früher, war der Vorhang das Maß des Beifalls, man hatte soundso viel Vorhänge und die alten Mimen, wie sie in diesem Ende 1972 uraufgeführten amerikanischen Zweiakter im Zentrum stehen, erzählten sich, wann sie wie viele hatten. Damals gab es Theaterberufe, von denen man vermuten darf, sie seien komplett ausgestorben oder würden von freiberuflichen Nebendarstellern mit erledigt. Ein Abend mit Vorhang hat die Eigenart, dass man das Bühnenbild erst sieht, wenn der Vorhang aufgeht. In Meiningen geht er auf, der olivgrüne, wenn sich meine Farbwahrnehmung richtig ins Kurzzeitgedächtnis gekrallt hat und dann – sieht man tatsächlich ein Bühnenbild. Eines, bei dem Tante Gunhild sagen würde: die hatten sogar ein richtiges Bühnenbild. Hinten raus, wo in 86 Prozent aller klassischen Stücke der Garten liegt, eine Terrasse zum Garten, jedenfalls die ferne Nähe mit ihren Kirschbäumen oder Flussufern, sieht man Dächer von New York, nicht Nizza.
Willie Clark, der Komiker, lebt in einem Hotel. Was er bewohnt, ist das Fünftel einer Suite, die er früher bewohnte, als er noch ein Star war. Näher hin war er einst Teil eines Star-Duos, der Sonny Boys. Er hat einen Neffen Ben, der ihn mit Dosensuppe und der „Variety“ versorgt. Er hat einen Fernseher, in dem er sich Serien anschaut. Seine Hauskleidung besteht in einem Schlafanzug mit Längsstreifen und einem ähnlichen Frottee-Bademantel. Für Bühne und Kostüme trägt diesen falls Kerstin Jacobssen die Verantwortung. Sie hat sich, Seit‘ an Seit‘ mit Regisseur und Intendant Ansgar Haag, für Naturalismus entschieden. Regie und Dramaturgie haben sich für Texttreue entschieden, es gibt wenig Streichungen, noch weniger Hinzufügungen, genutzt wird die Übertragung von Gerry Agoston, von dem/der ich außer dem Namen nichts weiß. Für Willie hat Meiningen eine Starbesetzung: Heinz Rennhack, der im März tatsächlich schon 81 Jahre alt wird. Die BILD nannte ihn, als er 80 wurde, eine Ostlegende. Ostlegende ist besser als Osteoporose. Heinz Rennhack hat Meiningen schon als „Der Geizige“ freigebig begeistert. Ostlegende Herbert Köfer wird im Februar 97, er ist näher an Johannes Heesters, bis dahin bleibt Rennhack viel Zeit.
Die Schlüsselstelle der Inszenierung, nicht die des Stückes, findet sich gegen Ende der zweiten Szene des ersten Aktes. Sie verrät, will mir scheinen, die Intentionen der Regie. Ich gebe den Dialog hier mit Minimalstreichungen meinerseits wieder. „AL: Warum änderst du den Text nach all den Jahren? WILLIE: Ich will nur die Nummer ein bisschen auffrischen. AL: Wer hat dich gebeten, die Nummer aufzufrischen? … WILLIE: Heute lebt eine neue Generation. … AL: Weißt du, warum ich 43 Jahre lang immer denselben Text gesprochen habe … und auf dieselbe Weise? Weil er gut ist. WILLIE: Und weißt du, warum wir den Text nicht mehr sprechen? Weil wir 43 Jahre lang immer denselben Text und auf dieselbe Weise gesprochen haben.“ Man kann, wenn man mag, in dieser Wechselrede von Willie Clark und Al Lewis, der „Sonny Boys“, den Quellcode aller heutigen Regie-Philosophien erkennen. Wobei die Auffrischer sich selten mit ihren Auffrischungen zufrieden geben, sie haben auch oft noch den schwer unterdrückbaren Drang, denen, die Text spielen lassen, weil der gut ist, mit allerlei Diffamierungen in die Parade zu fahren. Immer heißt die Frage anders formuliert auch: Spiel ich für Kritik und Premierenbesucher oder für das Publikum?
Zur Erinnerung: Neil Simon schrieb seine Komödie in den frühen Siebzigern, Namen, die er damals im Text nannte, wie Bing Crosby, Mae West, Bob Hope, kennt heute tatsächlich kaum noch jemand, sie waren damals schon Legenden, Westlegenden. Die Krimiserie „Mannix“, die sich im zweiten Akt die Krankenschwester anschaut, während Willie schläft und sie seine Pralinen auffuttert, ist Fernsehgeschichte. Von „Mannix“ (Paramount Television) gab es zwischen 1967 und 1975 194 Episoden zu je 48 Minuten. Zwischen 1969 und 1973 zeigte die ARD 47 Folgen, den Rest gab es in Deutschland erst ab 1989 im Privatfernsehen. „Mannix“ hat Ansgar Haag gestrichen, die drei Namen dagegen nicht. Sonst aber und nur mit geringsten Ausnahmen wird vom Blatt gespielt. Das allein schon ist in manchen Augen skandalös. Das allein ist in meinen Augen bravourös, denn der Text ist gut. Die Komödie ist gut. Es wimmelt nicht von guten Komödien in der Bühnenliteratur des deutschen Sprachraums, wir sind auf Zuwanderung angewiesen. Nicht jede Lücke im Spielplan lässt sich mit einem Roman der letzten drei SPIEGEL-Bestseller-Listen füllen. Von amerikanischen Komödien lasse ich mich um Längen lieber überfremden als vom American Way of Life. Sorry.
Wobei ich als Spielplan-Planer immer auch meine Scouts zu den Franzosen schicken würde. Aber zurück zu Neil Simon und seinen „Sonny Boys“. Sie werden schon im Februar auch in Baden-Baden wieder in Szene gesetzt, im Juni im Neuen Theater Halle. Sie haben also eine gewisse Unverwüstlichkeit an sich. Und bieten nächst der Willies noch eine zweite feine Rolle. Die füllt in Meiningen Peter Bernhardt aus, der seinen ersten Auftritt hat im Outfit von Joopi Hesters auf dem Weg ins Maxim. Dessen markante Stimme eine leichte Steifigkeit rasch überspielte, was am Geist des Stockes liegen mag, den er als Gehhilfe nimmt. Regisseur Haag hat die im Text angelegten, von Neil Simon an einer Stelle sogar ausdrücklich (und unüblich) geforderten Gags nie strapaziert oder gar überstrapaziert: weder die Tür, die nicht aufgeht, das Fernsehkabel, über das Willie Rennhack stolpern muss, noch das Räumen der Möbel in der verkleinerten Suite, um ein Bühnenbild zu simulieren, in dem sich der Doktor-Sketch spielen lässt, geraten in Gefahr zu kippen. Heinz Rennhack spricht recht leise, meine Nachbarin zur Linken fragte ihren Begleiter wiederholt, ob er verstanden habe. Er hatte. Das moderne Theater muss sich auf die Generation Hörgerät einstellen.
Was diese Amerikaner beherrschen wie selten sonst jemand in der Welt, ist das bruchlose Wechseln vom Komischen ins Tragische und umgekehrt. Ansgar Haag schafft in Meiningen ausgesprochen anrührende Szenen, in denen die Komödie ihre Abgründe zeigt, dazu passt durchaus gut der Auszug aus Simone de Beauvoirs „Das Alter“ im Programmheft, das angenehm informative Texte enthält und nicht diese überkandidelten Tiefsinn-Surrogate, mit denen der Theatergänger oft vor die Frage gestellt wird, ob Inszenierung und Programmheft überhaupt voneinander Notiz nahmen vor Druckbeginn. Neben Peter Bernhardt und Heinz Rennhack haben allein wegen ihres Textes Jan Krawczyk als Neffe Ben Silvermann (in Meiningen mit einem n mehr als bei Neil Simon) und Dagmar Poppy in ihren beiden Rollen als Studioassistentin und Krankenschwester weniger Raum und Zeit zu glänzen. Die Szene zwischen Poppy und Rennhack, als er im Rahmen des Sketches sich den Namen Walter Benjamin Kornheiser buchstabieren lässt, ist ein fröhlicher Einwurf zur MeToo-Debatte, auch wenn das nicht so beabsichtigt sein sollte. Das Publikum lachte hingebungsvoll und selbst als das Wort Zigeuner fiel, verließ niemand unter wildem Protest Parkett oder Rang. Gut so.
Immerhin liest man gelegentlich, dass in Sachsen rechtliche Schritte erwogen werden, weil in einem Kreuzworträtsel einer Klinikzeitschrift das Wort „Neger“ gefragt war. Unsereiner muss bekanntlich zum alten Brockhaus greifen, um zu erfahren, was das denn war: ein Neger. Da wären wir bei einer der wenigen Streichungen mit Signalcharakter, die die Regie vornahm: bei Neil Simon steht, dass Willie Clark kaum Chancen habe auf eine Rolle in einem modernen Musical, denn eines sei ein Rock-Musical, ein anderes biete nur Rollen für Schwarze, woraufhin Willie sagt: „Und wenn ich nen Schwarzen spielte, da konnte man den Text verstehen.“ Sollte, verzwirnt und zugenäht, dass bei Neil Simon etwa heißen, Schwarze auf Bühnen sprächen unverständlich? Wir alle haben 1928 nicht am Broadway auf Artikulationen geachtet. Dafür verstehen wir zutiefst, wenn ein seltsames Paar, ach nein, das ist ein anderes Neil-Simon-Stück, wenn also Willie und Al beide dagegen sind und trotzdem mitmachen. Ist das ein brandheißes Stück über die SPD und ihr bühnenreifes Verhältnis zur Großen Koalition? Der Doktor-Sketch, den beide vergebens proben, im Fernsehen muss später eine Aufzeichnung aus der Ed-Sullivan-Show als Ersatz genommen werden, ist natürlich köstlich.
Ein Satz geht in Meiningen unter, der auch schon 2014 in Coburg unterging, weil die Zeit für diesen Satz vorbei ist. Der DDR-Leser aber, der 1988 das auf miserablem holzhaltigem Papier gedruckte Buch „Komödien“ von Neil Simon in seinen Händen halten durfte, der strich sich mit Textmarker, respektive seinem Ost-Vorläufer, auf Seite 255 im ersten Bild des erstes Aktes den Satz von Ben Silverman an, der da lautet: „Jeder Mensch hat das Recht, abzuhauen, wenn er Lust hat.“ Das war so, als sänge die Gruppe LIFT „Nach Süden, nach Süden“. Der Meiniger Vorhang schloss sich übrigens auch zwischen den Szenen. Blieb dafür aber offen, als das allgemeine Verbeugen anhub. Einen schönen Satz darf Heinz Rennhack sprechen, der nicht von Neil Simon stammt: „Wenn ich aufhöre, bin ich tot.“ Im Interview erklärte er, er fühle sich fit wie mit 65, was natürlich kein Satz für 65jährige ist, aber es ist ein Versprechen, eine Ansage. Er hat seinen Text anders als sein Willie parat, noch im stillen Sitzen, als er sich zwei Kissen unterlegen lässt, um auf Al Bernhardt herab blicken zu können, trägt er mit purer Mimik bei zu seiner Legende. Erreichen wir den Zeitpunkt, wo wir von Westlegenden wie von Ostlegenden, also von früher, reden, werden wir viel erreicht haben.
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