Schiller: Maria Stuart; Staatsschauspiel Dresden

Karl Friedrich Zelter, nicht unbedingt als Theaterkritiker bekannt, eher als Freund Goethes, als emsiger Korrespondent, Musikexperte, Musiker, Sing-Akademie-Leiter, sah im September 1819 in Wien die „Maria Stuart“. In der Titelrolle als Gast aus Braunschweig Elise Klingemann (1785 – 1862), als Königin Elisabeth Sophie Schröder (1781 – 1868). Zelter war wenig angetan vom Spiel der Damen: „Nach der Szene, in welcher die Königin mit der Stuart zusammentrifft, ging ich und aß einen Rostbraten, der mich wieder versöhnt hat mit der Welt.“ Madame Klingemann habe ihren Part „wie eine Leichenpredigt abgelesen“, Madame Schröder erlebte Zelter so: „Kannst Du Dir nun diese Königin als eine Frau vorstellen, die sich alle Augenblicke zurechtheben muss, den Kopf nicht festhalten kann, ohne Augensprache, ohne sinnige Gradation und ohne geschickte Arme, so hast Du Madame Schröder.“ Mir wäre das kaum zitierenswert erschienen, hätte ich nicht in Dresden zwei Darstellerinnen gesehen, die den alten Zelter ganz sicher auch zum Rostbraten getrieben hätten.

Regisseur Thomas Dannemann, dem ich vor Zeiten reinen Herzens einen sehr guten Griff bei der Besetzung von Dürrenmatts „Romulus der Große“ in Weimar bescheinigte, war hier für seinen offenbar ersten Schiller weniger Glück beschieden. Weder Anja Laïs (Maria Stuart) noch Fanny Staffa (Elisabeth) prägten das Spiel im Sinne der Rollenvorgabe. Hat man sich als Theatergänger längst daran gewöhnt, statt einer „Maria Stuart“ eine irreführend betitelte „Elisabeth“ zu sehen, wohin man kommt, gab es im Staatsschauspiel „Burleigh und andere“, eine Art Männerabend mit Sprechpuppen-Beilage. Olaf Altmann schuf den neun Darstellern eine kahle Bühne mit zwei Kippflächen, die je nach Schräglage nach unten oder oben kuriose und weniger kuriose Balance-Akte provozierten, Ahmad Mesgarha (Leicester) stand einmal weit oben, als wäre er beim Versuch, einen Sturz zu verhindern, von einem gütigen Gott in ein Standbild verwandelt worden. Die Kostüme (Regine Standfuss) bedienen vermutlich ein Credo zeitgenössischer Wirkungsästhetik: was nicht verstört, stört. Und verstörend wirkt allemal ein wilder Mix des Inkommensurablen.

Also erscheint der junge Mortimer (Lukas Rüppel) im Outfit eines flotten Fernreise-Busfahrers, der seine Jacke über den Sitz gehängt hat. Maria Stuart, die Schottin, steigt aus der Unterwelt, als hätte sie Freigang in Abu Ghraib, um den Hals eine ans Spanische gemahnende Halskrause, wie sie auch Elisabeth zu tragen hat, allerdings in Kombination mit einer Flitter-Robe aus dem Show-Business. Burleigh (Torsten Ranft), den ein neuerer Schiller-Biograph den „Falken“ unter den Ratgebern der Königin nannte, trägt, wenn ich nicht übersah, zum suboptimal sitzenden Anzug als einziger Handschuhe. Rate, Parkettplatz-Inhaber, was das, wenn überhaupt etwas, zu bedeuten haben könnte: Will sich einer die Finger nicht schmutzig machen, will einer keine Spuren (sprich Fingerabdrücke u. ä.) hinterlassen? Der Vorhang zu und diese Frage offen. Immerhin: Ranft bewegt sich auf der Bühne. Innerhalb dessen, was man Tableau-Spiel nennen könnte, ist er fast eine Agilitäts-Granate, ein Eiferer vor dem Herrn. Man kennt diese Typen: Sie wollen immer über Inhalte diskutieren, die Personalfragen sind dem Sankt-Nimmerleins-Tag vorbehalten. Glaubhaftigkeitsbolzen sans phrase.

Kostümiert wirkt Viktor Tremmel, der den Grafen Aubespine mit französischem Akzent in Richtung Operette zu sprechen hat, eine Unglücksidee, weil sie unfreiwilligen Humor ins Spiel trägt, dieser Graf ist aber nicht ein Klon des gern zur Schiller-Tunte degradierten Hofmarschalls von Kalb aus „Kabale und Liebe“. Unfreiwilligen Humor trägt Tremmel später nochmals ins Spiel, wenn er in zweiter Rolle den Davison gibt, die nüchtern betrachtet unglücklichste Figur des gesamten Trauerspiels. Wobei die Regie ihm das Unglück erspart mittels Strichfassung. Überhaupt: der Schluss wirkt, als hätte Thomas Dannemann vor allem darauf Wert gelegt, auf gar keinen Fall die für „Maria Stuart“ natürlich und fast alle anderen Schiller-Dramen ebenso berühmte finale Pointe beizubehalten. Den letzten Satz bei Schiller hat der in Dresden komplett gestrichene Kent: „Der Lord lässt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.“ Statt seiner muss Amias Paulet (Raiko Küster) im Hintergrund durchs Bild flitzen und sagen: „Vor Tagesanbruch haben beide Lords die Stadt verlassen.“ Und das allerletzte Wort ist das natürlich auch nicht.

Im Staatsschauspiel spricht es Fanny Staffa: „Ich bin Königin von England.“ Da sie es auch vorher schon war, soll das also etwas bedeuten. Was aber? Hat sie den Bastard-Vorwurf der Schottin etwa ernster genommen als nach außen gezeigt? Hing ihre Legitimität an der Beseitigung der längst ungefährlichen Konkurrentin? Oder nur ihre Autorität? Fanny Staffa ist in ihrer Rollenauffassung, wenn man denn von einer solchen überhaupt sprechen mag, meilenweit entfernt von jenem „Überweib“, als das der große Max Kommerell diese Königin bei Schiller, darin verwandt mit seiner „Jungfrau von Orleans“, sah und sehen durfte. Diese Dresdner Elisabeth ist unsicher, stark nie, dafür tendenziell weinerlich. Für ihr weitestgehend statuarisches Spiel hätte stimmliche Variabilität ausgleichend wirken können, die aber steht offenbar nicht zur Verfügung. Schiller, es muss, auch wenn es nervt, wiederholt werden, nannte sein Trauerspiel „Maria Stuart“. Der fehlt in Dresden wie fast überall inzwischen das komplette Begleitpersonal, sie ist also doppelt verarmt.

Dafür spricht und bewegt sich Anja Laïs wie eine Alkoholikern, die mit aller Macht verhindern will, dass ihre Sucht sichtbar wird. Sie spricht mit schwerer Zunge, die ihre Schwere kaschieren will, sie wackelt mit dem Kopf und viel zu oft rutschen ihre Sätze nach hinten weg, bis in die Nähe jener nervenden Tonlagen, die man aus dem Privatfernsehen kennt, wenn sich dort Laien in künstlichen Spielsituationen gegenseitig anöden. Soll das alles sicht- und hörbar machen, dass sie 19 Jahre Hausarrest in Fotheringay hinter sich hat, kaum noch hofft, soll das Sarkasmus, gar Zynismus sein? Wenn, dann missriet es total. Was bleibt in Erinnerung von ihrem Spiel: das mehrfache Herabfallen ihres rechten Armes, als der übergriffige Mortimer sich über sie hermacht, im seltsamen Glauben, sich einen sexuellen Vorschuss holen zu dürfen auf den Lohn, der für Marias Befreiung fällig wird. Wieder eher unfreiwillige Komik. Dahin darf man wohl selbst das Auftreten von Hans-Werner Leupelt als Shrewsbury ordnen. Fast provokant wuchtig sein gigantischer Bauch zwischen den Hosenträgern, seine pure Körperlichkeit nimmt dem, was er zu sprechen hat, die Substanz weg.

Einmal, einmal zeigten die Kippflächen Sinnbildlichkeit: es gab keinen Ausweg nach hinten. Aber immer wieder unfreiwillige Komik: Kann man auf leerer Bühne sagen: Vor aller Augen hab ich sie entwürdigt? Und was ist mit dem lauschenden Leicester? Den die Königin auf Anraten Burleighs verdammt, die Hinrichtung Maria Stuarts zu begleiten, an der Seite des hyperaktiven Burleigh: so entscheiden starke Herrscherinnen. Er, eben noch bekennend, was er nicht sehen könne: lauscht plötzlich nicht nur wie der letzte Voyeur dem Sterben der Stuart, sondern beschreibt es, welchen Hörern? Das steht so bei Schiller nicht. Zehn Minuten fehlen an den im Programm angekündigten zwei Stunden Spielzeit ohne Pause, als das letzte Wort der Königin gefallen ist. Maria Stuart trug vor dem unsichtbaren Sterben ein schwarzes Kleid. Bei Schiller ist es weiß, er erfand, seine Quelle ergänzend, noch einen schwarzen Schleier hinzu. Deuter, die fern aller Bühnenpraxis an der Vermehrung der einschlägigen Sekundärliteratur schaffen, wollen hier tiefen Sinn gefunden haben. Regisseure stört das nicht. Thomas Dannemann gab sechs Ensemble-Neulingen eine Chance. Es könnte sein, dass Friedrich Schillers „Maria Stuart“ nicht das ideale Probierfeld für alle war.
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