Goethe: Iphigenie auf Tauris, Südth. Staatstheater Meiningen
Wer sagt eigentlich, dass diese Iphigenie marmorklassisch sei, wer, dass sie kein Drama, sondern Wechseldeklamation von Sinnsprüchen auf die Bühne bringe? Vielleicht ist in zu vielen Köpfen jenes nun tatsächlich sehr berühmte Bild, da Johann Wolfgang von Goethe als Orest den Arm hebt wie im Schmierentheater und Corona Schröter, die Iphigenie der ersten Weimarer Liebhaberinszenierung von 1779, in der Urfreund Knebel den Thoas geben musste, sich der Olympierbrust zuneigt? In Meiningen ist etwas Wunderbares gelungen, das vielleicht nur deshalb wunderbar scheint, weil sich niemand mehr traut, das Einfache, das schwer zu machen ist, zu wagen, und stattdessen immer das Schwere versucht, das im Dutzend billiger kommt.
Der Regisseur Murat Yeginer verrät schon mit seinem Namen, er gehöre nicht zu jener seltsamen Menschengruppe, die sich ob ihres selbstdiagnostisch angedichteten faustischen Wesenskerns immer wieder und immer noch leicht überlegen sieht. Dafür inszeniert er, wenn er sie inszeniert, diese „Iphigenie auf Tauris“ in einer Weise, die man vorschnell gern unvoreingenommen nennt. Ihm fällt jene bei Goethe natürlich vorhandene Tiefendimension des Textes sofort auf, die in König Thoas auch den sich seines Rufes bei den Griechen erwehrenden Barbaren fixiert. Pylades, der Realpolitiker, der weiß, dass Zwecke schon bisweilen Mittel heiligen, den sein Freund Orest nicht gänzlich umsonst als einen anderen Odysseus erkennt, hat ohne jedes schlechte Gewissen jene hellenische Arroganz an sich, die sich selbst per Definition schon überlegen wähnt. Die dem Barbaren, der in diesem Fall ein Taurer, ein Skythe sein soll, einfach keine menschliche, keine humane Moral zutraut.
Fünf Personen gibt es nur in diesem Stück, mangels Nebenrollen müssen keine gestrichen werden. Helge Ullmann hat eine Bühne gebaut und Kostüme gewählt, die etwas erlauben, was so schrecklich oft nicht mehr zu sehen ist: Tableau-Inszenierung. Bühnenwirkung ging einst zu nicht geringen Teilen davon aus, dass arrangiert wurde, als müsse der Zuschauer ein komponiertes Gemälde vor sich finden. In solchen herrschen, das weiß man bisweilen noch, Gesetze der Diagonalen, es wirken Strukturelemente wie der Goldene Schnitt und plötzlich haben sogar Farbnuancen einen mehr als nur optischen Wert. Hier sind viele weiße Tücher und weiße Fetzen, die wie verdickte Spinnweben anmuten. Im Hintergrund ragt etwas wie das rostige Heck eines in den Grund gerammten Schiffes. Die Attraktion des Geschehens erwächst aus dem maximalen Ausschöpfen des Mangels, so seltsam das klingt.
Natürlich wäre einem aktionsarmen bis aktionsfreien Text Bewegung zu implantieren, auch wenn der Text von Goethe ist. Regie und Bühnenbild sind der Versuchung, falls sie je aufkam, ausgewichen. Der Zuschauer kann sich auf den Text konzentrieren, den er hört, er kann das Bild ruhig ansehen und aufnehmen, das ihm vorgestellt ist. Wie wunderbar, die Wiederholung sei verziehen, kann es sein, unabgelenkt zu genießen, wie diese Schauspieler Text beherrschen, Text spielen. Wie sie eben nicht hersagen, eben nicht „Stellen“ wegnuscheln, Jamben, elffüßig oder zehnfüßig glatthaspeln.
Dass Anja Lenßen eine gute Iphigenie sein möge, habe ich mir gewünscht, seit ich wusste, dass sie die Rolle spielen darf. Sie ist eine gute Iphigenie, sie war phasenweise so gut, dass ich die Brille absetzen musste, um in den Augenwinkeln zu ribbeln. Kein Wunder also, dass auch Murat Yeginer ihr die Hand küsste im Schlussbeifall nach gut 95 Minuten ohne Pause. Was für eine Frauenrolle ist diese Iphigenie immer noch, staubfrei und frisch. Michael Jeske spielt Thoas, den Barbarenkönig, der nach dem Verlust seines letzten Sohnes um den Bestand seines Reiches fürchtet, der um Iphigenie wirbt und abgewiesen wird. Nannte ihn nicht unlängst jemand einen konservativen Darsteller? Was für ein hinterhältiges Lob wäre das für einen Mann, der einfach nur eine Stimme hat, die Präsenz bringt, der solche Rollen ausfüllt, wie sie nur irgend ausgefüllt werden können. Zum Ende steht er allein im doppelten Lichtkegel und sagt das von Iphigenie fast inbrünstig erbetene „Lebt wohl!“, das sie nicht mehr hört.
Orest, der Muttermörder, dem die Furien folgen, der seine Schwester Iphigenie nicht erkennt, der sich im Jenseits wähnt, als er erwacht und deshalb ein zweites Mal erwachen muss, fordert Florian Beyer zum Einsatz seines ganzen Könnens und siehe, da ist viel, was gefordert werden kann. Man muss ja das Verfolgtwerden durch die Rachegöttinnen erst einmal sichtbar machen, man muss ja das Irresein an und in der Welt als Erbe dieses Familienfluchs der Tantalussippe, der Atriden, ja erst einmal zeigen. Nur sehr sparsam, zweimal im Ganzen, wird Vorgeschichte durch eingesprochene Kinderstimme nachvollziehbar gemacht. Sonst lebt die komplette Inszenierung davon, dass der Text trägt, wenn die Zuschauer ihn wirklich erfassen. Was freilich immer eine auch kühne Hoffnung bleibt, ohne die Theater jedoch arm wäre. Orest also, der zittert, der friert, den sein Freund Pylades nach und nach in die Hälfte seiner eigenen Kleidung hüllt, ohne damit mehr als nur äußerliche Erwärmung zu bewirken, ist am Ende der geheilte Bruder, der dem Orakel die Deutung gibt, die nur aussieht, als wäre deus ex machina zum Einsatz gekommen.
Pylades (Harald Schröpfer) und Arkas (Lukas Spisser) stehen nur wegen ihrer geringeren Textmengen hinter den drei erstgenannten Darstellern, sie sind auf der Höhe ihrer Aufgabe, sie liefern die Teile des Zusammenspiels, die alles rund, stimmig und komplett machen. Ich habe, wenn überhaupt, nur einen winzigen Holperer im Text gehört, womit klar ist, dass der zeitweilige Eindruck anderer Abende in Meiningen und da und dort, anspruchsvolle klassische Texte gingen heutigen Darstellern nicht mehr glatt über die Lippen, wohl eher aus dem Regiewillen kommt, der ihnen aufgedrungen wird. Schon am Sonntag gibt es die zweite Premiere. Der lange Beifall der ersten Premiere und sämtliche Bravos mögen auch sie begleiten und alle nachfolgenden Aufführungen.
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