Enzensberger: Der Menschenfeind, Theater der Altmark Stendal

Nur weil auf dem Programmheft zu lesen ist „Komödie in fünf Akten von Hans Magnus Enzensberger nach Moliere“, muss man normalerweise nicht Enzensberger als Autor würdigen. Denn er hat, streng genommen, lediglich eine neue Übersetzung vorgelegt. Ganz anders als etwa Kleist, der auch einen Moliere sich hernahm, den er nur übersetzen wollte. Herausgekommen ist, bescheiden, „Amphitryon nach Moliere“. Und das ist Kleist, Kleist und immer wieder Kleist, selbst da, wo er tatsächlich nur neu übersetzte. Was aber den Uralt-Lausbuben des deutschsprachigen Nonkonformismus ritt, als er noch ein Alt-Lausbube war, diese durchweg alberne, dämliche, niederschmetternde, idiotische Platt- und Flachaktualisierung zu texten, erscheint 2012 noch sehr viel rätselhafter als es 1979, zum Tatzeitpunkt, schon hätte erscheinen müssen.

Nichts, dies könnte bereits ein abschließendes Fazit sein, beweist die Tragfähigkeit eines großen Bühnentextes schlagender als die Tatsache, dass das 350 Jahre alte Original frischer, aktueller, lebendiger, zeitgemäßer wirkt als dieser jämmerliche Spät-68er-Schrott, wo immer noch der Feind „Faschist“ genannt wird, wo immer noch über „Bürokraten“ gewettert wird, „Bullen“ unterwegs sind und vom „Schweinestaat“ wenigstens noch die „Schweine“ verblieben. 1979, liest man mittlerweile selbst  bei Wikipedia, verlegte Enzensberger mit seiner Neuübersetzung die Handlung in die Schickeria der Bonner Bundesrepublik. Wen aber, um alles in der Welt, interessiert die Schickeria dieses untergegangenen Landes?? Diese taumelnden Party-Tolpatsche? Wenn aber, warum dann sowohl ein Kanzleramt als auch ein Herzog alten Adels?

Als Georg Hensel Ende der 70er Jahre eine Bilanz des verflossenen Theaterjahrzehnts zog, ich wiederhole das gern, erregte er sich vor allem über platte Aktualisierungen, über publikumsverachtende Bildsymboliken des vermeintlich modernen Theaterbetriebs. Bewirkt hat er nichts, gelernt hat niemand etwas seitdem, denn die dumpfe Vordergründigkeit marschiert immer noch und immer noch glauben Regisseure, nur mit Wehrmachtsuniformen könne man Wallensteins Lager aktuell und modern auf eine deutsche Bühne stellen. Hier aber, bei Moliere, trägt der Text. Wer es nicht glaubt, mag nach Weimar fahren, und sich die dort erst vor kurzem mit der erfolgreichen Premiere gestartete neue Inszenierung anschauen. In Stendal, soviel Vorrede war nötig, in Stendal nun hat der Regisseur Andreas Janes sich bemüßigt gefühlt, auf den altbackenen Enzensberger noch das eine oder andere saure Sahnehäubchen zu quetschen. Es jammert, tut mir leid, den Hund mitsamt der Hütte, das Ergebnis auf einer Bühne zu sehen.

Es schmerzt, angesichts solcher Umstände dennoch etwas zu den Darstellern sagen zu müssen, die diesen auf unteres Komödienstadel-Niveau gedrückten Moliere spielen. Oronte (Jan Kittmann) muss uns tatsächlich seinen Hintern freilegen bei Vortrag seines Gedichtes, das er, ha, ha, wie aktuell, nur eben rasch als e-mail (!!!) niederschrieb. Bei Moliere ist es ein Sonett und es ist ein Kabinettstückchen für jeden Oronte. Florian Kleine als Alceste muss sich unter Susanne Kreckel (Celimene) schieben und ihr das Höschen vom Hintern zupfen, an dem er dann schnüffelt. Zum Ausgleich legt sie später nach Lösung seines Gürtels seine weiße Feinripp mit Eingriff frei und kniet vor ihm nieder. Glücklicherweise tritt einer der anderen Mimen von rechts auf, es kommt nicht zu dem, was wohl kommen sollte. Das sind die Bühnenprovokationen von vorvorgestern, altmärkisch schaumgebremst.

Dabei, und das soll keineswegs verschwiegen werden, sind die Inszenierungseinfälle an sich gar nicht so schlecht. Das betrifft vor allem die zu Beginn jeden Aktes (drei vor der Pause, zwei danach) hinter den variabel einsetzbaren Vorhängen mit Farblichteffekten gezeigten pantomimischen Einführungen, die sichtbar machen, was der pure Salon-Dialog, der hier eben ein Party-Dialog ist, nicht ohne weiteres hergibt. Die Leistungen der Darsteller können sich sehen lassen und der sicher ehrlich gemeinte fast heftige Beifall des nicht allzu zahlreichen Arnstädter Publikums würdigte das keinesfalls aus Blindheit. Es ist wie immer bei solchen Theaterabenden, das reinste Vergnügen haben die Zuschauer, die das Stück nicht kennen und auch nie eine andere Inszenierung sahen. Die halten diesen „Menschenfeind“ dann für eine Klamotte mit Millowitsch-Effekten und Heidi-Kabel-Humor und amüsieren sich bollig. Nur Moliere ist das eigentlich nicht, und vermutlich nicht einmal Enzensberger.

Der hat vor langer langer Zeit in einem Bändchen mit dem Titel „Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie“ noch gegen die Sprache des SPIEGEL gewettert. Inzwischen ist er längst genießerisch selbst ein SPIEGEL-Autor und man mag den unfreiwilligen Witz gar nicht auf ihn beziehen, wenn er seinen Alceste klagen lässt, dass jetzt sogar schon sein Frisör in den SPIEGEL kommt. Es hätte  auch der „Schwarzwälder Bote“ sein können, aber unter dem SPIEGEL macht es der Enzensberger eben nicht. Vielleicht sollte alles gar eine Satire sein auf die noch gar nicht richtig sichtbaren Grün-Alternativen. Dann wäre Enzensberger 1979 sogar ziemlich flink gewesen. Das indophile Aussteiger-Getue mit Esoterik tritt heute nur noch in Gerichtssälen auf, wenn eine lügende Zeugin den von ihr geschützten Drogenkriminellen mit einem Gebetsstein aufmuntert und dann die Handflächen nach oben dreht wie ihre Zombie-Augen. Die verbalen Zutaten vom Lesben-Magazin im Bett der Arsinoe (Claudia Lüftenegger) über Baden-Baden bis Caipi mit Limette lassen sich nicht eindeutig Text oder Regie und Dramaturgie zuordnen. Wohl aber die offenbare Furcht, die herrliche verbale Schlacht der Damen Celimene und Arsinoe könne, ohne sie zusätzlich zu visualisieren mit einer Art von Damen-Sumo, in ihrer Wirkung verpuffen.

Das stumme Spiel der Darsteller war dieser Regie sehr wichtig und das ließ sich, siehe oben, durchaus ansehen. Alexander Frank Zieglarski als Philinte, Franz Lenski als Acaste, Andreas Müller als Clitandre und Friederike Duggen als Eliante nutzten den ihnen gegebenen Spielraum weidlich. Es wurde ein bissschen viel Flüssigkeit verspritzt und verschüttet. Dass der vermummte GSG9-Mann von hinten auf die Bühne stürmte, nun ja, dass er mit seinen Klettverschlüssen rang, ehe er das belastende Papier in der Hand hatte, nun ja. Susanne Kreckel nennt ihren Florian Kleine „du grüner Grobian“ und bietet ihm statt den Gang in die Wüste an, seine Frau zu werden, er möge zu ihr ziehen. Das muss 1968 und danach wohl die schlimmste Drohung für alle gewesen sein, die damals den vollzogenen zweiten Beischlaf in gleicher Zusammensetzung bereits als Übergang ins Establishment anprangerten. Wie wirkt das wohl heute auf junge Leute, die laut Zeitgeistjournalismus gehäuft gar den ersten Beischlaf wieder hinter den Gang zum Standesamt legen und sich dabei keineswegs schweinisch fühlen? Hat der Schweinestaat doch gesiegt? Wollte Stendal in der Altmark solche Antwort nahe legen?


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