Philipp Löhle: Wir sind keine Barbaren; Meininger Staatstheater

Ist es schon gut, wenn man sich’s eigentlich schlimmer vorgestellt hat? Ohne dass ich je eine Zeile von Löhle las außer denen, die er hie und da als Kolumnist der „Berliner Zeitung“ anvertraut, ohne dass ich je willens war, andere als diese prosaischen zu lesen, wusste ich, was „Wir sind keine Barbaren“ bedeuten will: Wir sind Barbaren. Es ist wie mit den anspruchsvollen Werken, die sich den Titel „Striptease“ umhängen oder „Pornomania“. Wir wissen immer: da zieht sich niemand aus und dort gibt es kein nacktes Schulterblatt. Diese Art von ambitionierten Überraschungen ist so abgenutzt wie Aldi-Fellpantoffeln nach einem Winter. Irgendwie wärmen sie zwar noch besser als alte Jesuslatschen, aber beim nächsten Angebot müssen unbedingt neue gekauft werden. Philipp Löhle, der geboren wurde, als ich meine erste Vaterschaft just zweieinhalb Monate genossen hatte, hat den Nachteil der West-Sozialisation: er brauchte zwei Jahre länger fürs Abitur und wird zur Strafe trotzdem der Generation Praktikum zugeschlagen. Die dort gemeinten Lebensläufe würde ich eher Würfelbuden-Biographien nennen, man lese nach und staune, Chamäleons sind altkonservative Farbenvertreter dagegen. Das verleitet auch dazu, Aktualitäten hinterherzuhecheln, als müsse jedes zweite Polittalk-Thema, das länger als eine Woche auf Sendung blieb, zum Bühnenwerk werden.
 
Löhle hat, das weiß ich wohl, in kaum mehr als zehn Jahren den Status „vielgespielt“ erreicht, was heute ja nur heißt: er hat unter den Intendanten etliche Follower und unter Kritikern, die nicht ewig nur Romane sehen wollen, sondern hier und da auch Stücke, die Stücke sind, dazu noch von spülmaschinenfestem Echt-Nachwuchs verfasst, ein Grundwohlwollen. „Wir sind keine Barbaren“ hatte seine Uraufführung 2014 in Bern. Richtig, da wogte noch keine Welle, da flutete noch keine Flut, es gab in der Schweiz nur eine Abstimmung und am Vorabend dieser Volksabstimmung gab Volker Hesse als Regisseur sein inszeniertes Statement ab. Eine Uraufführungskritik schrieb vom „Stück zur Stunde“ und halbwegs Eingeweihte wissen, was das heißt. Dieselbe Uraufführungskritik wusste auch, was das Wort „Barbaren“ eigentlich meint: Barbar ist, wer das Gastrecht nicht achtet und heiligt. Schwer zu sagen, welches Turbo-Abitur in der Eidgenossenschaft zu so viel Unwissen führt, immerhin setzte der Experte auch noch hinzu: Barbara sei ein zivilisationskritischer Name. Das zwingt mich zu einem Programmheftlob für Meiningen: dort weiß man, was Barbaren für die Griechen waren und druckt es einfach zutreffend ab. In meinem Lexikon der Heiligen ist Barbara solide vertreten, von Zivilisationskritik findet sich dort freilich kein Wort, eher was von Feuerwehr.
 
Das Stück ist ein Stück für vier Darsteller und einen Chor. Mir wird immer ganz mulmig, wenn ich von Chören lese in einer Zeit, da allerorten Furcht bis Ratlosigkeit herrschen, wenn es um antike oder pseudoantike Chöre auf Bühnen geht. Noch der experimentierwütigste Spielplan-Akrobat kommt nicht auf die Idee, neben allen „Kabale und Liebe“- und „Räuber“- Gymnastiken doch mal, probehalber, „Die Braut von Messina“ zu spielen, aber der Sprechchor totalitären Klassenkampfes auf der Straße der zwanziger Jahre, der erlebt fröhliche Urstände, was natürlich genau den falschen Parallelisierungen nachtrabt, die von definierter Seite gern geschichtsvergessen vorgetragen werden. Bleiben wir doch besser bei Löhle: Ein Hilfesuchender, der an zwei privaten Wohnungstüren klopft, durchnässt, wie wir vernehmen, kommt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weder aus einem Kriegsgebiet noch aus politischer Verfolgung. Löhle lässt das offen und tut klug damit. Je vager, je modellhafter, läuft das Bühnengeschehen; wir müssen nicht erst von Versuchsanordnungen reden, als wäre Theater nun der legale und legitimierte Ort für Menschenversuche. Wir müssen den uninformierten Eindruck nicht hinterlassen, als wären Yasmina Reza und Roland Schimmelpfennig die Erfinder derartiger Kammerspiel-Szenerien, in denen sich vorzugsweise vier Personen nicht etwa einen Autor suchen, sondern ihr unter einer glatten Oberfläche steckendes Wesen vorzeigen.
 
Wer auf den Bildungswegen I bis IV irgendwann einmal etwas von der Dialektik von Wesen und Erscheinung hörte, wird ohnehin nicht meinen, dass unter einer glatten Oberfläche ein notwendig ganz anderes Wesen findbar sein müsse, denn: Wesen hat etwas mit Zusammenhang zu tun. Gerät beispielsweise ein Mensch in einen für ihn völlig neuen Zusammenhang, dann offenbart er Wesen, das er ohne diesen Zusammenhang nie offenbart hätte. Das wäre dann aber nicht etwa eine gar böswillige Geheimhaltung eines Wesenszuges gewesen, sondern ein ganz normalen Fall. Nur im Nachhinein ist es möglich zu behaupten, dass das schon immer in ihm gewesen sei. Auch dafür gibt es klar definierte Begrifflichkeiten. Doch geht niemand in ein Theater, um dergleichen als eine Exerzitie zu erleben. Philipp Löhle weiß besser als mancher, was Publikum will und er kommt ihm nicht etwa herablassend entgegen, sondern wissend. Nur Kritiker und ein kleiner Teil des üblichen Premierenpublikums gehen (Achtung: Phrasenschwein!) zum Lachen in den Keller. Also erleben wir in „Wir sind keine Barbaren“ erst einmal die dialogisierte Kernsubstanz von „Reich mir mal den Rettich rüber“, bis dann das Fremde anklopft in Form des Fremden. Es ist der neue Zusammenhang, in den zwei Paare gestellt werden, manche nennen das vorschnell Bewährung. Da lauert ein Irrtum.
 
Das Meininger Kammerspiel-Publikum erlebt in der Ausstattung von Rimma Elbert eine leibhaftige Diplom-Arbeit. Also eine wankende Spielfläche mit ihrer, nun ja, vordergründigen Symbolik, vor einem Groß-Lamellen-Hintergrund. In die Spielfläche ist eine klodeckelförmige Klappe eingelassen, darin lassen sich Anja Lenßen mit lediglich gelupftem Kleid und Vivian Frey mit tatsächlich freigelegtem Hintern nieder, erstere erledigt das Ihre geräuschlos, letzterer drückt, weil sich das Seinige dem Freiplumps verweigert, wie ein Verstopfter. Zum Vergnügen des Publikums, sei verraten. Das Loch unter der Klappe muss später auch den Zugang zum Bunker symbolisieren, den Vivian Frey als Paul für sich und Linda (Melina Sánchez) baute, während bei Barbara (Anja Lenßen) und Mario (Björn Boresch) der Fremde Gastrecht genießt, den sie Bobo, er Clint nennt. Der Bunker ist so winzig, dass niemand hineinpasst. Ein Bunker innerhalb einer Wohnung, so viel nüchterner Realismus muss sein, ist bestenfalls via Keller im Erdgeschoss denkbar, das Meininger Konstrukt also eine absichtliche Fehlkonstruktion, soweit man von unten etwas hört. Natürlich ist physikalische Wahrscheinlichkeit keines der Themen des Abends in den Kammerspielen. Allerdings auch nicht die küchensoziologische Vorführung von guten Gutmenschen und bösen Bösmenschen.
 
Denn dies, und das muss mindestens mit der Überdeutlichkeit gesagt werden wie der Spielboden schwankt, wäre eine tendenzielle Beleidigung des Publikums. Damit ein Wort zum „Heimatchor“. Der setzt die Akzente überwiegend sehr grob, die wenigen Feinheiten im Chortext werden von dieser Hyperdeutlichkeit glatt verschluckt. Dennoch hat sich Regisseurin Annett Kruschke, die erstmals in Meiningen inszeniert, für die Auftritte des Chores sehr viel einfallen lassen. So viel, dass für die Auftritte der Paare nicht mehr viel übrig blieb. Die sehr junge Melina Sánchez begann unangenehm übermotiviert, wird aber schon bei der nächsten Aufführung ihren Ton sicher besser treffen. Anja Lenßen ließ sich, möchte man meinen, kurz anstecken, hatte dann aber nach der Pause als Barbaras Schwester Anna einen so starken Auftritt mit Gesang, dass ich glauben mag, den sehe ich noch vor mir, wenn ich den Rest längst vergessen habe. Es wird allerhand Packpapier direkt von der Rolle verknüllt, in das war der überdimensionale Flachbildfernseher eingewickelt, den sich Barbara zu ihrem Geburtstag nicht gewünscht hatte, ein Klapprad wäre ihr lieber gewesen. Später stirbt sie in einem nicht klar definierten Zusammenhang mit dem Fernseher, Kritiker früherer Inszenierungen wussten komischerweise am Ende, wer der Mörder war und wie es geschah.
 
Auf alle Fälle ist Barbara plötzlich weg und dann tot, und Anna taucht auf, die Aufklärung will. Außer ihr scheint sich niemand um den Fall zu kümmern, nur vom Hörensagen erfährt man, es müsse Bobo-Clint gewesen sein, aber Barbara fragt so eingehend nach dessen Motiv, dass auch der leiseste Verdacht sich in Luft auflösen würde, wenn er denn je fester gewesen wäre. Einmal sogar wackelte auch das Zuschauerpodium und es kam Dampf von unten nach vorn. Einmal mussten Unglücksraben und –räbinnen aus der erste Reihe mit dem Heimatchor tanzen. Für solche Fälle müsste man beim Europäischen Theatergerichtshof Warnhinweise der Intendanz einklagen. Was wäre, wenn einer mit Tanzallergie stürbe in der Bernhardstraße, ich zum Beispiel wäre sehr gefährdet, nach dieser hiermittigen Bekanntgabe könnte der Fall sogar als Mord ausgelegt werden oder als fahrlässiger Tötungsversuch mit Fernbleib-Folge. Ernst beiseite: Weil wir nicht unsere Wohnungen mit Hilfesuchenden füllen, sind wir auf alle Fälle nicht Barbaren, wir verweisen ja sogar unsere allerbesten Freunde auf die nächstliegende Pension, wenn unser Gästebett nicht für zwei, drei Erwachsene reicht. Erinnern wir uns an Bettina Schausten, die sogar ihre Gästebetten bei Freunden per Rechnung bezahlt. Sie würde das Bild einer Barbarin erfüllen. Was aber wenig hilft.
 
Von den Sätzen, die ich in mein Büchlein schrieb, nenne ich: „Ich als Köchin wäre total fett.“ Von den Wörtern „Seifen-Stuhlgang“. „Gut gemeint ist die kleine Schwester von Scheiße“ klingt besser als es ist, tückisch gut ist: „Wahrscheinlich legt Bobo auch die Eier, die wir essen.“ Witzig im klassischen Prosecco-Diskurs-Sinne ist die Alternative Hannibal oder Afrikaner, denn Hannibal war ein Afrikaner. Und selbst die Römer für die Griechen Barbaren. Die zweitschönste Szene nach dem Gesang der schönen Anna ist für mich die Selbst-Maskierung Pauls mit einer grauen Knetmasse. Das war zwar dramaturgisch vollkommen überflüssig, aber schön. Und wenn Theater ab und zu genau so ist, genau das tut, dann hat der Untergang des Abendlandes noch vierzehn Tage, drei Wochen Zeit. Am Ende hören Paul und Linda just das, was Barbara und Mario ihrerseits anfangs von ihnen hörten: Einzugssex ohne akustische Hemmschwelle. Es grüßt das Murmeltier. Martin halter schrieb anlässlich der Mannheimer Inszenierung von „Wir sind keine Barbaren“: Gewöhnlich entstehen die Stücke  des vielfach preisgekrönten Vielschreibers ebenso rasch, wie sie wieder vergehen; dieses wird in der nächsten Saison in Frankfurt, Dresden und Graz nachgespielt.“ 2018 ist also schon die fünfte Saison für diese Barbaren, die keine sind. Fehlen nur noch 400 Jahre. Wohin?
www.meininger-staatstheater.de


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