Sarah Kane: 4.48 Psychose; Landestheater Coburg

Nein, man muss nicht wissen, dass eine von 100 in 7er Schritten abwärts verlaufende Zahlenreihe ein gängiger Test ist in der Psychiatrie, um den kognitiven Zustand eines Patienten festzustellen. In Sarah Kanes mehr als nur leise sperrigem Text „4.48 Psychose“ gibt es die Zahlenreihe in reiner Form nur einmal: ziemlich gegen Ende und unvorbereitet wie unkommentiert. Man muss wissen oder bleibt ratlos. Weiter vorn gibt es eine erste ähnliche Zahlenreihe, die sich von der zweiten genau dadurch unterscheidet, dass sie die Siebenerschritte nicht einhält. Vielleicht damit eben genau die Störung anzeigend, um die es geht. Vielleicht auch absichtlich verstoßend, so Selbstkontrolle symbolisierend. Auf der Coburger Reithallen-Spielfläche zeigt ein kleiner Monitor rechts vorn, den man fast übersieht, einmal die 100 und dann noch die 93, mehr gab es entweder nicht oder ich habe es übersehen. Gegenüber den angekündigten 90 Spielminuten ohne Pause gab es in der dritten Aufführung schon zehn Minuten Schwund. Und im Gästebuch ein böses, natürlich anonymes Posting von Hand: „Ich habe es satt, mir von 3.klassigen präpubertären Schauspielstudenten sagen zu lassen, was Depression ist. Nein, einfach nein. Meine Oma bekommt jetzt Albträume.“

Präpubertäre Schauspielstudenten habe ich in Coburg keine gesehen, mehr als einen Satz, was eine Depression sei, auch nicht gehört. Woraus folgt, dass es über 80 Minuten hinweg tatsächlich mehr gegeben haben muss. Vielleicht gehört das pubertäre Posting-Baby ja zur Generation: Ich verstehe nichts, weiß aber trotzdem alles und vor allem besser. Vielleicht sollte Oma ihrem Enkel, wenn der Albtraum abgeklungen ist, angelegentlich sagen, dass Gästebücher nicht zwingend die Vorform asozialer Netzwerke für Hass-Performer sind. Doch zurück zu Sarah Kane. Wer sich das Stück als Text zumutet, hat unvermeidlich schon auf der ersten Druckseite ein heftiges Problem. Wie geht man damit um: „ein stabilisiertes Bewusstsein thront in einem abgedunkelten Festsaal nahe der Deckenwand eines Geistes dessen Boden schwankt wie zehntausend Kakerlaken wenn ein Lichtstrahl eindringt während alle Gedanken zusammenschießen für einen Moment im Einklang Körper nicht länger mehr ausgrenzt während die Kakerlaken eine Wahrheit umschließen die keiner je ausspricht“. Ich gebe zu, dass ich nach so etwas normalerweise nicht weiter lese. Regisseur Axel Sichrovsky lässt mit genau diesem Was-Eigentlich den Abend beginnen. Wohlan, denn, heißt das.

Man kann natürlich nach reichlich zweieinhalbtausend Jahren Theatergeschichte fast beliebige Aussagen formulieren, was als conditio sine qua non eines Theaterabend gelten soll, also, für alle, deren kleines Latinum schon etwas länger zurückliegt: als Bedingung, ohne die es nicht geht. Es wird nur eine geringe Zahl Theaterfreunde geben, die Unverständlichkeit, unsinnliche Abstraktheit, Hermetik, Irrationalität fordern, um ihren Eintritt als wohl abgegolten zu betrachten. Ein Schuh, der einem wegen nicht vorhandener Passfähigkeit Schmerzen bereitet, wird dem Fuß nur schwer als Herausforderung zu vermitteln sein. Oder wäre das dann modern, verstörend, zur Kenntlichkeit entstellend? Der 1941 geborene Regisseur Matthias Langhoff, Sohn von Wolfgang Langhoff, ließ sich 2011 in der Berliner Zeitung mit dem Satz zitieren: „Ich denke, dass die Gesellschaft des Perikles moderner war als die heutige afghanische, und auch, dass die Stücke des Sophokles moderner sind als dieses jahrhundertealte Zeug von Sarah Kane oder Botho Strauß.“ Nun ja, mehrere Jahrhunderte Alter würde ich für Sarah Kane vielleicht nicht gleich veranschlagen, aber wer mit einem Bezug zu Büchners „Woyzeck“ aufwartet, an expressionistisch-dadaistische Bühne gemahnt und die Schockwirkungen von Gottfried Benns „Morgue“-Lyrik recykelt, ist kaum neu.

2018 ist der Umstand, dass Sarah Kane sich am 20. Februar 1999 das Leben nahm auf dem Höhepunkt eines jener depressiven Schübe, wie sie auch in ihrem fünften und letzten Stück eine zentrale Rolle spielen, kein Geheimnis mehr. Allerdings ist die Berechtigung, „4.48 Psychose“ als vor allem autobiographisch zu sehen, seit ihrem Tod keineswegs größer geworden und damals waren es gewichtige Stimmen, die genau davor warnten. Axel Sichrovsky hat solche Warnungen nicht nur tapfer in den Wind geschlagen, er hat auch den Vornamen Sarah in seine Spielfassung geschmuggelt, der im Stücktext eben nicht vorkommt. Ich bezweifle, dass das der Coburger Inszenierung geholfen hat. Schon nach wenig mehr als zwanzig Minuten Spielzeit verrät der Regisseur mit der Einführung gerade dieses einen Namens, dass er dem Text von Sarah Kane nicht vertraut. Die gesamte Inszenierung ist, könnte man sehr zugespitzt, und damit von Ungerechtigkeit bedroht, sagen, ein Verzweiflungsakt gegen den nicht spielbaren Text. Alles, was der Zuschauer in der Coburger Reithalle von seinem frei wählbaren Platz aus sieht und erlebt, ist Zutat. Will allen Ernstes jemand behaupten, ein Bühnentext, der nur durch Zutaten überhaupt bühnenfähig wird, sei zwangsläufig ein besonders bewundernswertes Werk? Sarah Kane macht uns zu Voyeuren.

Sarah Kane lässt uns einem verzweifelt um Ausdruck dieser Verzweiflung ringenden Leben im Landeanflug auf den Selbstmord zuschauen. Die Splatter-Fantasien ihrer ersten Stücke sind für sie wohl abgearbeitet, die Entsinnlichung des Textes mit „Gier“ noch nicht weit genug vorangetrieben, nun also ein „Endspiel“, durchaus in Verweisung auf Beckett so zu lesen und zu sehen. Was macht eine Regie mit diesem Text? Axel Sichrovsky folgt hinsichtlich der Verteilung auf drei Darsteller, zwei Frauen, einen Mann, dem Regisseur der Uraufführung, James Macdonald. Es gab später auch zwei Männer und eine Frau, einen Mann und eine Frau, es gab auch eine Monolog-Fassung. Immer aber gab es das Problem der Versinnlichung: Abstrakter Text muss konkrete Aktion, sinnliches Bild werden, die Aussagen der Autorin im Text, was Metapher sei und was nicht, sind kaum hilfreich. In Coburg entsteigt eine Gestalt einer ohne sonstigen Sinn auf der Bühne herumstehenden Badewanne und sieht ein wenig aus wie ein Harlekin. Es ist Gustavo Strauß mit seiner Geige und er ist natürlich kein Harlekin, sondern - eine Kakerlake. Karin Ellmer agiert als Live-Zeichnerin, es gibt Spiegeleffekte, Kamera-Effekte, ein Mikrofon, das von Hand zu Hand wandert. Und so weiter.

Denn mit der Verteilung auf drei Darsteller, Eva Marianne Berger, Solvejg Schomers und Valentin Kleinschmidt, hat die Regie eine Festschreibung unternommen, die sie von Beginn an sehr zielstrebig sofort wieder unterläuft. Das ist nahe beim Text. Den alle drei – ganz unstudentisch – sehr professionell, sehr variabel in Tonlage, Intensität, Lautstärke vortragen. Am stärksten sind sie für mich, wenn sie, dem Stück natürlich hinzugefügt, dreistimmig singen. Und wir alle wollen froh sein, dass „4.48 Psychose“ von Hause aus ein englisches Stück ist, denn die neue Mode, immer länger werdende Passagen in Originalsprache vorzutragen und mit Popmusik-Titel just dieser Sprache aufzuhübschen, wäre bei japanischen oder chinesischen Stücken sicher ein Fluchtgrund aus dem Haus, ohne Obertitel. Von einer Handlung auf der Bühne ist nichts zu berichten, denn es gibt keine, von Figuren kaum mehr, denn sie sind nur wegen der Spielbarkeit angenommen. Und auch eine saftige Streichung hat Axel Sichrovsky vorgenommen: knapp zwei Druckseiten enthalten nichts als eine Verben-Folge in wechselnder Reihung, das war dann offenbar doch zu viel an Nervtötungs-Potential. Dafür fügte er lange Packungsbeilagen-Texte ein über Nebenwirkungen.

Was noch an applizierter Optik (Bühne und Kostüme Katrin Wittig)? Jene Medikamente, farbig, übergroß, Psychopharmaka, deren sedierende Wirkung just um 4.48 Uhr aufhört und dann bis zur nächsten Medikamentengabe 72 klare Minuten ermöglicht (die konkrete Zeitangabe ist von Sarah Kane selbst dokumentiert für die eigenen Behandlungen in den Klinken, die sie aufsuchen musste). Die Kostüme sind, bei dieser Textvorlage nicht anders denkbar, pure Willkür, sie hätten auch ganz anders aussehen können ohne Wirkung auf das Spiel. Die Einbeziehung von Publikum (vorausgewählt), das sich auf Matten legen soll, der Texteinstieg dazu von Rüdiger Hofmann entlehnt, alles Zugabe, nicht vorhandene Bühnenwirksamkeit eines Textes zu substituieren. Das gelingt, ich will es gar nicht verheimlichen, auf durchaus ansprechende Weise. Auf überzeugende nicht, dann das hätte eine notwendige Beziehung zur Voraussetzung, die der Text schlicht nicht erlaubt. Mut zu Sarah Kane muss heute sicher niemand mehr haben oder wenn, dann nur als Mut zur Wiederbelebung von den nächsten Modewellen überholter Avantgarde von vorvorgestern.
www.landestheater-coburg.de


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