Schiller: Wilhelm Tell; DNT Weimar
Für Knechte ist die neue Inszenierung von Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ in Weimar nicht geeignet. Die ihnen gewidmete Pointe aus dem Munde des Ulrich von Rudenz ist gestrichen. Das darf angesichts allgemein verbreiteter Furcht vor Schiller-Pointen, die fast noch größer ist als die Furcht von den geflügelten Worten des einschlägig vorbelasteten Klassikers, als beinahe lässliche Sünde gelten. Zumal Regisseur Jan Neumann für diese geballte Ladung Spruchbeutel, aus Kreisen der Schiller-Statistik verlautet, es handle sich um die größte zusammenhängende Zitaten-Ader im Flöz seines Dramenschaffens, sich etwas besonderes ausdachte. Er lässt zu Beginn des Abends zwei seiner Darsteller, Krunoslav Šebrek und Nahuel Häfliger, auftreten wie Akteure der von 1993 bis 1998 seltenen Glanz ins Privatfernsehen gebracht habenden Comedy-Show RTL-Samstagnacht. Alles riecht nach Hardcore-Parodie. Es geht um Apfelsorten, um Apple – warum nur liegt das Naheliegende tatsächlich immer so grausam nahe – um Naschibirnen und KZ3, Dart-Pfeile werden geworfen, in Schwyzerduetsch kommt die Liebe der Eidgenossen zu ihren Waffen zur Sprache. Und dann wie aus dem Schnellfeuerhals die Zitate, eine Endlossalve, bis das Magazin geleert ist.
Kann nach solchem Beginn noch Schiller kommen? Er kann. Das ist die Überraschung des Abends, der inklusive Pause gut drei Stunden dauert. Dessen eigentliche Leistung ich gern darin sehen will, dass hier ein kluger und sensibler Kopf mit dem Stück und in dem Stück zugleich seine reiche Inszenierungs- und Deutungsgeschichte auf die Bühne bringt. Um das auch gleich zu sagen: „Wilhelm Tell“ stellt in Weimar, dem Ort der Uraufführung, dem Ort, an dem Ernst Hardt (1876 – 1947) das Theater zum Deutschen Nationaltheater erklärte und am 19. Januar 1919 mit „Wilhelm Tell“ eröffnete, keine anderen oder gar höhere Anforderungen an eine Inszenierung als irgendwo sonst. Alles andere würde bedeuten, dass in Bremerhaven oder Zittau oder Augsburg weniger gefragt wäre. Schlechter gespielt werden dürfte, einfallsloser inszeniert. Nein, das ist ebenso Unfug wie die im Programmheft anklingende Überzeugung, am Weimarer Tell-Wesen müsse nun aber zwingend die deutschsprachige Theaterwelt genesen. Es geht gerade nicht um Deutungshoheit, die, von wem auch immer, zurückzugewinnen wäre. Wohl aber um Beispielhaftigkeit für eine in ihrer Besonderheit überzeugende Lesart des „deutschesten aller Schauspiele“ (Reinhard Buchwald).
Es mag Menschen geben, die überrascht sind zu hören, dass die Tell-Sage erst aus Dänemark in die Schweiz kommen musste, nachlesen lässt sich das seit langem. Nur betont wird es aus halbwegs durchsichtigen Gründen erst jetzt, als sei es eine Entdeckung und brauchbar im Kampf gegen alles, was eben gerade zum Bekämpfen auf den To-Do-Listen aller Guten und Vielen steht. Genauer angeschaut, hat Saxo Grammaticus natürlich keine Tell-Sage niedergeschrieben in seinen dem Vorbild der lateinischen „Gesta Romanorum“ folgenden „Gesta Danorum“, sondern eine von einem Mann und einem Schuss auf ein sehr besonderes Ziel. Man könnte, weil der Däne etwa von 1160 bis 1210 lebte und der „Rütli-Schwur“ ins Jahr 1291 fällt, der Weimarer Inszenierung sogar eine spezifische Historizität unterstellen, denn Schafe, die bei Jan Neumann eine akustische Hauptrolle ausfüllen, hatten nur im frühen und im Hochmittelalter ihre große Zeit in der Schweiz, bereits im Spätmittelalter übernahmen Rinder die klare numerische Vormacht: heute steht ein Schaf fünf Kühen gegenüber in der Eidgenossenschaft. Die Hirtenlieder, die Friedrich Schiller fürs Kolorit seines letzten vollendeten Werkes vorsah, heißen nicht umsonst „Kuhreihen“, nicht „Schafreihen“.
Das Schaf aber, respektive das Lamm, spielt als Fabeltier eben eine andere, eine benutzbarere Rolle in der einschlägigen Mythologie. Und so hören die Theatergänger in Weimar in der ansonsten genüsslich gegen alle Striche gebürsteten großen Eingangsidylle, die vom verfolgten Baumgarten zerstört wird, viele „Mäh“ und am Ende wieder viele „Mäh“. Man darf sich vorstellen, wie ein passenderes „Muh“ wirken würde. Doch man kennt halt nur Wölfe in Schafspelzen und keine im Kuhfell. Und man kennt, heute jedenfalls, Shawn, das Schaf. 1919, fast auf den Tag hundert Jahre vor dieser Premiere, die das Pech hat, wegen der vorher gezeigten „Trutz“-Premiere nach dem Roman von Christoph Hein mit Doppelbesprechungen bestraft zu werden, spielten laut Programm 47 Darsteller 50 Rollen. 2019 spielen sieben Darsteller und zwei Darstellerinnen 26 Rollen, eine davon gibt es bei Schiller nicht: Frau Stüssi. Die herbsten Verluste sind in Weimar unter den Landleuten aus Schwyz und Unterwalden zu verzeichnen, je fünf von ihnen fehlen, aus Uri ist nur Petermann der Sigrist gestrichen. Tells Sohn Walter (Nicolai Šebrek) fehlt der Bruder Wilhelm. Dafür aber verliebte sich das Premierenpublikum in diesen Walter von dessen erstem Auftritt an.
Und spendete ihm nach den drei Stunden immer wieder emphatischen Beifall. Und den verdiente er sich keinesfalls nur mit seinem herrlichen Schluckauf, sondern eben mit Text und Spiel. Das war keine kindliche Sprechpuppe, das war, noch im improvisierten Zusammenspiel mit dem leiblichen Vater Krunoslav an der Rampe, einfach nur schön. Verblüffender aber als der Umstand, dass die Hälfte aller Rollen gestrichen wurde, dass ein echtes Alphornensemble auf der Bühne agierte, war die Vervielfachung des Reichsvogts Gessler. Im Personenverzeichnis des Programmheftes steht er nicht weniger als sechsmal, bis auf Krunoslav Šebrek und Sohn Nicolai sind alle irgendwann einzeln oder gleichzeitig Landvogt. Sein Gessler-Hut, den zu grüßen er zur Pflicht erhob aus purer Machtwillkür und nicht ahnend, dass genau das eine todbringende Idee für ihn selbst wird, ist rot und sieht wie ein Basecap aus. Mit einer solchen auf dem Kopf fallen schließlich sechs Gessler in der Hohlen Gasse zu Boden, niedergestreckt von einem einzigen Armbrustpfeil, den Tell erst abschießt, als Bäuerin Armgard in allerhöchster Gefahr ist. Die Überhöhung der Figur, immer wieder ins Bild gesetzt, ist hier eine buchstäbliche, sonst die symbolische, die zu Heil-Rufen führt.
An einer Stelle hat Regisseur Jan Neumann das Geschehen der Schiller-Handlung ins vollkommen Absurde gedreht und genau damit eine Frage an den Text gerichtet, auf die dieser keine Antwort parat hält. Es ist das Treffen der Abgesandten auf dem Rütli: die Verhandlungen dort, das mühsame Finden eines Schwurtextes demontieren die Idealisierung, die der Dichter, seinen Grundsätzen damit sehr genau folgend, vornahm. Neumann wendet alles ins platt Reale, weil er weiß, dass solche Bündnisse natürlich so zustande kommen im wirklichen Leben wie auf dieser Theaterwiese oberhalb der Urner Sees. Und er lässt keinen Gag aus, genau das bis in jene Lächerlichkeit, die eben auch dazu gehört, vorzuführen. Mal fehlt ein Stimmzähler, dann werden nacheinander diverse Formeln und Schwüre ausprobiert vom Olympischen Eid bis zum DDR-Bekenntnis, vom in Weimar eher unvertrauten Pfadfinder-Versprechen bis zu Gondor aus der Tolkien-Welt. Es lachten nie alle, weil nie alle ahnten, was gemeint sein könnte. Die absolute Mehrheit lag bei 523 Stimmen. Es lachten auch nicht alle, als erstmals der alte Freiherr von Attinghausen seinen Auftritt hatte, bedient und begleitet von einem Kopftuchmädchen, das es bei Schiller natürlich auch nicht gibt.
Die Bühnen-Schweizer Schillers, die den Tyrannenmord Tells zum Signal ihrer Eroberung der Freiheit machen und nutzen, Zwing-Uri fällt unsichtbar, igeln sich anschließend ein, Regisseur und Bühnenbildner (Oliver Helf) finden ein eindrucksvolles, fast zu eindrucksvolles Bild: sie drängen sich zwischen Absperrgittern und hinter Stacheldraht zusammen wie eine Schaf-Herde - voller Furcht. Wie in einer Wagenburg ohne Wagen. Man soll natürlich an die Parole (und vielleicht den Film) „Das Boot ist voll“ denken, die neueren Schweizer waren nicht ohne weiteres zu bewegen, ihre Freiheit, ihre Freiheiten mit anderen zu teilen. Und selbst uns Deutschen sind sie ja keineswegs nur wohlgesonnen, wenn wir, weniger ihre Freiheiten als ihre sensationellen Löhne und Gehälter nutzen wollend, die vielen Stellen besetzen, die tatsächlich an fast jedem Schweizer Zaun ausgeschrieben sind, Statistiken über den Prozentsatz deutschen Akademiker sprechen Bände. Und auch das verrät die Inszenierung in einer hübschen Wendung: die Bauarbeiter, die sich eben noch lustig machen über den Hut, den sie grüßen sollen, kuschen umgehend, als ihr Eigentum bedroht ist. Ein gewisser Marx sprach nicht sehr lange nach Schiller vom Primat der Eigentumsverhältnisse.
Gut möglich, dass der zweite große Auftritt des Freiherrn von Attinghausen (Stefan Kowski in einer seiner vier Rollen), nämlich als er, nach vorn Richtung Rampe kriechend davon spricht, dass seine Zeit abgelaufen sei, die Herzen manches ehemaligen Staatsbürgerkunde-Lehrers der DDR noch immer höher schlagen lässt. Denn just dies vernahm man einst als Botschaft Schillers vom nahen Ende der Klassengesellschaft, vom Kommen klassenloser Verhältnisse. Weniger liebte man nicht nur in der DDR, sondern schon seit Goethes und Ifflands Zeiten, die so genannte Parricida-Szene am Ende, die Schiller buchstäblich mit Zähnen und Klauen verteidigte und die dennoch wieder und wieder gestrichen wurde. Jan Neumann hat sie nicht nur nicht gestrichen, er hat eine Spiellösung gefunden, vor der ich den Hut bis auf die Erde zöge, trüge ich einen solchen. Er lässt Krunoslav Šebrek mit sich selbst reden, seine Hände wie Puppen benutzend, eine blutig, eine sauber – und dann sind plötzlich beide blutig. Das ist, bitte schön, großes Kino, das muss einem erst einmal einfallen. Ich habe, als ich Neumanns „Baumeister Solness“ in Weimar sah, etwas leichtsinnig behauptet, es lohne sich wieder, ins DNT zu gehen. Ich schränke ein: auf alle Fälle zu Neumann.
Ansonsten werden in Weimar wie überall einfach zu viele Romane auf die Bühne gehoben. Hier, in Schillers „Wilhelm Tell“, sind drei Figuren weitestgehend unverfremdet geblieben. Das darf auffällig genannt werden: es sind Frauenrollen. Gertrud, Stauffachers Gattin (Isabel Tetzner), die ihn so sehr motiviert und anstachelt, dass er (Max Landgrebe) auf dem Rütli bis zum Parolen-Schreihals mutiert, Hedwig, Tells Gattin (Nadja Robiné), die genau umgekehrt auf Mäßigung dringt, die nicht fassen will, dass er, Tell, auf den eigenen Sohn zielte. Das scheint komplementär schon bei Schiller angelegt: die starke Frau, die bestimmt, die Frau des starken Mannes, die sich zurücknimmt, ohne freilich damit Schwäche zu zeigen. Berta von Bruneck (auch Isabel Tetzner) ähnelt in manchem Stauffachers Gattin. Ihr Zusammenspiel mit Ulrich von Rudenz (Nahuel Häfliger) ist als lockerndes Kammerspiel angelegt, am Skihang produzieren beide einige Lacher. Und sie jodeln. Und natürlich ist nicht jeder Gag von gleichem Niveau wie das Loriot-Zitat „Krawehl, krawehl!“ Der Moment, da Tell die Perücke tauscht gegen eine Che-Kappe, eine Batman-Maske, eine IS-Kämpfer-Haube, prägt sich ein. Auf alle Fälle vorläufig. Wie die Fahnen.
Auf das Verspeisen einen ungesalzenen Hutes verpflichte ich mich nicht für den Fall, dass ich mich täusche. Ähnelte das helle Blau der zum Ende geschwenkten Fahnen nicht sehr stark jenem AfD-Blau? Wurde der Freiheitsruf genau deshalb kalkuliert leiser, das Heil-Gebrüll lauter? Wer je sich rund um den Urner See bewegte, kennt all die Tell-Stätten dort, auch die Platte, auf die Tell sprang, als ihn der Landvogt in die wohl für ewig gedachte Kerkerhaft bringen wollte. Die Schilderung des Geschehens, die Krunoslav Šebrek davon gibt, zeigt den Starken auch in Abhängigkeit von Moment und Umständen, Schiller war das sehr wichtig, in Weimar blieb es spürbar. Im Juni 1914 schrieb der SPD-nahe Kritiker Rudolf Franz (1882 - 1956) für seine heute nurmehr zeitgeschichtliche Sammlung von Besprechungen Bremer Theateraufführungen der Jahre 1910 bis 1914 das Vorwort. Vor dem Krieg also war er bei „Wilhelm Tell“ sich sicher: „Dass dieses Stück im Pragmatischen wie in der Tendenz ein historischer Unsinn ist, wurde bald schon erkannt.“ Dass Kritiker zu allen Zeiten auch Unsinn schreiben, ist keine neue Erkenntnis. Zehn Jahre nach dem Märki-Tell aus Weimar ist der Neumann-Tell voller Sinn und nicht nur gut für eine „Woche der Demokratie“.
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