Brecht: Der gute Mensch von Sezuan; Theater und Orchester Heidelberg

Als der ungarische Regisseur Victor Bodó geboren wurde, lief die heute legendäre Benno-Besson-Inszenierung von „Der gute Mensch von Sezuan“ schon volle acht Jahre in Ost-Berlin. Ein Brecht an der Volksbühne oder anders gesagt, nicht am Berliner Ensemble, war 1970 noch eine Sache, die besondere Erwähnung verdiente. Als Ernst Schumacher, der aus Österreich kommende Brecht-Experte und Theaterkritiker, sich 1979 von dieser Inszenierung verabschiedete, vergaß er nicht, eigens darauf hinzuweisen, dass Ursula Karusseit, die Shen Te Bessons, die Rolle 149mal gespielt hatte, darunter auf etlichen Gastspielreisen, auf denen der Kritiker das Ensemble begleiten durfte, längst eine fast ausgestorbene Praxis. Im Jahr 1978, als der ungarische Regisseur Victor Bodó geboren wurde, gastierte das Moskauer Theater an der Taganka in Ost-Berlin mit einer Juri-Ljubimow-Inszenierung von „Der gute Mensch von Sezuan“, die in Moskau seit sage und schreibe 15 Jahren lief, 600 Aufführungen hinter sich hatte. Dem Ost-Berliner Kritiker Günther Cwojdrak kam sie dennoch frisch und wie neu vor. Und „Der gute Mensch von Sezuan“ läuft jahraus, jahrein, landauf, landab bis heute, Regisseure sämtlicher Geschlechter fühlen sich von ihm herausgefordert.
 
Dass das für das Stück spricht, liegt auf der Hand. Das Programmheft aus Heidelberg zitiert unter anderem auch den Österreicher Peter Handke (Jahrgang 1942), der seine Abneigung gegenüber Brecht hübsch frei bekennt, selbst aber nie auch nur ein einziges Bühnenwerk zustande brachte, das an Lebendigkeit und Langzeitwirkung auch nur in die Nähe sehr vieler Brecht-Werke kam. Sein überschaubarer Fanclub dankt ihm wohl noch heute ausdauernd seine „Publikumsbeschimpfung“ und seinen kalkulierten Skandal mit der Gruppe 47, doch die schier endlose Reihe seiner Werke und Bücher aus den 50 Jahren seither lebt außerhalb des feinen Feuilletons kaum mehr als ein stilles Schattendasein. Ob, wie Handke meint und das Programmheft das Zitat beendet, Brechts Werke tatsächlich „ergreifende Weihnachtsmärchen“ sind, weil sie ihm „eine Einfachheit und Ordnung zeigen, die es nicht gibt“, kann hier nicht ausdiskutiert werden. Unter die 250 klügsten Aussagen Handkes rechne ich diese jedenfalls nicht. Ganz unmärchenhaft lese ich in „Der gute Mensch von Sezuan“ sogar Sätze, die den weithin verpönten Neoliberalismus in direkte Beziehung zu dem bringen, was in der Honecker-DDR „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ genannt wurde.
 
Beides erlebte Brecht nicht, was auch wieder für ihn spricht. Ich plädiere dafür, das Parabelstück um Shen Te, Sun und Wang, den Wasserverkäufer als eine Langfassung dreier prominenter Passagen aus der „Dreigroschenoper“ zu lesen und zu sehen. Die erste kommt aus dem Mund von Mac: „Das eine wisset ein für allemal: / Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt / Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Die zweite kommt aus dem Mund von Peachum: „Ein guter Mensch sein / Ja, wer wär’s nicht gern? / Sein Gut den Armen geben, warum nicht? / … /Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär’s nicht gern? / Doch leider sind auf diesem Sterne eben / Die Mittel kärglich und die Menschen roh.“ Die dritte Passage ist die „Ballade vom angenehmen Leben“, die gleich noch die ganze Situation nach der deutschen Wiedervereinigung mit den ihre folgenden Millionen von Arbeitslosen erfasst: „Was hilft da Freiheit? Es ist nicht bequem / Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“ Auch das erlebte Brecht nicht und wieder spricht es für ihn. „Der gute Mensch von Sezuan“, das hat Hans Mayer schon 1964 deutlich aufgezeigt in einem Vortrag in Pforzheim, weist auf den guten Menschen Woyzeck bei Büchner zurück und demontiert Illusionen.
 
Wir sehen in dieser Inszenierung, die schon bei ihrer Premiere am 29. September 2017 in Heidelberg Kritikerbegeisterung auslöste, gerade keine Vereinfachungen, keine Bügeleien, auch keine immanente Textkritik: im Gegenteil: Victor Bodó vertraut dem Text. Wer das Textbuch auf den Knien gehalten hätte, wäre auf keine dummen Eigenmächtigkeiten gestoßen, wie sie das Selbstwertgefühl auch mancher namhafter Regiemeister oft konstituieren. Die Bühne von Lörinc Boros hält alle Mitspieler mit kleinen Ausnahmen ununterbrochen im Bild, alle haben, wenn sie nicht gerade selbst agieren, Aufgaben zu erfüllen auf den rechts und links stehenden Bänken, sie bedienen Instrumente, erzeugen Geräusche, sprechen chorisch Texte mit, wechseln bisweilen auch ihr Kostüm. Das alles sehr kunstvoll, sehr stimmig. Ganz zu Beginn spannt Hans Fleischmann als Wang das erwartungsvolle Publikum arg auf die Folter: er liegt und liegt und liegt vorn auf der Bühne, ehe er endlich das Wort zu seinem ersten Monolog nimmt. Ein schlichter Kniff erzeugt Heiterkeit: die drei Götterdarsteller Blanka Mészáros, Béla Mészáros, und István Danko, als Gäste aus Budapest nach Heidelberg geholt, mixen Brecht-Text mit heimatlich-ungarischem Idiom.
 
An dieser Stelle wird gern die Formulierung genutzt: Die Geschichte ist rasch erzählt. Nimmt man die Behauptung beim Wort, stellt die rasch erzählte Geschichte in ihrer jeweiligen Wortwerdung nebeneinander, ist man schon nach der zweiten, spätestens nach der dritten Fassung vollkommen verblüfft: Jeder/jede hat scheinbar ein anderes Stück gelesen. Ganz links wird Kapitalismuskritik gesehen und nichts als dies, die schmarotzende Mischpoke, die sich in Shen Tes Tabakladen einnistet und alles kahl frisst und säuft, was nicht bei drei sicher verwahrt wird, wird gedeutet als ausgebeutete Arbeiterklasse, was sie wahrlich nicht ist. Andere sehen Ewigmenschliches, je nach der selbst gewählten französischen Basis-Philosophie des eigenen Welt-, sprich Tunnelblick-Bildes. Man kann dem Brecht in diesem Stück ja weder seine Theorie des epischen Theaters um die Ohren hauen, die ihm selbst nur in der Theorie wirklich wichtig war, noch kann man ihn eines nicht zu verzeihenden Realismus bezichtigen, ein Parabelstück ist ein Parabelstück, das passt im Westen fast besser als im Osten, es kommt ohne ordnende Parteisekretäre aus. Wie sinntragend selbst die gesuchten chinesischen Namen sind, hat vor Jahren Stephan Bock in einem dicken Buch gezeigt.
 
Also: da ist ein Wasserverkäufer, was, aufgemerkt, auf einer Zeit vor Wasserleitungen deutet. Der erwartet Götter und die kommen auch. Die Bürger der Hauptstadt der Provinz Sezuan aber, auf die der Wasserverkäufer Zugriff hat (eine winzige Gruppe, nüchtern betrachtet), die finden Ausreden, um die Götter nicht beherbergen zu müssen. Merke: man erwartet sich nichts oder nichts mehr von Göttern. Nur die Prostituierte Shen Te ist bereit, den dreien, die keine heiligen Könige sind und auch nicht aus dem Morgenlande kommen, ein Nachtquartier zu geben. Sie outet sich am anderen Morgen und die Gäste reichen ihr nach kurzer Beratung tausend Silberdollar: mitten in China. Da gab es also noch kein Gezeter um Leitwährungen. Shen Te kauft sich einen Tabakladen, der Kauf beinhaltet Merkwürdiges: Sie muss trotzdem Miete zahlen und zwar nicht an die Verkäufer, sondern eine dritte, eine weibliche Person, sie hat das Inventar offenbar nicht mit gekauft, ein Schreiner erscheint und will für seine Stellagen unverschämt viel Geld. China eben, möchte man glauben, da fallen eben doch nicht nur Säcke voll Reis um auf den Bahnhöfen. Noch sind die Stellagen im Laden nicht voll, da füllen ihn schon Menschen, die Shen Te ausnutzen wollen und es schamlos tun.
 
Shen Te lernt einen Mann kennen, der sich eben aufhängen möchte, in Heidelberg und nun beim Gastspiel in Meiningen möchte er sich in einen Abgrund stürzen. Es ist ein arbeitsloser Flieger, der vermutlich meint, eine ehemalige Prostituierte kann man männlich ausnutzen, ohne ein Gewissen dabei zu betätigen. Der Flieger hat eine Mutter, die mit ihrem Tun und Reden zeigt, wie wenig weit selbst im fernen Osten die Äpfel von den Birnbäumen fallen. Wo ich bin, ist vorn, heißt die Devise, nur ohne den Zusatz, ich kann leider nicht überall sein. Gute Taten sind immer berechnende Taten in dieser Welt, man biedert sich an, man schleimt sich ein. Manchem gefallen solche Welten auf Bühnen nicht, die beschimpfen dann den, der sie erschuf, nicht die Welt. Seitdem der Kapitalismus scheinbar für immer und ewig alternativlos ist, kann man vom Bauplan der Welt faseln, als hätte die irgendeiner geplant, wie sie ist. Hat er aber nicht. Man sollte immerhin anmerken, dass dieser alte Augsburger namens Brecht eben nicht nur auf Georg Büchner schaute, sondern, unter anderem eben auch auf diesen Goethe und sein Sockel-Gedicht „Das Göttliche“: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut …“. Das unterscheide ihn, so Goethe von allen Wesen, die wir kennen. Auch von Göttern?
 
Dann war da noch Immanuel Kant in Königsberg, der Mann, der sich Bewegung verschaffte in seinem Haus, indem er dort Seile spannte, die ihm den kürzesten Weg verwehrten (so dachte er auch) mit seinem kategorischen Imperativ. Die Hürden, die diese Herrschaften im moralischen Raum aufstellten, waren (und sind) so hoch, dass man gar nicht kann, als sie zu unterlaufen. Der Brecht zeigt das und nimmt so an einem Diskurs zwischen den Zeitaltern, den Weltbildern und auch seinem eigenen Selbstbild teil. So gesehen, ist „Der gute Mensch von Sezuan“ ein grandioses und zugleich grandios einfaches Stück, das muss einer erst einmal hinkriegen. Shen Te greift den Strohhalm, den ihr die Schmarotzer hinhalten, die weiteren Schmarotzern natürlich den Weg verbauen wollen, zögern, aber dankbar auf: sie erfindet einen Vetter Shui Ta, in den sie sich selbst nach Lage und Bedarf verwandelt. Es ist nicht das gute gegen das böse Prinzip, es ist, schrieb jemand, das gute gegen das realistische Prinzip. Sehr richtig. Denn nicht nur die SED erkannte spät und aus heutiger Sicht viel zu spät, dass man nur verteilen kann, was man erwirtschaftet hat, im Raubtierkapitalismus unter seinem sozialstaatlichen Jäcklein-Decklein wusste man das längst.
 
Wohltaten stellen ruhig, erkannte einst Bismarck, als andere noch den Klassenkrieg wollten. Wer darauf folgert, man müsse Wohltaten verhindern, um die Lust auf diesen Krieg heiß zu halten, der ist vermutlich nach einem viel zu heißen Bad vom Wickeltisch gefallen, ohne dass das Jugendamt eingriff. Victor Bodó führt alles vor, er lässt seinen Figuren Individualität in ziemlich genau dem Maß, das der Brecht-Text: einige Figuren sind eindimensional gewollt und erscheinen so, der Barbier etwa scheint seine eigenes Klischee seit Jahren zu reproduzieren. Lisa Förster nimmt das Angebot ihrer Doppelrolle als Shen Te und Shui Ta an, bleibt von Beginn bis Ende eindrucksvoll. Benedict Fellmer als Yang Sun, der Flieger, gibt weder gute Schale, harter Kern, noch umgekehrt, er ist beides. Nicole Averkamp als Witwe Shin wie auch Katharina Quast als Frau Yang zeigen zwei weibliche Charaktere von höchstem Interesse, nur hat eben Brecht selbst ihnen mehr Scheinwerfer nicht gegönnt. An einer Stelle gibt es Szenenapplaus der besonderen Art: während der Vorfeier für die Hochzeit fliegen Büchsen mit akrobatischer Präzision quer über die Bühne: nur eine fällt, ob Absicht oder Panne, wage ich nicht zu entscheiden, das Publikum klatscht, begeistert, ohne Häme.
 
Als Nachspiel auf der Bühne gibt es einen Epilog. Er enthält jene Passage, die über etliche Jahre hin, nämlich die Jahre des von Marcel Reich-Ranicki geleiteten „Literarischen Quartetts“ die mit Abstand bekanntesten Brecht-Worte waren, von denen sicher eine sehr große Zahl der Fernseh-Zuschauer eben nicht wusste, von wem sie stammten: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“. Der Epilog fragt nach einer Lösung: „Wir konnten keine finden, nicht einmal für Geld. / Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt? / Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?“ Das Publikum wird aufgefordert, selbst einen Schluss zu finden, einen guten möglichst. Fest scheint zu stehen, dass der Gutmensch, nicht als Unwort des Jahres 2015, sondern als Figur des tatsächlichen Lebens, nicht die heutige Ausformung des guten Menschen ist. Denn an ihm hängen Moral und Hypermoral, seine Unbedingtheit ist eben, wie das Wort ja verrät: eine Un-Bedingtheit. Die Götter in „Der gute Mensch von Sezuan“ bei Brecht entschweben auf einer rosa Wolke, in Heidelberg/Meiningen ist der Abgang profaner. Er ist, wie die Welt ist. Vielleicht hat jener Kritiker so Unrecht nicht, der in diesem Parabelstück das beste aller antikapitalistischen Stücke sah, ein anderer fand zwischen Shen Te und Yang Sun „eine der merkwürdigsten, eindrucksvollsten Liebesszenen der Weltliteratur“. Das ist eher viel als wenig.
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