Schiller: Don Carlos, Hans-Otto-Theater Potsdam
Am Ende hängt der Infant Don Carlos (Dennis Herrmann) blutig mit dem Kopf nach unten. Die Inszenierung hat optisch ihren Kreis geschlossen. Denn auch zu Beginn hing eine blutige Leiche so auf der Bühne, unten war Blut zusammengelaufen, ein Kind stand neben dem Schrecklichen und rezitierte die berühmte Definition, die Immanuel Kant dem Begriff „Aufklärung“ gegeben hat. Dann trat Michael Schrodt als Beichtvater Domingo neben das Kind und sprach die ersten Worte des Schillertextes: „Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende.“ Mehr nicht vom Eingangsmonolog, mehr nicht vom ersten Auftritt des ersten Aktes, danach geht es gleich zum Wiedersehen zwischen Don Carlos und Marquis Posa über. Nach dem Satz des Beichtvaters aber lachen im Bühnenhintergrund alle auf Stühlen die Szenerie beobachtenden anderen Darsteller.
Die blutige Leiche wird zu Boden gelassen und an den Füßen weggeschleift. Das ergibt jene Blutspur, die bis zum Ende des dreistündigen Theaterabends als Symbol die Zeit charakterisiert, von der im Drama gehandelt wird.
Regisseur Markus Dietz hat für seine Spielfassung kräftig gestrichen, etliche kleinere Rollen ganz, von den nicht gestrichenen kräftig im Text. Was in den drei Stunden mit Pause ablief, war stimmig, was von Beginn auffiel, war die Sorgfalt im Textvortrag. Auch wenn das zuvor angesagt wurde in der Einführung, es hätte zwischen Aufwand und Ergebnis auch eine Lücke klaffen können. Sie klaffte nicht in Potsdam. Der Vorteil solchen Herangehens an den Text ist groß. Denn da, wo andere Spielleiter in sich selbst den Zitaten-Schiller hören und folglich meinen, sie müssten eben an diesen Stellen alle Kunst gegen den Text aufwenden, da ist bei Dietz der „Aufruhr in meinen Niederlanden“ auf überaus wohltuende Weise kein Kalauer aus den Verdauungstrakten des Klassiker-Ulks, sondern eine Aussage eines Königs, in dessen Reich die Sonne nicht untergeht, über eine zur Abtrünnigkeit strebende Provinz.
Die Bühne (Ines Nadler) ist überwiegend dunkel, es gibt eine drehbare Wand, die sich nach vorn und nach hinten bewegt. In diesen Bewegungen soll sie wohl unter anderem die Enge des Spielraums symbolisieren, der den Figuren des dramatischen Gedichts bleibt. Auch die Kostüme sind vor allem schwarz-weiß oder nur schwarz, lediglich die Frauen-Rollen haben etwas Farbe zu Beginn, später passen sie sich dem Grundton an. Den König Philipp muss Bernd Geiling spielen als kurzfristiger Ersatz für den erkrankten Peter Pagel, ein merklicher Abfall zwischen seiner und den anderen Rollen war weder zu hören noch zu sehen. Die von der Regie gewünschte Konzentration auf den Schiller-Text hatte eine weitere Nebenfolge mit löblicher Wirkung. Die Darsteller artikulierten ihre Rollen nicht primär gestisch-mimisch, sondern verbal, ohne dass dabei der Eindruck eines Deklamationsabends entstand. Den größten gestisch-mimischen Interpretationsaufwand trieb Dennis Herrmann als Don Carlos, seine Hände sprachen mehr als alle anderen und das ergab Mittelpunktswirkung, die einer Titelfigur auch dann zukommt, wenn ihr eigener Schöpfer, diesenfalls immerhin Friedrich Schiller, sie aus diesen oder jenen Gründen aus den Augen verliert.
Potsdam hat einen Carlos, der leicht neben sich steht, weil ihn die Liebe zu seiner Stiefmutter Elisabeth (Franziska Melzer) zu allem anderen immer auf Distanz hält, er kann sich nicht auf das konzentrieren, was von ihm erwartet wird, was vor allem der Marquis Posa (René Schwittay) von ihm erwartet. Dieser Carlos umschlingt die Beine seiner Königin, dieser Carlos versucht das Unmögliche und merkt nicht, dass er ganz schnell und dann immer zunehmend zu einer Spielfigur ausgerechnet seines Freundes wird. Hier soll nicht wiederholt werden, was über die diversen Tragödien dieses Dramas geschrieben wurde, wie sie zueinander passen, einander zeitweise oder ganz verdrängen. Spielbar ist immer die Tragödie der Freundschaft und letztlich ist der Handlungsstrang, der zu dem berühmten Satz „Der König hat geweint“ führt, auch eine Tragödie der Freundschaft. In Potsdam provoziert der Satz des Lerma (Armin Dillenberger) ein hysterisches Lachen des Beichtvaters Domingo.
Viel Bühnenwirkung kommt bei „Don Carlos“ aus der Art, wie die Prinzessin Eboli gespielt wird. Denn schon von der puren optischen Erscheinung hängt in nicht geringem Maße ab, ob ihr sowohl die Verführungskraft zugetraut wird, die der König selbst an sich verspürt, als auch die ganze tiefe Tragik, die in ihrer enttäuschten Liebe zu Carlos und auch in ihrer Rolle als Opfer eines Eheschachers liegen. Meike Finck war bis auf Nuancen da und dort, wo weniger mehr gewesen wäre, eine überaus eindrucksvolle Eboli. Die hatte die leisen Töne, die Verzweiflung, die Raserei der Rache, den nackten Katzenjammer, den verführerischen und den hysterischen Ausbruch und Aufbruch. Und, verschwiegen sei es nicht, sie war eine höchst sinnliche Erscheinung. Den beiden anderen nicht gestrichenen, aber stark reduzierten Frauenrollen des Hofstaats der Königin, Sabine Scholze als Herzogin von Olivarez und Nele Jung als Marquisin von Mondekar war kaum große Entfaltung erlaubt. Franziska Melzer als Valois und Königin sah ich nicht nur deshalb stark, weil sie unmittelbar vor meinem Platz in Reihe 6 den großen Dialog mit Carlos auf der Bühne führte, in dem sie sich dem Infanten als überlegene souveräne Persönlichkeit präsentierte.
Marquis Posa hat sich bei Schiller im Laufe eines langen Arbeitsprozesses am Stück mehr und mehr in den Vordergrund gedrängt, wer mag, kann sich Schillers Selbstdeutung und -erklärung in den „Briefen über Don Carlos“ zum Vergleich vornehmen. Manche Interpreten sehen die nachträglichen Briefe als passgerecht zum Stück, manche möchten sie am liebsten vergessen, um nicht von ihren eigenen Deutungen abgelenkt zu werden. Tatsache ist, dass dieser Marquis und Jugendfreund des Infanten eine höchst facettenreiche Figur ist, die eben nicht auf das Freiheitspathos reduziert werden sollte. Die durchaus eine Rolle als Frauenschwarm spielte, die Mondekar in Potskam busselt mit ihm, als er seinen Reisebericht zu erstatten anhebt. Und auch die Königin selbst fühlt mehr als nur innerliches Hingezogensein. René Schwittay spielt eine eindrucksvolle Steigerung vom ersten Auftritt bei Carlos, da man zunächst nur seine Stiefel sieht, bis zu den sprichwörtlich gewordenen Szenen mit dem König. Er steigert die Spannung seines großen Monologs bis zu dem Punkt, an dem ihm der König das Wort „Gedankenfreiheit“ buchstäblich aus dem Mund nimmt. Dies passt, obwohl es bei Schiller natürlich so nicht steht.
Einen wirklich phantastischen Regieeinfall hebt sich Markus Dietz für den Schluss auf. Andrea Breth hat in Wien den Großinquisitor als Frau auf die Bühne gebracht, Dietz verwandelt ihn in ein kleines, uraltes Männchen im Rollstuhl (Caspar Krzysch), das sich kaum mehr artikulieren kann, das dem Beichtvater ins Ohr flüstert, was der dann laut vorträgt und bisweilen trägt der vor, was ihm gar nicht geflüstert wurde. Die Stimmlage erinnert an manchen Fantasy-Film und deren diabolische Insbildsetzung des schlechthin Bösen. Das fügt sich hier perfekt an, es passt zur Blutspur vom Beginn und es macht einen Schluss, den man so schnell nicht vergisst. Eine gute Idee ist auch der Streit um die Infantin, bei dem Elisabeth und Philipp das Kind von beiden Seiten zerren wie im „Kaukasischen Kreidekreis“. Ich sah mehrere Inszenierungen, da die Infantin gestrichen wurde, hier belebte sie das Spiel (wie seinerzeit auch in Dresden).
Weniger toll fand ich den Plastikflaschenregen von oben gegen Ende, unerklärlich die nur halb gefüllten Reihen im Parkett. Diese wirklich sehenswerte Inszenierung hat mehr Zuschauer verdient, jeder einzelne Darsteller ebenso. Also auch Philipp Mauritz als Alba, Philipp Oehme Admiral, dem die Armada absoff, Carlo Degen als Henarez. Potsdams Hans-Otto-Theater hat mich sicher nicht zum letzten Male gesehen.
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