Büchner: Woyzeck; Staatsschauspiel Dresden
Gespielt wird in Dresden nicht, wie im Programmheft ausgewiesen, „Woyzeck“ von Georg Büchner unter Verwendung von Auszügen aus dem Roman „Tram 83“ von Fiston Mwanza Mujila und „Die Wunde Woyzeck“ von Heiner Müller. Stattdessen gibt es eine Art theatralischer Visualisierung der Büchnerpreis-Rede Müllers von 1985 unter Verwendung eines als Bastelsatz fehlgedeuteten Büchner-Fragments mit dem Titel „Woyzeck“, über das man übrigens im Programmheft aus der Feder des Dramaturgen Jörg Bochow auffallend nüchtern und vernünftig informiert wird. Dass ein Theater-Dramaturg keineswegs verpflichtet ist, an den vermeintlichen Frontlinien der sich als Forschung missverstehenden Büchner-Deutung zu schnüffeln, will ich gern ausdrücklich betonen. Dazu eine beliebige Beimengung aus einem bereits zuvor für die Bühne zugerichteten Roman des schon genannten afrikanischen Autors, der aus der Demokratischen Republik Kongo stammt, in Graz lebt und vier Jahre alt war, als Heiner Müller seine Dankesrede hielt. Hätte sich Regisseur Jan- Christoph Gockel nicht an dieser Preisrede, sondern etwa an der 30 Jahre älteren von Marie Luise Kaschnitz orientiert, die sich ebenfalls vor allem an „Woyzeck“ hielt, wäre vermutlich ein völlig anderer Theaterabend entstanden, ob besser, ob erträglicher, das sei dahingestellt: Spekulation.
Das Programmheft lässt seine Leser in entscheidender Hinsicht im Stich: es ordnet den Namen der Darsteller (kein Gender-Hinweis meinerseits) keine Rollen zu, obwohl das nach allem, was ich 110 Spielminuten ohne Pause schließlich entnehmen konnte, durchaus möglich gewesen wäre. Die Namen sind alphabetisch geordnet, das ist eher diplomatisch aus kunstgerecht, aber natürlich Sache der Macher. So bleibt eine Weile Rätselraten für alle im Parkett, bis halbwegs klar wird, wer wer und was ist. Ganz auf Rollen verzichten geht selbst unter dem Diktat des Hardcore-Verdichters Heiner Müller nicht. Dessen Rede ist nämlich, wie der Name schon sagt, eine Rede und keineswegs eine Spielvorlage. Obwohl ich durchaus geneigt wäre, in Zeiten vollkommener Abwesenheit besserer Angebote auf den Bühnen meines kritischen Einzugsgebietes einmal Brechts „Katzgraben-Notate“ inszeniert zu sehen unter Verwendung von Strittmatters „Katzgraben“ und Wilhelm Zimmermanns „Der Große Deutsche Bauernkrieg“, letzteres vielleicht als Musical. Heiner Müllers Rede ist so extrem verdichtet, dass sie nicht nur Satz für Satz, Satzteil für Satzteil, Anspielung für Anspielung, verstecktes Zitat für verstecktes Zitat, fast Wort für Wort ausführlichster Interpretation bedürfte, um Sterblichen wenigstens Verständnis-Partikel anzubieten. Da wäre schon mal Adorno.
Denn der erfand lange vor Müller „Die Wunde Heine“. Nur der Name war zu ersetzen. Lange vor Heiner Müllers Rede sang John Lennon „Woman is the Nigger of the World“, der Titel wurde 1972 auf dem Album „Some Time in New York City“ erstmals veröffentlicht und gab ebenso eine klar kenntliche Denkrichtung vor. Müller selbst bringt Kleist ins Spiel in seiner Rede, ohne natürlich den Namen zu nennen, das sollen die Schlauen unter seinen Hörern selbst herausfinden, die anderen sollen sich schämen. Von Kleist ist „Über das Marionettentheater“, von Kleist ist „Über das allmählige Verfertigen der Gedanken beim Reden“ und das wiederum ist Heiner Müllers späte, seine eigentliche Daseinsform gewesen. Als Spielvorlage für eine öffentliche Bühne, die sich schon mit der ersten Vorstellung nach der Premiere für Freaks just an die Sterblichen wendet, ist „Die Wunde Woyzeck“, mit Verlaub, ungeeignet. Das behaupte ich mindestens so unbeirrt, wie andere postulieren, man könne „Woyzeck“ nicht mehr spielen „als Sozialdrama“, das „geht nicht“. Wie abgelatscht ist solcher Blödsinn? Wer legt denn fest, was geht, wer, was angesagt ist. Wer wiederum verlangt, dass Regisseure, die den Texten misstrauen, die sie auf die Bühne bringen, dies dennoch tun? Man muss hinhören in Dresden: Büchner überragt jede einzelne andere Textzeile des Abends.
Gockel kommt nicht an gegen dieses Fragment „Woyzeck“. Er hätte sich trauen sollen, seinem Bildersalat den neueren Rammstein-Hit „Dann reiß ich der Puppe den Kopf ab“ überzustülpen, wer ahnt aber, welche Alarmanlage da im Team geklingelt hätte. So müssen die Mitwirkenden etwas tun, was sie immer tun, gute Miene zum bösen Spiel machen. Sie bekamen am Ende den Beifall, der wie immer bei Premieren wegen der kreischenden Quietsche-Entchen in den hinteren Reihe nur eingeschränkt bewertbar ist. Ein Wesen hinter mir hatte schon nach zwanzig Minuten so viel gekichert, dass nur zu vermuten ist, was sie tat, statt dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Lustig war da rein gar nichts. Und als dann der Doktor (Torsten Ranft) mehrmals das Wort pissen in den Mund nahm, da war das Mädchen kaum noch zu halten, ich kenne das von Kleinkindern zwischen vier und sechs Jahren, der Phase fäkaler Begeisterung. Infantile Köpfchen in einer Büchner-Premiere? Wohl normal. Büchners Text benötigt Krücken, behauptet die Dresdner Inszenierung, Theater wird Rollator für dramatische Weltliteratur, Mahlzeit. Natürlich ist alles optisch reizvoll, natürlich sind die wuchtige Musik und die Aktionen der Damen und Herren zu dieser Musik imposant, aber der Text ersäuft im Krawall, die Bilder erschlagen ihre Absichten.
Die Geschichte vom einsamen Kind, das weint, lässt einem, wenn man nicht vollkommen abgestumpft ist in allgemeiner Bilderflut, in Schnittfrequenzen und Poetry-Slam-Beliebigkeits-Soße oder Hip-Hop-Textkaskaden, wie man so schön pathetisch sagte früher, als die Türken vor Wien standen, das Blut in den Adern gefrieren. Die Geschichte vom Woyzeck, der monatelang Erbsen frisst, nimmt natürlich allerlei an Moderne vorweg, Groteske, absurdes Theater. Der Dramaturg hat in seinem Programmtext einen einzigen dummen Fehler: Es geht eben nicht um die Annahme, einen Verbrecher bereits an seinem Äußeren erkennen zu können, es geht um den Wunsch, es zu können. Und der ist, das Staatsschauspiel steht in Dresden, bis heute lebendig. Jahrelang tingelten staatlich alimentierte linke Privat-Geheimdienste durch die Lande, um Menschen über Schnürsenkel, Jacken und Kleidermarken aufzuklären und als das nicht mehr die Realität traf, weinten sie öffentlich und medienwirksam, man erkenne sie nicht mehr, die Bösen, sie tarnten sich in Sportvereinen. Nicht wenigen Armen im Geiste scheint es das Wichtigste in ihrem Leben, erkennbar zu sein in ihrem Geiste: sie tragen Shirts mit Aufdrucken, sie sprayen englische Kürzel an Wände wie Hunde ihr Bein heben zur Botschaft: Ich war hier. „Woyzeck“ hat Potential zu ganz anderen Assoziationen.
Und zwar, um nicht missverstanden zu werden, keineswegs unvermeidlich zu denen, die ich habe. Man muss freilich der Inszenierung eines unbedingt bescheinigen: sie transportiert Text-Passagen mit einer so auffällig gespielten Selbstironie, dass man für Sekunden meint, es sei alles Spiel mit dem Spiel, vorletzter Nachklapp einer längst zu Grabe getragenen Spaßgesellschaft. „Keiner liest mehr den Text, alle fragen nur, was dahinter steht“, hörte ich, wenn ich mich nicht verhörte. Und „Was ist von dieser Veranstaltung der Sinn?“ Und „Alles ist Collage.“ Nein, eben nicht: auf der Bühne mag alles Collage sein, Collage ist nicht der Singular von Collagen, im Leben ist Collage allenfalls der Schein, die Oberfläche. Wer das nicht weiß oder merkt, sollte auf keinen Fall mit Heiner Müller operieren und argumentieren, der wusste es nämlich, und nicht nur besser. Wenn denn dieser Woyzeck, der seine Marie ersticht, als ein Archetypus gesehen wird, dann braucht er gerade keine Krücken, keine Implantate. Und die Idee, ihn als Puppe auf die Bühne zu bringen, hätte Größe, wenn sie nicht selbst schon wieder Zitat eines Zitats wäre, bis Kleist reicht der Faden zurück, man könnte dann gleich wieder von Romantik reden, von Büchners Bruder Ludwig und was so alles aus der Schublade purzelt, wenn man sie zu rasch herauszerrt. Die Geister, die man ruft …
Eine Inszenierung, die den Mitwirkenden mehrere Rollen überträgt, ohne diese klar zu umreißen, könnte auf Ensemblespiel mehr angelegt sein als auf Einzelspiel. Das wäre sozusagen der dicke Daumen für den Kritikus im Parkett. Natürlich könnte ich diesen oder jenen Namen nennen, Luise Aschenbrenner zum Beispiel, die dies und jenes, vor allem aber Marie war, Ranft schon erwähnt, wer aber war wieder dieser Tambourmajor, wer der Hauptmann, trommelte er oder arbeitete er am Tasteninstrument, trug er einen Gonzo auf dem Kopf oder kroch er durch die Bergwerksstollen? Ich meine, die Leichtathletik-WM ist noch in bester Erinnerung, dass man im Stabhochsprung-Wettbewerb die Latte nie auf eine Anfangshöhe von acht Metern legen sollte, wenn der Weltrekord anderthalb Meter weiter unten liegt. Selbst die Besten reißen in solcher Lage nicht, sie hüpfen glatt drunter durch. Ich meine, meine Armeezeit liegt nicht lange genug zurück, um die Kekskomprimate vergessen zu haben: wenn man einen Stoff zu sehr komprimiert, fordert er nicht mehr langes Kauen, ehe er quillt im Maule, man beißt sich an ihm die Zähne aus. So weit, so schlecht. Die wenigen Buhs im Premierenapplaus galten zweifelsfrei nicht Spielerinnen und Spielern, sondern den Machern. Die Abwesenheit einer Pause verhinderte wohl manchen Rückzug, manche Flucht.
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