Horvath: Glaube Liebe Hoffnung; Deutsches Theater Berlin
Was ist eigentlich ein kleiner Totentanz? Theaterlexika im Umfang von um die tausend Seiten kennen den Totentanz, referieren seine Geschichte mehr oder minder ausführlich. Immer wird das französische „danse macabre“ genannt , das spanische „danza de muerte“ folgt, die Pest spielt eine Rolle und die Sache hat ein Fortleben bis in unsere Zeiten. Von Hans Henny Jahnn stammt ein „Neuer Lübecker Totentanz“ (1931), vielleicht sogar ein Einfluss-Faktor für Ödön von Horvath, der sein „Glaube Liebe Hoffnung“ in den Jahren 1932/33 niederschrieb, in jener Schaffensphase also, da er anderen seiner Bühnenwerke die Bezeichnung „Volksstück“ gab. All seinen Stücke könne man, schrieb er in einer „Randbemerkung“, wie sie sonst nirgends in seinem Schaffen in dieser Form vorkommt, den Titel „Glaube Liebe Hoffnung“ geben. Einen Totentanz aber schrieb er doch nur einmal und gespielt wird der inzwischen fast so oft wie die bekanntesten Volksstücke, immer auch ein wenig den Moden folgend, die es im Theaterbetrieb gibt wie überall. Nur werden dort Moden nach außen hin gern stigmatisiert, um sie hernach ungestörter befolgen zu können.
In den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin kann man jetzt „Glaube Liebe Hoffnung“ in der Regie von Jürgen Kruse sehen, die Premiere war am 27. Oktober, die Premierenkritiken beschreiben zu weiten Teilen weniger die Inszenierung selbst als das Phänomen Jürgen Kruse. Denn der, ich danke dem Schicksal, als Kritiker von hinter den sieben Bergen her zu kommen, was meine Theatergänger-Wege auf wunderbare Weise bisher von seinen Tatorten fern hielt, ist tatsächlich ein Phänomen. Er hat eine Schallplattensammlung, las ich, die in Theaterkreisen berühmt ist. Es lagern in ihr, er feierte im Februar seinen 60. Geburtstag, Bands und Hits, die mir, sechs Jahre älter, sehr bekannt vorkommen, sie stehen alle auch in meiner Sammlung, die freilich nirgends berühmt ist. So freue ich mich durchaus, wenn mir nach längerer Zeit wieder einmal der Uralt-Hit der Rolling Stones von der seinerzeit höchstgelobten Scheibe „Their Satanic Majesties Request“ mit dem Titel „She's a Rainbow“ vorgespielt wird (Decca 1967). Es muss freilich nicht unbedingt ein Deutsches Theater sein, wo mein Knie zu wippen beginnt fast unabhängig von mir, wenn Mick Jagger singt.
Nun bin ich aber mit einem Handicap in die Kammerspiele gegangen, von dem ich nicht ahnte, dass ich es trage. Ich kam wegen Horvath, hätte aber wegen Kruse kommen müssen: Ein neuer Kruse, las ich, auf den seine Fans schon lange warten mussten. Von einem psychedelischen Trip auf der Bühne lese ich und denke: Häh? Da ist einer 1959 geboren, die psychedelischen Trips waren so um 69 herum im Schwange, als Uschi Nerke plötzlich zum ersten Mal im Deutschen Fernsehen Humble Pie ankündigte und ein Gesicht dazu machte zu einer Trauerfeier, da war der gebürtige Hamburger maximal zehn Jahre alt. Das, was ich jetzt erlebe, zum Teil auch trotz großer Dunkelheit auf der Bühne sehe, macht Kruse, seit er Theater macht. Er bleibt sich treu, könnte man das nennen, er kopiert sich selbst als Marke, könnte man es auch nennen. Der beschworene Fanclub kann selbst in Berlin nicht übertrieben groß sein, denn schon wenige Tage nach der Premiere will im Parkett nach quälend langem Finale niemand enthusiastisch Beifall spenden, einige Besucher sind vorzeitig entwichen. Es ist ein wenig wie mit des Kaisers neuen Kleidern, man sieht sie nur als Kind nicht.
Man kommt herein und es ist schon was zu hören, weniger zu sehen, mehr zu ahnen. Man kann sich auf das, was man hört, ahnt, sieht, überhaupt nicht konzentrieren, weil eben ununterbrochen Leute hereinkommen, alle noch quatschen wie üblich, ehe endlich Ruhe eintritt. Dann wird bereits Text vorgetragen, der aber nicht von Horvath ist. Er ist von Handke. Wenn man das nicht weiß, weil man im Handke-Seminar gerade Erziehungsurlaub hatte, ist man angemeiert. Wenn man nicht weiß, dass Kruse Handke-Fan ist, ist man noch mehr angemeiert, denn dann kommt man gar nicht auf die Idee, dass man einer Provokation beiwohnt, jetzt wo alle wieder auf den Peter eindreschen, nur weil der ein Serbien-Freund zu sein scheint, während wir alle, anständigerweise, Serbien-Feinde zu sein haben, denn die Serben haben unseren Thronfolger ermordet, weshalb wir im automatischen Umkehrschluss Kroaten-Freunde sind, selbst wenn die Ustascha hatten. Alte Bündnispartner eben. Man sieht rechts eine Tür mit der Aufschrift „Anatomisches Institut“, links eine Tür mit der Aufschrift „Wohlfahrtsamt“. Man sieht über allem eine Leuchtschrift „Laufmaschenannahme“.
Sonst sieht es auf der Bühne aus wie im Lager einer alten Ostberliner Pfandleihe, die ich als Student in den frühen 70ern einmal sehen durfte. Der Präparator kommt aus der anatomischen Tür und bläst Seifenblasen. Manche Textteile, die gesprochen werden, klingen wie Horvath. Es gibt viel Wort-Salat, Silbenhack mit Falschbetonung. Viele Anspielungen auf andere Horvath-Stücke, mal fliegt oben der Zeppelin, mal ist eine Unbekannte in der Seine, mal wäre man anders wie in „Zur schönen Aussicht“. Merkt man aber nur, wenn man es kennt. Der Anspielungswahn kommt, weiß man aus dem Postmoderne-Seminar, aus der Postmoderne. Außerdem gibt es noch postdramatisches und postmigrantisches Theater, überall die Post, nur nie in ihrem Kerngeschäft. Auf dem Heimweg füllen die Anspielungsversteher im Parkett im Geiste ihre Fragebögen aus und wenn sie mehr als 60 Prozent aller Anspielungen akustischer, optischer, textlicher, musikalischer, kostümischer Art erkannt und davon wieder mehr als 60 Prozent verstanden haben, dann dürfen sie vielleicht auf eine Troggs-Doublette aus des Meisters Single-Sammlung hoffen: „Wild Thing“ hätte viel Charme.
Und an kleine Männer denken, die noch im fortgeschrittenen Alter sich in klebenge Lederbuchsen quetschten, um breitbeinig ins schräg gekippte Mikro zu singen. Auch ich war anno 1967 Troggs-Fan, wobei mir die Hendrix-Version um Längen besser gefiel. Geht hier aber nicht um mich. Bei Horvath geht es um Elisabeth, die es bei Kruse auch gibt in Form von Linda Pöppel. Die alle loben, auch die, die sonst nichts loben an diesem Abend. Ich schließe mich meinen Vorrednern an. Linda Pöppel macht den Abend erträglich, auch im Zusammenspiel mit Manuel Harder als Schupo Alfons Klostermeyer. Der knutscht am Ende bei Kruse, anders als bei Horvath, die tote Elisabeth, die nach ihrer Errettung aus dem Wasser, vollzogen von zwei kleinen dicklichen Schlangenträgerinnen, dann doch stirbt. Bei Horvath streicht ihr der Schupo durchs Haar, als Geste ausreichend, für Kruse aber gerade nicht, da muss die Elchnummer her, um die finale Länge noch länger zu bekommen. Es geistern Geister über die Bühne, Engel schwarz, Engel weiß, als es heller wird für den Beifall, sieht man, was man im Hintergrund nur ahnen durfte: gemalte Skelette (kleiner Totentanz, ha!).
Alle haben ihren Text so zu sprechen, dass er dekonstruiert ist, falls das tatsächlich Dekonstruktion ist und nicht einfach nur Destruktion. Bisweilen nervt das heftig. Wenn es nur normal nervt, ist es fast schon wieder gut. Nach einem Teelöffel Wasabi ist auch ein Chilihappen eine milde Gabe. Die Elisabeth, bei Horvath, ist eine der Frauen, wie sie immer wiederkehren bei ihm, sie sagen, falls die Regisseure sie lassen, die traurigsten Sätze der deutschsprachigen Vorkriegsdramatik. Es sind Sätze, die weder veralten können, noch ausfransen, austrocknen oder was sonst ihnen an Kritiker-Mumpitz angedichtet wird. Es steht uns auch der heutige Sitz auf dem hohen Ross nicht zu, wenn es um die Handhabung kleiner Paragraphen geht, es sind nicht Spießer, die sie durchsetzen und nicht Nicht-Spießer, die großzügig über alle Kleinkriminalität hinwegsehen. Mit dem Feindbild der 60er Jahre kommen wir den Sachen nicht bei. Ich zum Beispiel verstehe den Ansatz von Lukas Kristl, der Horvath zu „Glaube Liebe Hoffnung“ anregte und dann sogar als Mitarbeiter genannt wird: ich habe alles in allem mehr als 300 Amtsgerichtsverhandlungen erlebt mit Urteilen und Freisprüchen.
Diese Seite des kleinen Totentanzes geht im Spiel in den Kammerspielen der Deutschen Theaters komplett unter. Es geht auch die Seite unter, die das Verhältnis der Horvath-Männer zu den Horvath-Frauen betrifft. Weil Kruse dem Spiel das Tragische entzogen hat, fehlt dem versuchten Selbstmord der Elisabeth das Nachvollziehbare. Und wenn Linda Pöppel brüllen muss, sie habe nichts zu fressen gehabt und sei deshalb ins Wasser gegangen, dann ist es uns heute, als ließe sich das Problem mit dem Hunger einfacher lösen: Man geht auch ins Wasser, hat aber ein Gummiboot unter dem Hintern und wartet auf Seenotrettung. Absurde Assoziation, erlaubt vielleicht nur im Angesicht einer solchen Wirrwarr-Aufführung. Meine Fragen an den Regisseur will ich gar nicht eigens formulieren. Er fühlt sich stets missverstanden, las ich. Von denen, sie seinem Fanclub nicht angehören. Dummerweise gilt der Lichtenberg-Satz von Buch und Kopf bisweilen auch umgekehrt. Dies postdramatische Theater hat ja gar nichts an, müsste ich sagen, wenn ich 62 Jahre jünger wäre. Ich muss nun auf einen anderen Abend mit „Glaube Liebe Hoffnung“ warten. Ohne Jürgen Kruse.
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