Schiller: Kabale und Liebe; Landestheater Eisenach
Das Programmheft weist eine Spieldauer von zwei Stunden mit einer Pause aus. Die Pause wurde gestrichen bis auf einen kurzen Umbau, damit die zahlreichen Schüler, die das Publikum bildeten, ihre Busse rechtzeitig erreichen konnten. Novum für mich so etwas, noble Geste des Ensembles. In den Schulen, verriet mir eine Lehrerin, sei „Kabale und Liebe“ Stoff der zehnten Klassen, es seien aber auch neunte Klassen mitgenommen worden. Ich habe weit unruhigere Vorstellungen erlebt und dass Fünfzehnjährige oder Sechzehnjährige an Stellen lachen, an denen nichts zu lachen ist, finden Lehrerinnen womöglich ärgerlicher als andere. Die Summe aller Lacher an zweifelsfrei falschen Stellen, die allein aus meiner Hör-Erfahrung zu bilden wäre, würde ausweisen: Erwachsenen fehlt mindestens ebenso oft der Sinn für die Situation auf der Bühne. Eisenach gastiert in Rudolstadt, das ist zuerst für sich gut, weil es dem heimischen Publikum einmal andere Kost bietet. Es soll Theater und Schauspieler geben, die sich an andauerndes und stets ungebrochenes Lob des lokalen Theater-Reporters so gewöhnt haben, dass sie glauben, das könne gar nicht anders sein. Und das stets quietschende Premieren-Publikum? Ganz früher kauften die Mimen ganz handfest Claqueure ein, die Beifall anheizten, Szenenbeifall vor allem. Heute funktioniert das offenbar, ohne dass Hartgeld fließen muss. Allerdings werden auch keine Vorhänge mehr gezählt, es gibt sie gar nicht erst.
„Kabale und Liebe“ ist ein Klassiker. Ihn einem immer wieder neuen, immer wieder vor allem jungen Publikum nahe zu bringen, ist eine Herausforderung und wo sie angenommen wird, verdient es Respekt. Dass die Jahr für Jahr hohe Aufführungszahl des Dramas ohne den Schulstoff Schiller radikal einbrechen würde, steht, wenn nicht unbedingt auf einem anderen Blatt, dann wenigstens auf der Rückseite. Ich fragte meine Nachbarin nicht, ob die Schüler und Schülerinnen das Stück erst sehen und dann lesen oder umgekehrt. Wer den Text gelesen hat, vermisst vielleicht zuerst die Mutter der Luise Millerin. Mit ihr ist alles kleinbürgerliche Familiengeplänkel des Einstiegs entschwunden. Dafür hat die Regie (Christine Hofer) einen Starter-Einfall, der einem erwachsenen Publikum vermutlich besser gefallen dürfte als einem sehr jugendlichen. Die Luise (Oska Melina Borcherding) setzt sich an ein Klavier, das später auch anderweitig als Kulissenstück genutzt wird, und spielt den Herbert-Grönemeyer-Hit des Jahres 1984, „Männer“, ersetzt das Wort Männer aber durch das Wort Ferdinand, den Namen Ferdinand. Das funktioniert besser, als man glauben möchte. Und Ferdinand (Christoph Rabeneck) setzt sich hinter seine Luise, schlägt links und rechts neben ihr den einen oder anderen Ton an und so ist es wie vierhändiges Spiel. Zeitig wird die Konstellation deutlich: Musikus Miller (Michael J. Mayer) missbilligt die Liebe seiner Tochter.
Aus ganz anderen Gründen missbilligt sie auch der Sekretär Wurm (Michael Naroditzki), er will selbst Luise für sich haben. Ferdinands Vater, der Präsident (Alexander Beisel), hat sich ausgedacht, seinen Sohn mit Lady Milford (Constanze Aimée Feulner) zu verheiraten, was vor allem ihm selbst Vorteile brächte und künftig auch seinem Sohn. Während Sohn Ferdinand sich erst einmal einfach nur weigert, dem Vater zu Willen zu sein, die soziale Realität des Standesunterschieds ausblendend, ist sich Luise der Situation sehr bewusst, fühlt sich auch mehr und ganz anders in der Schuld ihrem Vater gegenüber, keineswegs nur der ortsüblichen schlichten Gehorsamsschuld. Seit der Uraufführung am 13. April 1784 in Frankfurt am Main ist „Kabale und Liebe“ nie wieder von der Bühne verschwunden und es gab Zeiten, da hätten Kritiker es als Zumutung empfunden, auch nur einen einzigen Satz über die Fabel des Dramas, den Plot, wie heute gesagt wird, zu verlieren. Es ging direkt und ohne alle Umständen auf die Darsteller zu. Allein zwanzigmal hat Theodor Fontane über „Kabale und Liebe“ geschrieben, die 20 Kritiken verteilen sich fast gleichmäßig über die drei Bände seiner gesammelten Theaterkritiken, die es dank des Fontanes-Jahres 2019 nun auch leicht zugänglich komplett zu lesen gibt. Handlung und Ablauf also erst einmal beiseite. Ein Blick auf die Bühne. Da findet sich eine glückliche Lösung von großer Einfachheit (Dirk Seesemann).
Vier drehbare und auch sonst bewegliche Teile, weiße glatte Rückwände, regalartig die andere Seite, sehr viel große Spiegelflächen, die Szenen verdoppeln oder Rückwärtiges sichtbar machen. Man hat etwa den Sekretär Wurm schon im Auge, eher er seine vordere Spielfläche erreicht. Es bedarf keines Aufwandes, dieses Bühnenbild zu verändern. Eine besondere Rolle spielt ein Sofa mit Rückenlehne. Nicht wenige Regie-Einfälle scheinen sich direkt an diesem Möbelstück entzündet zu haben. Denn man sitzt nicht nur darauf, allein, zu zweit, zu dritt. Man macht Spielchen: Vater (der Präsident) und Sohn (Ferdinand) springen an den beiden Ende jeweils auf die Armlehnen und versuchen dort, sich im Gleichgewicht zu halten. Das sieht sofort wie ein Wettbewerb beider aus. Als der Vater dem Sohn sitzend näher kommt, kann der Sohn nicht ausweichen, aber den Oberkörper so weit wie nur irgend möglich nach hinten beugen, der unangenehmen Nähe auszuweichen. Das nennt man auch außerhalb von Theatern Körpersprache, sie ist Ausdruck von Innerem, wenn sie unbewusst ist, sie kann unter Anleitung von Trainern (bei Politiken und anderen Öffentlichkeitsmenschen) auch Lügenübung sein. Der Hofmarschall von Kalb (Roman Kimmich) absolviert am Sofa kopulationsartige Bewegungen wie ein trainierender Sexakrobat. Musikus Miller nimmt Tochter Luise aber auch einfach nur in den Arm auf diesem Sofa und rüttelt sie leise.
Roman Kimmich zeigt, eine Leistung der Inszenierung, sich eben nicht am Klischee zu bedienen, einen Hofmarschall, der nicht die ewig staksende, ewig stöckelnde Pseudo-Tunte ist, als die/der die Figur viel zu oft gesehen und verflacht wird. Obwohl diese Deutung keine pure Fehldeutung ist, wie schon der alte Fontane wusste, als er noch gar nicht so alt war. Nun hat die löbliche Andersartigkeit innerhalb dieser Inszenierung eine seltsame Nebenwirkung, vor der kein Beipackzettel warnt. Der Präsident kommt einher, als hätte er Teile des Erbes dieser üblicheren Rollenauffassung für sich okkupiert. Phasenweise führt Alexander Beisel seltsame Ballett-Pantomine auf, springt aufs Sofa und wieder herunter, bespiegelt sich und schaut sich selbst über die Schulter, was ihn lächerlich macht oder der Lächerlichkeit preisgibt. Dies soll ein böser Mensch sein, der für seine Karriere sogar Verbrechen beging oder zu begehen bereit ist, der den eigenen Sohn rücksichtslos unglücklich machen will und andere in seine Ränke, sprich Kabale, einspannt? Der genießerisch einen friedlichen Bürger und dessen Tochter beleidigt und dann aber, als der Sohn ihm droht, plötzlich, viel zu laut Nein schreiend, in Panik verfällt. Ein Präsident hat auch präsidial zu sein. Kalte Bedrohlichkeit darf von ihm ausgehen. Neckisches Klatschen mit dem Handschuh an die Wange des Sekretärs Wurm spricht eine andere Sprache, dem Hofmarschall ist er im Spiel zu nahe.
Man muss die Idee, Lady Milford in einer Badewanne sitzen zu lassen, gekleidet in etwas wie eine Korsage (Kostüme Dirk Seesemann), nicht toll finden. Wenn sie aufsteht, ist sie eine Art von Schaumgeborener, was von der Figur weglenkt, die sie bei Schiller und angenehmerweise auch in dieser Inszenierung ja ist. Constanze Aimée Feulner bewältigt ihre drei großen Auftritte mehr als leidlich: mit dem Kammerdiener, der den Schmuck bringt (Michael J. Mayer), ist sie zu schnell zu verständnisvoll, die plötzliche soziale Einsicht, ist, wie sich später im Dialog mit Ferdinand erweist, gar keine plötzliche, die Lady war keineswegs blind in ihrem goldenen Käfig. Deswegen wäre, meine ich, schrittweise zu steigern: über Ferdinand, dem sie seinerseits die Augen öffnet, bis zur ablehnenden Luise, die sie quasi vom Wort zur Tat schreiten lässt: sie verlässt den Herzog. Weil der Kammerdiener von Christine Hofer am Bühnenleben gelassen wurde, wie unangenehm oft sah man es anders, darf er auch spielen und Michael J. Mayer, einziger mit zwei Rollen, zeigt, dass er zwei Rollen spielt, nicht zweimal Mayer in anderem Kostüm. Der alte Fontane fand derartige Fähigkeiten für sehr wichtig, dem ist nichts hinzuzufügen. Michael Naroditzki agiert einen Wurm, der keiner ist, sondern recht selbstbewusst, und sich genau damit überschätzt. Seine markante Stimme wirkt auf die Rolle zurück, sie wird markanter. Am Ende darf er eine Moral hersagen, eine von Schuld.
Dass „Kabale und Liebe“ ursprünglich „Luise Millerin“ hieß, hat sich herumgesprochen, der alte Titel ist Ambition Schillers, der neue und seither übliche ist Rücksichtnahme aufs Publikum. In diesem Fall aber keine zum Naserümpfen. Theaterpraktiker haben Dramatikern in aller Regel durchaus etwas zu sagen. Dass zu den größte Dramatikern aller Zeiten aktive Schauspieler gehörten, hat sich auch längst herumgesprochen, für Schüler sei es wiederholt: Shakespeare, Moliere und Nestroy sind die Beispiele aller Beispiele. Luise Miller ist 16 Jahre alt im Stück, man muss das für die Rollenauffassung im Augen haben: eine Binsenweisheit, die dennoch gar nicht selten ignoriert wird. Oska Melina Borcherding (Jahrgang 1993) ist noch jung genug, stimmlich imposant zu Beginn, sie hat auch die in sich gekehrten, die leisen Töne der Rolle, und wenn sie sich rückwärts über den Klavierschemel hängen lässt, als der haftentlassene Vater nach Hause in die vermeintlich leere Wohnung kommt, dann soll das eben sein. Bleibt Ferdinand, der alle seine Darsteller zwingt, dem blind Liebenden auch den plötzlich blind Eifersüchtigen abzunehmen. Kein dankbarer Job, seit es den Ferdinand gibt. Achtbar herauszukommen, ist zwar keine Spielphilosophie, wenn es aber gelingt, dann darf man es gelungen nennen. Christoph Rabeneck ist es, Lautstärke-Fehlgriffe ausgeklammert, die andere auch hatten, gelungen. Mit einer gewissen Pathos-Persiflage sogar.
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