Goethe: Urfaust; DNT Weimar
Wenn die freundliche Dame am Pressetisch den ihre Karten abholenden Herren und Damen Kritikern vorsorglich mitteilt, es handele sich, im Pressematerial nachlesbar, um eine Spielfassung des „Urfaust“, die gewissermaßen gestreckt wurde mit Text aus dem bekannten Zweiteiler des bekannten Geheimrates, dann kann man das so oder so sehen. Es ist jedenfalls anders als die Warnung, die unter Hinweis auf stroboskopische Effekte an Epileptiker in Theatern ausgesprochen wird auf Schildern oder Tafeln. Hier hat jemand, der Regisseur vor allem, das unabweisliche Gefühl gehabt, der „Urfaust“, der diesen Titel bekanntlich gar nicht trägt, vermittle sich dem Publikum nicht, wenn ihm nicht auf die Sprünge geholfen wird. In diesem Fall eher über die Sprünge, denn der Text, wie ihn das sattsam unbekannte Fräulein von Göchhausen überlieferte per heimlicher Abschrift, ist nicht etwa eine raue, eine ungehobelte Frühfassung des später glatten und gehobelten „Faust“, es ist ein Manuskript mit Bestandteilen unterschiedlicher Reifegrade. Für die Goethe-Philologie, nicht für das Theaterpublikum, schon gar nicht in Weimar, ist es interessant, Ur- mit Spät- oder Final-Faust zu vergleichen. Ich bezweifle den tieferen Sinn einer Inszenierung des „Urfaust“, die dem Text kein Vertrauen schenken mag und einen Pseudo-Urfaust erarbeitet.
Wenn ich einen Tag nach der Meininger „Hinkemann“-Katastrophe dennoch frohen Mutes und mit frischem Vertrauen in die schaffenden Kräfte jeglicher Art aus dem Deutschen Nationaltheater Weimar schritt, dann war das nicht nur dem erwartbaren Effekt geschuldet, dass nach einer Talsohle jede beliebige Steigung, äh, Steigerung nach Gipfelsturm riecht. Es war auch das, was ich sah und hörte. Tobias Wellemeyer, in Dresden geboren und dort ausgerechnet 1989 Regie-Debütant, also in Jubiläums-Reife eben, hat seinen „Urfaust“ nicht gestreckt wie der bajuwarischer Erfinder des Radler sein Bier mit Limonade, seine Streckung gleicht eher einer kulinarischen Andickung. Man muss rühren, damit nicht alles zu fest wird. Die Besetzung dieses Abends weist, soweit ich es überblicke, keine Schnittmengen mit Hasko Webers Inszenierungen von „Faust I“ und „Faust II“ aus, Premieren am 6. September 2013 und am 27. Februar 2016. Das führt dazu, dass sich Intendant und Hauptdarsteller, Weber, Lutz Salzmann und Sebastian Kowski, in der Spielpause ganz locker unterhalten können. Jetzt ist Marcus Horn der Faust mit der Last des Eröffnungsmonologs auf den Schultern. Je öfter ich den höre, desto stärker befällt mich das Gefühl, dass Goethe selbst sich hier die Latte zu hoch legte. Von diesem Level als Weltdichtung aus kann es nur abwärts gehen.
Und tatsächlich klaffen ja Welten zwischen dem selbstmordnah formulierten Höchstanspruch und den arg profanen Ausflügen in die Alltagswelt von Auerbachs Keller und Liebesschnellschuss mit profanster Folge. Streng genommen läge heute der Verzicht auf den Auftakt eher im Horizont einer ambitionierten Inszenierung als der stets vergebliche Versuch, den Rest dem Anfang anzunähern. In Weimar gibt es mit dem Erdgeist aus der Bodenluke, Anna Windmüller in Nackt-Simulation, schon einen Bruch, und es folgt viel Komödie mit vielen erzeugten Lachern im Parkett, was gut ist und funktioniert. Also Max Landgrebe als Wagner in der Faust-Schule, Janus Torp als Student in der Mephisto-Schule, hier lässt die Regie die Zügel schießen, „Urfaust“ geht mit platterem Unterhaltungswert auch. Vom „Habe nun, ach“ aus gesehen, ist alles platt, jeder Inszenator darf hier in die große Kiste greifen und wird der Vorgabe dennoch nicht blasphemisch entgegentreten. Tobias Wellemeyer hat seine Margarethe (Rosa Falkenhagen) optisch in eine muntere Novizinnen-Schar integriert, die es bei Goethe natürlich nicht gibt, er lässt sie ihre Geschichte vom Kind, dem sie alle Liebe schenkte, so kitschfrei ergreifend vortragen, dass es gesonderte Erwähnung verdient. Sie ist das überaus junge Mädchen, das sich verführen lässt, sie zeigt, dass zu Verführungen zwei gehören.
Faust sieht zunächst ein bisschen aus wie ein Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts im Arztkittel, das Fläschlein Gift, Phiole hieß dergleichen früher, ist zeitgemäß durch eine Handvoll Tabletten ersetzt: Faust will aus dem Leben. Zugleich aber, so sieht es aus, wartet er auf die erste beste Gelegenheit, die ihm den Anlass liefert, seinem Plan zu entsagen. Dass ein Glockenklang diese Zündwirkung hat: Freunde des Themas Goethe und die Religion dürfen darüber nachdenken. Und fix ist Faust der alte schlechtgelaunte, seinen Famulus mobbende (und knutschende) Chef der Firma Weltzusammenhang-Research, er wirft mit einem toten Hahn. Es naht eine Prozession, man hört, tatsächlich einen Hund bellen, das Parkett ahnt: es ist der schwarze Pudel. Der mit dem Kern. Als es dann zu Auerbachs Keller geht, ist das etwas wie Fanmeile, das mephisto-basierte Weinwunder findet aus Fausts Hosenstall statt, Wein statt Bier, das rat ich dir, würde Stuart Pigott sagen. Wobei in Fankreisen des Rasenballsports dann doch eher das Bier fließt, in RB-Strömen zu Leipzig, wohin bekanntlich 1765 der jungen Johann Wolfgang zwecks Studium in einer Kutsche reiste. Faust sieht das Fräulein noch gar nicht richtig, als er ihr schon Arm und Geleit anbietet, Speed-Dating in Zeiten des Sturm und Drang. Muttermord, ungewollte Schwangerschaft und Schwagermord folgen.
Das war es, was diesen Faust in seiner Studierstube umtrieb, so sehr, dass er einen Pakt mit dem Teufel, genauer, mit einem Teufel aus der vorausgesetzten Teufels-Diversität einzugehen bereit war? Man soll es glauben, weil es der junge Goethe sich so ausgedacht hat. Er war halt ein noch junger Goethe. In Gretchens Weimarer Kemenate stehen zwei Metallbettstellen wie aus Beständen der Nationalen Volksarmee, ein Schemel, auf dem in selbiger die unteren Dienstgrade ihr Päckchen zu bauen hatten. Es gibt einen Kühlschrank mit zuckerhaltiger Limonade, ein Kofferradio (Bühne Harald Thor), gesungen wird spanisch, Faust spielt Suppenküche. Wir ahnen: die Schere zwischen Arm und Reich. Nachbarin Marthe betreibt einen Frisörsalon und ist die Vertraute des Mädchens mit der Gretchenfrage. Gretchen offenbart eine erstaunliche Professionalität im Umgang mit Schmuck, die sich nur daher erklärt, dass sie eben nicht Unterschicht-Kind ist, was aber für ihre Tragödie letztlich irrelevant bleibt. Es geht um die ewige Verführbarkeit des Weibes durch Schmuck, wir erleben Goethe als Altvorderen, der kein Seminar über Geschlechterdifferenz besucht hat. Das Klischee lebt. Freilich landet, wir erinnern uns, die erste Lieferung Mephistos beim Pfarrer. Mit Zweitschmuck erscheint Gretchen im ungünstigen Moment bei Marthe, die treibt es gerade.
Aber wenn Frauen etwas zu bekakeln haben, muss sogar der Sex warten. Sagt die Inszenierung. Und sie sagt es fünf Monate später immer noch, denn die sind inzwischen vergangen, ich sehe mitten unter Schülern eine Aufführung, die längst mehr Routine hat als auch die beste Premiere je haben kann, jetzt dominiert Anna Windmüller als Mephisto den Vormittag nahezu beliebig, das war am ersten Abend im Oktober noch nicht ganz so deutlich. Wer gut beginnt und sich dann steigert, der kann es wohl. Und sie ist eine von drei Frauen, die es können: diese Rosa Falkenhagen als Margarethe-Gretchen muss sich nun immer an dieser ihrer ersten großen Rolle messen lassen, mir scheint, sie hat gegen Ende, als sie in der Premiere noch da und dort zu grell, zu laut war, den Weg zu den passenderen Tönen und Farben gefunden. Wer in der Pause zwischen Schülerinnen wandelt, kommt freilich nicht um den Gedanken herum: diese Mädchen alle mit ihren Smartphones, mit und ohne Pickel, mit zu dicken oder gar keinen Hintern, die sind alle älter als dieses Gretchen auf der Bühne: Wahnsinn. Sie juchzen, wenn sie auf der Bühne einen nackten Hintern sehen, sie schrecken auf, wenn Faust in den Bühnenmulch kotzt. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wissen, dass auf Gretchens Kühlschrank ein Kofferradio steht. Was, Alter, waren das denn für Dinger, ehhhjj?
Man verabschiede sich von dem Gedanken, dass im Theater die lustigsten Sachen immer auf der Bühne geschehen. Siehst du den schwarzen Hund, wird da oben gefragt und nicht wenige im Parkett wenden sich nach hinten, wo erwartungsgemäß keine schwarzer Hund zu sehen ist. Immerhin hört man ihn. Ein Mädchen hinter mir flüstert: Bushaltestelle, als die Drehbühne etwas Ähnliches nach vorn befördert. Und etliche leiden körperlich mit, als Mephisto den Studenten mit den Händen an den Tisch nagelt und schauen staunend, wie die Nägel dann dem Teufels-Magnetismus folgend, wieder aus Holz und Hand gleiten. Als der erstochene Bruder Valentin (Thomas Kramer) sich erhebt, um seine Anklagen fortzusetzen gegen die arme kleine Schwester, da geht Unglauben durch die Reihen: war der nicht eben tot? Von den Premierenkritikern fühlte sich einer angesichts des Weißblechkubus am Beginn an einen Fahrstuhl erinnert. Man sah eine ähnliche schräge Kiste auch in Messingfarbe schon in Berlin, drin ein Lars Eidinger. Vielleicht war nur die Schräge wichtig, um das Schräge zu symbolisieren. Es handelt sich bei dieser Weimarer Inszenierung um eine, deren Schwerpunkt wanderte, ohne zu schließlicher Ruhe zu kommen. Ich schaute gerne zweimal zu.
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