Carl Sternheim: Die Kassette; Meininger Staatstheater

Ein richtiges Programmheft ist keins, wenn es Texte versammelt, die abschätzig oder gar abfällig über das Stück reden, das gespielt werden soll. Folglich ist es folgerichtig und logisch, wenn Gerda Binder, die Dramaturgin, die es redigierte (im Impressum gleich ein t zu viel an ihrem Namen) mit sicherem Griff jene Kritik zum teilweisen Nachdruck herausgriff, die die schwärmerischste, die begeistertste von allen ist, die es gibt seit der Uraufführung 1911. Der Name des Kritikers hat Klang bis heute, auch wenn es mittlerweile einer ganzen Kritiker-Spezies als bildungsbürgerlich gilt, das überhaupt noch zu wissen oder gar zu verwenden im Sinne der Anklage: Siegfried Jacobsohn. Die „Deutsche Montagszeitung“ druckte seine Besprechung am 27. November 1911, drei Tage später sah auch Herbert Ihering seine Meinung öffentlich gemacht, sie war nicht annähernd so begeistert wie die seines Kollegen. Nur die überragende Leistung von Albert Bassermann, dem ersten in einer bis heute sehr langen Reihe von Darstellern des Oberlehrers Heinrich Krull, zollten beide ihren uneingeschränkten Respekt, wenngleich Jacobsohn auch darin leicht schuldbewusst schwärmte.

In Meiningen ist Renatus Scheibe der Oberlehrer, der gleich zu Anfang auch einmal Herr Professor genannt wird. Seit ich Scheibe in Kleists „Amphitryon“ sah, kann ich nie die Erwartung ganz in mir unterdrücken, er müsse immer so sein auf der Bühne wie dazumal, was natürlich reiner Unfug wäre und eine ganz unsouveräne Erwartungshaltung meinerseits. Damals lachte ich, bis der Notarzt drohte, jetzt aber, ich will es gleich gestehen, lachte ich gar nicht. Nie, alle zwei Stunden und 15 Minuten inklusive Pause nicht. Obwohl er aussah wie ein Witzfigur, die Frisur insbesondere war weiter von einem deutschen Oberlehrer entfernt als Dreißigacker bei Meiningen vom Andromeda-Nebel. Er tat, was eine Komödienfigur tun muss, er wieselte herum, er sprach seine Sätze, genauer: das, was bei Carl Sternheim so Sätze sind in seiner Hack-Sprache, so, dass die Akzentsetzungen hörbar wurden. Nur irgendwie, irgendwie wollte kein Funke überspringen. Auch im nach Hygiene-Konzept des Hauses sitzenden Publikum waren Lacher Mangelware wie zu Beginn der Pandemie das Klopapier. Ist diese Komödie womöglich gar nicht komisch? Falls sie das jemals wirklich war?

Regisseur Tobias Rott hatte (vermutlich, ich fragte ihn nicht) gewisse Zweifel. Deshalb drückte er die fünf Akte deutlich in Richtung Schwank und Posse, griff auf die unausrottbar effektive Tür-auf-Tür-zu-Dramaturgie zurück, kombiniert mit der Treppauf-Treppab-Dramaturgie, was für ständige Bewegung auf der Bühne sorgte, für die Susanne Füller einen monochrom gelben Spielort gebaut hat. Bei Sternheim heißt es dazu „Die Szene ist fortgesetzt das bürgerliche Wohnzimmer Krulls.“ Gelb ist, wenn ich mich an mein Oberseminar zu Goethes Farbenlehre dunkel erinnere, die Farbe des Neides und Neid agiert ja in diesem Spiel. Dessen Titel-Requisit die nämliche Kassette ist, eben gerade groß genug, um Wertpapiere zu enthalten im Wert von 140.000 Mark, was vor dem Ersten Weltkrieg eine wahrhaft gigantische Summe verkörperte, für den Oberlehrer Krull beispielsweise nach 30 Jahren im Schuldienst immerhin 28 komplette Jahreseinkommen. Nun aber würde die Summe bei einer Verzinsung von vier Prozent, Krull ist ein fixer Rechner, 5600 Mark im Jahr abwerfen, das Arbeitseinkommen also mehr als verdoppeln, da kann man schon mal träumen.

Wer in christlicher Verachtungstradition alles Materiellen, sprich Niederen aufwuchs, kann der Logik des Entlarvungsstückes unreflektierter folgen als jeder andere. Denn dann sind hier folgerichtig niedere Instinkte und Motive wirksam, den nach Erbschaft Gierenden, denn um genau eine solche geht es in „Die Kassette“, entgleitet gewissermaßen jeder Idealismus, sie sind bereit, die Sternheim-Literatur wie die „Kassetten“-Kritik ist voller wiederkehrender Vergleiche, auf ihre Würde zu verzichten, sich zu erniedrigen, zu kriechen, nur am an den Inhalt der Kassette zu gelangen. Aus biographischer Sternheim-Kenntnis heraus wäre zu fragen, was eigentlich eine Erbschaft von einer Geldheirat substantiell unterscheidet, bei der der Gatte gewissermaßen die Mitgift der Gattin erbt? Sternheim war dreimal verheiratet, am längsten mit Thea, und die brachte Millionen in die Ehe, was den idealen Dichter zum Schloss-Bauer wandelte, der bei München im Eilverfahren eine bescheidene 35-Zimmer-Villa errichtete, was er ähnlich später noch einmal nahe Brüssel wiederholte. Wieviel Krull war in Sternheim, wäre die passende Neben- und Zusatzfrage.

Das neidgelbe Wohnzimmer der Meininger Inszenierung verfügt über etliche Türen und Stufen, es gibt nach hinten heraus einen Balkon, auf den sich der oben wohnende Untermieter Alfons Seidenschnur abseilen kann, wenn er seinen erotischen Abenteuern frönen will. Seidenschnur ist von Beruf Fotograf, damals noch zweifach mit ph geschrieben und er hat auch die Dame des Hauses belichtet, die die Besitzerin der Kassette, die Herrin des Geldes im Hause, ist: Elsbeth Treu. Das Bildnis von sich empfindet die Tante vorgeblich als zu anzüglich, eigentlich aber dann doch eher vorteilhaft schmeichlerisch. Nur bezahlen will sie es nicht und so nötigt sie ihren Neffen zu allerlei würdelosen Aktivitäten, die genau das erreichen sollen: nicht bezahlen zu müssen und dennoch die Bilder behalten zu dürfen. Der Fotograf argumentiert ein wenig mit seiner Berufsehre, die aber ist nicht mehr wert als alles im Hause Krull angesichts der erwartbaren Erbschaft. Elsbeth Treu hat als Köder den Entwurf eines Testamentes herumliegen lassen, die Erbgelüste in Krull zu wecken und die in Seidenschnur gleich mit, denn der käme auch in die Nähe möglichen Zugriffes.

Zu diesem Zwecke müsste er lediglich die Tochter Lydia heiraten, was er mit all seinen Künsten der Verführung auch alsbald vorzubereiten beginnt. Wäre die zweite Personalie des Abends zu sichten: Ulrike Walther als Elsbeth Treu. Sie fällt, das auf jeden Fall, aus der überwiegenden Tradition der Rollenauffassung überdeutlich heraus. Sie ist weder verhärmt noch altjüngferlich, sexuelle Frustration traut man ihr auf keinen Fall zu, noch jede Schlüsselloch-Lüsternheit nicht. Im Gegenteil: nachdem sie all ihre Auftritte eher als Grand Dame absolviert hat, erscheint sie wie eine vollendete Diva im Pelz, als zur Abba-Musik „Money, Money“ (zuerst veröffentlicht 1976, als die ganz große Sternheim-Renaissance in Deutschland nach Rudolf Noeltes Bahnbrecher 1960 im Abflauen begriffen war) eine choreographische Einlage den Abend lockert und sogar halblauten Szenenapplaus provoziert. Die Elsbeth Treu war immer, fast immer, die dankbarste Rolle der Komödie, entsprechend lang ist die Liste großer Namen, die sie verkörperten: 1968 in der DDR beispielsweise Inge Keller, später am Maxim-Gorki-Theater, bevor es postmigrantisch wurde, Ursula Werner, viel früher Adele Sandrock, später, schon nach dem Kriege Lucie Höflich.

Nein, eine Fehlbesetzung war Ulrike Walther nicht. Sie war eben die ganz andere Elsbeth. Deshalb auch blieb ihr keine Szene mit einem Notar, den der Regisseur gestrichen hat. Beider Dialog war früher oft Kabinettstück von Inszenierungen, den Ehrgeiz entfaltete man in Meiningen gar nicht erst. Dafür gab es vorn links vom Zuschauer aus gesehen, ein echtes Festnetztelefon, an dem sie ihre maßgebende Aussage zum Thema Verwandtschaft sprechen durfte: „Wirklich, Verwandte, mein lieber Herr Notar, sind zu Lebzeiten etwas so Widerwärtiges, dass der Verkehr mit ihnen durch den Tod ein für allemal geendet sein muss.“ Warum diese lebenspralle, diese imposante Elsbeth Treu in Meiningen überhaupt an Sterben und Tod denkt, bleibt ein Rätsel der Inszenierung. Ein Rätsel des Stückes vor jeder Aufführung ist es, warum die junge Fanny (Evelyn Fuchs) sich an diesen Mann mit Hosenträgern und Bauch gebunden hat, der bequem ihr Vater sein könnte und ja auch tatsächlich eine nicht sehr viel jüngere Tochter aus erster Ehe, Lydia, hat (Nora Hickler). Heinrich Krull plustert sich, begönnert seine junge Frau, spielt den großen Liebhaber, fast den Sex-Protz.

Warum sich niemand die leicht transportable und noch leichter versteckbare Kassette einfach schnappt und das Weite sucht, bleibt offen, womöglich sind die Papiere in ihr ja an die Person gebunden. Auf alle Fälle würde keine Versicherung den Verlust bezahlen, weil die Kassette den Diebstahl ja geradezu provoziert: solche Papiere gehören in einen Banktresor. Bei Sternheim aber gib es zu ihr einen leicht kopierbaren Schlüssel, bei Sternheim schleppt der Oberlehrer sie mit sich herum, hält sie phasenweise im Arm wie ein Baby, das tut auch Renatus Scheibe, man muss ihm keinen Vorwurf daraus machen, dass andere Oberlehrer vor ihm diesen nahe liegenden Einfall auch schon hatten. Am Ende werfen alle die Papiere hoch und herum und lassen sie flattern, man sah dergleichen in Filmen immer wieder einmal: wir leben im Zeitalter der Filmbilder. Worüber sich die Sternheim-Betrachter nicht einigen können: Wie gut oder schlecht ist seine Entscheidung, das am Ende des dritten Aktes für die Zuschauer schon zu enthüllen, was den Erbschleichern des Spieles bis zum Schluss verborgen bleibt: Elsbeth Treu vermacht all ihr bewegliches Habe der Kirche.

Ich stehe an der Seite derer, die das nicht frevelhaft finden, gar dramaturgisch als Fehlgriff: ganze Serien von Krimis (Columbo), ganze Reihen von Film-Noir-Streifen (Claude Chabrol) leben davon, dass der Zuschauer schon mehr oder gar alles weiß, was im Film erst ermittelt oder Schritt für Schritt geklärt werden muss für die Agierenden. In der DDR ist Sternheim gedeutet worden als einer, der den sterbenden, faulenden Kapitalismus am Exempel vorführte, deshalb schon bald nach dem Krieg an den Kammerspielen des Deutschen Theaters eine „Kassette“. Als wäre nicht auch in allen Jahren des real vor sich hin existierenden Sozialismus das Erben ein guter Grund für Streit, Familienzerfall, Hass und sogar Straftat geblieben. Nun gut, das hat kurz vor dem allgemeinen Jubel über den siegreichen Kapitalismus in Gestalt und Farben des vereinten Deutschlands nur noch marginale Bedeutung, Wichtiger scheint heute, Männerrollen in Frauenrollen und umgekehrt zu wandeln. Tobias Rott macht aus der Emma Sternheims einen Ernst, der passend tuntenrosa die Bühne besiedeln muss. Wenn ihn der Fotograf beflirtet, wie er bei Sternheim sie beflirtet, dann ist das eben Gender-Vollzug, hinterher eilender Zeitgeist-Gehorsam. Man gewöhnt sich langsam dran.

Für Vivian Frey, der den Seidenschnur spielt, hat das die Konsequenz, dass er mindestens den Bisexuellen zu geben hat, idealerweise jenen, der für sich im neuen Ausweis das D beansprucht und eine eigene Toilette im wirklichen Leben, wo er an ungeraden Tagen im Sitzen, an geraden im Stehen pinkelt. Er hat auch die ausgedehnteste Gelegenheit, Corona-Distanzen zu spielen, das unfreiwillig komischste in der ganzen Inszenierung: man küsst aus anderthalb Metern Entfernung schnutig in die Luft, man tritt einen weiten Schritt zur Seite, wenn man gemeinsam vom Balkon ins Wohnzimmer kommt. Corona-Pantomime auch zwischen Renatus Scheibe und Evelyn Fuchs, als es die Halskette aus dem Ausschnitt zu holen gilt. Der Transgender-Emma-Ernst, Georg Grohmann, muss auffällig oft auffallend seinen Hintern in Richtung Publikum recken, einmal sogar nackt, was einige weibliche Kleinlacher provoziert. So geht es hin. Dass das Premieren-Publikum selbst bei ausgedünnten Reihen juchzt und juchzt, als wäre die Hütte voller Claqueure, sei den Agierenden auf der Bühne gegönnt. Das große Erlebnis ist „Die Kassette“ nicht, vor allem wohl nicht mehr.
www.meininger-staatstheater.de


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