Shakespeare: Hamlet; Landestheater Coburg
Noch um 22 Uhr dachte ich: Oh, hier versucht einer einmal etwas ganz Verrücktes, er lässt den „Hamlet“ spielen und streicht den berühmtesten aller Shakespeare-Monologe. Dann röchelte der junge, rothaarige Hamlet sein Leben aus wie auf einer guten Opernbühne, wo singend gestorben wird. In Coburg ist man an diesem Oktoberabend mehrheitlich sitzend tot, liegen war gestern. Und immer noch kein Monolog. Dann aber tritt der wie Horatios Geist steif wandelnde Horatio in seinem langen Wandelmantel näher zur Rampe und hebt an: „Sein oder Nichtsein“, man sinkt zurück, „Der Rest ist Schweigen“ naht in Eile. Noch auf dem Weg zum parkenden Kritiker-Wagen auf dem ohne die früher üblichen freundlichen Schülerlotsen chaotisch bestandenen Schlossplatz bilden sich erste Sätze fragender Art. Die häuslichen Umstände erlauben erst später, Anregungen des Programmhefts ernst zu nehmen und, im ersten Zugriff, den zitierten „Schriftsteller T. S. Eliot“ zur Hand zu nehmen. Tatsächlich hat der einmal, 1919 war es, genauer gesagt, zum „Hamlet“ geschrieben: „Es ist die „Mona Lisa“ der Literatur.“ Der stärkste Satz des Essays ist das nicht, denn er setzt still voraus, was die „Mona Lisa“ der Malerei sei, die wohl jeder zu kennen meint, aber eben nicht, was sie zu bedeuten hat oder scheint. Rezipiert wird in der Regel ihr rätselhaftes Lächeln.
T. S. Eliot war nicht irgendein Schriftsteller, 1948 erhielt der in Missouri geborene Amerikaner, der 1927 britischer Staatsbürger wurde, den Literatur-Nobelpreis. Und sein Aufsatz, knapp sieben Druckseiten nur umfassend, ist, das darf man mit Fug und Recht sagen, eine buchstäbliche Granate in der unübersehbaren Hamlet-Literatur. „Die Bibliographie der Abhandlungen und Studien über Hamlet ist zweimal so dick wie das Warschauer Telefonbuch.“ Schrieb schon vor Jahren der polnische Shakespeare-Kenner Jan Kott. Die Bibliographie, wohlgemerkt. Die Abhandlungen und Studien selbst füllen inzwischen Eisenbahnwaggons, ganze Völker reden sich zwischenzeitlich ein, eine Hamlet-Natur zu haben, idealerweise gleich noch verkoppelt mit einer Faust-Natur. Wir ahnen, welche Völker das waren. Nun denn: entscheidend bei T. S. Eliot ist aber keineswegs, dass Hamlet in seiner Mona-Lisa-Deutung „auf den immensen Stellenwert des Werkes für unsere Kultur und unser gesamtes Kunstverständnis“ verweist. Entscheidend ist, dass Eliot den „Hamlet“ für ein misslungenes Werk Shakespeares hält, der der selbst gestellten Aufgabe, aus den Vorlagen sein eigenes Werk zu machen, nicht gewachsen war. Nach den sieben Seiten Eliot vergaß ich alles, was mir zum Premierenabend eingefallen war, statt dessen glaubte ich, eine Ahnung von den Absichten Matthias Straubs gewonnen zu haben. Plötzlich machte der Einstieg am weißen Kreuz viel Sinn.
Regisseur Straub hat für sich und seine Spieler, für sein zu erwartendes Publikum natürlich auch, eine Erkenntnis umgesetzt, die auch schon wieder viele Jahre auf dem Buckel hat: „Den ganzen Hamlet kann kein Schauspieler spielen und kein Regisseur inszenieren.“ Das schrieb 1956 der große Österreicher Friedrich Torberg, nachdem er in der Josefstadt den „Hamlet“ Lothar Müthels gesehen hatte mit Oskar Werner in der Titelrolle. Und setzte gleich noch dies hinzu: „Den ganzen Hamlet in seiner Fülle und Schwere, in der unendlichen Vielfalt seiner Aspekte und Bedeutsamkeiten wird man durch eine Darstellung auf dem Theater niemals erfahren, auch durch die umfänglichste und geglückteste nicht.“ Das darf man in Kenntnis späterer Versuche auch auf den berühmtesten von Andrea Breth im Burgtheater beziehen. Alle 4000 Verse straff gesprochen, braucht es vier Stunden, alle Verse gespielt und gesprochen braucht es sechs Stunden. So haben es eifrige Menschen ausgerechnet und ausgetestet. Wer sich also dieses längste Drama Shakespeares vornimmt, muss sich selbst nur die eine Frage stellen: Welcher Linie soll meine Text-Fassung, die immer eine stramme Kürzung sein wird, folgen? Es scheint, als sei Matthias Straub den Überlegungen Eliots gefolgt, der mit Überlieferungsschichten argumentierte und vor allem den „Hamlet“ von Thomas Kyd einbezog. Demnach geht es zunächst vor allem um den unlösbaren Sohn-Mutter-Konflikt.
Diese Entscheidung der Regie führt in Coburg dazu, dass der rothaarige Hamlet (Florian Graf) mit dem Monolog aus der zweiten Szene des ersten Aktes anhebt: „O schmölze doch dies allzu feste Fleisch ...“. Vorn rechts steht ein weiß getünchtes Holzkreuz für das Grab des alten Hamlet, für heutige Begriffe andeutend, dass der Tod des Königs Hamlet noch nicht lange her ist, nicht lange genug für ein ordentliches, einem König würdiges Grabmal jedenfalls. Was der junge Hamlet der Mutter vorwirft, ist in erster Linie die rasche Heirat mit Claudius, dem Bruder des alten Hamlet. Da die Eröffnung der Tragödie mit dem Erscheinen des Geistes von Hamlets Vater gestrichen ist in Coburg, muss der Zuschauer warten, bis er auch den zweiten, den gewichtigeren Vorwurf Hamlets, serviert bekommt: Florian Graf referiert seinem Freund Horatio (Benjamin Hübner) den Hergang mit dem Geist und dessen Vorwurf gegen den jetzigen König Claudius (Frederik Leberle): es ist der Vorwurf des Brudermordes. Dass Mutter Gertrud (Eva Marianne Berger) keine Mitwisserin der Mordtat war, enthüllt sich viel später erst: bei Shakespeare wie auch in Coburg. Hier spätestens muss leider gesagt werden, dass Eva Marianne Berger die Schwachstelle der Inszenierung ist. Nur manchmal, sehr selten, wenn sie leise Töne bringen muss, ist sie besser. Sonst aber scheint sie der Rolle der Königin und Mutter dieser Inszenierungsabsicht kaum gewachsen, sie bewegt sich falsch.
Sie muss nicht majestätisch daherschreiten mit steifen abgewinkelte Armen. Nicht einmal während der gesamten zweieinhalb Stunden des Abends (inklusive Pause) ahnt man als Zuschauer, was diese ja keineswegs alte Mutter an diesen ja keineswegs alten Brudermörder und neuen König bindet, beide sind eben kein mörderisches Duo wie Macbeth und seine Lady. Wenn der ahnungslose Rotschopf argwöhnt, erotische Bedürfnisse könnten es kaum sein bei seiner Mutter, dann ist er eben ahnungslos. Frederik Leberle muss seinen Claudius fast komplett buchstäblich von oben herab sprechen und spielen. Der Bühnenaufbau (Till Kuhnert) erinnert entfernt, aber deutlich genug, an eine Burg und dort steht Leberle eben meist oben. Eine vor Jahren von der Britin Jenny Farrell (Shakespeares Tragödien. Eine Einführung) vorgeschlagene Gegenspiel-Lesart mit Hamlet als Repräsentanten des neuen Humanismus (er kommt wie Horatio aus Wittenberg!) und Claudius als Verkörperung des alten Macchiavellismus ginge in Coburg nicht auf, denn dann hätte die Zeit nicht nur in einem vorbeirauschenden „Zitat“ aus den Fugen sein dürfen. Aber schon bei Shakespeare ist sein „Dass ich zur Welt, sie einzurenken, kam“, eher Schiller als Shakespeare. Dieses Jugendpathos erfahrungslosen Größenwahns macht sich auf Bühnen sicher immer gut, im Leben ist es Blindheit. Niemand erwartet von einem Feuerkopf wirklich Weltrettung, die ist niemals Einzelunternehmen.
Wer seinen Shakespeare kennt, weiß, dass dieser Hamlet, mit oder ohne rote Haare, die sehr theatergerechte Idee hat, dem Königspaar ein Schauspiel vorführen zu lassen, das beiden ihre Tat vor Augen führt. Bei Shakespeare ist, er war einmal so schön dabei, gleich noch eine mehr als nur halbe Theatertheorie angedockt, die in Coburg fast, aber nicht ganz gestrichen ist. Horatio soll die Reaktionen von Claudius und Gertrud beobachten und daraus ein Schuldeingeständnis ablesen. Hier mag ich ohne Einschränkung die Coburger Spielidee in hohen Tönen loben: Hamlet und Ophelia (Marina Schmitz) verwandeln sich in die auf zwei geschrumpfte Schauspielertruppe und agieren ein Schattenspiel, das eine Urweisheit allen Theaterspiels schlicht und unprätentiös praktiziert: „Warum solchen Treffer weltanschaulich verbrämen? Gelobt sei, was das Theater bunt macht!“ schrieb einst der Berliner Kritiker Friedrich Luft, wenngleich nicht auf einen Hamlet bezogen. Es sei deshalb besonders gern zitiert. Und hinzugefügt: dass Hamlet und Laertes (Philipp Rosenthal) tatsächlich auf der Bühne fechten, hat schönsten Eigenwert. Ob Fechtunterricht noch immer zu den Basics der Schauspielausbildung gehört, weiß ich nicht. Wenn ja, verkümmern diese Fertigkeiten, die heute Kompetenzen heißen dürfen, ohne dass das Ersatzwort mehr sagt als das Ersetzte, mangels echter Bühnennachfrage. Heute knallen Knallpistolen, wenn von Dolchen und Schwertern die Rede ist.
Auch in Coburg stirbt Polonius (Niels Liebscher), der Vater von Laertes und Ophelia, den Lauscher-Tod. Bevor es dazu kommt, hält er eine Bahn Tapete hoch und verkündet, sich dahinter verstecken zu wollen. Das bringt Lacher an der falschen Stelle. Liebscher spielt seinen Polonius so intensiv, so detailreich, dass er nicht nur phasenweise alle anderen fast an die nicht vorhandene Wand spielt: er hantiert mit seinem Notizbüchlein, lässt die Brille auf der Nase rutschen, ist zerstreut und klug, weitschweifig und vergesslich, man folgt ihm gebannt. Dass Tochter Ophelia ihm auch folgt, als er sie drängt, Hamlets Werben zurückzuweisen, muss man sich eher aus dem eigenen Wissen um Rollenverteilung in der Zeit als aus dem Spiel der beiden herholen. Ihr echter Wahnsinn gleicht wohltuend nicht dem gespielten Wahnsinn Hamlets. Matthias Straub hat zwei Darstellern je drei Rollen anvertraut: Benjamin Hübner ist Horatio, Rosencrantz und der erste Totengräber, Philipp Rosenthal ist Laertes, der erst nach Paris geht und dann wieder da ist, um sich in die Mordpläne von König Claudius einbauen zu lassen, ist Guildenstern und der zweite Totengräber. Als letzterer hat nur ein kurzen Auftritt, die Show bekommt Benjamin Hübner. Beide in den Rollen der schleimigen Ex-Freunde Hamlets setzen zu sehr auf reine Komik, sie wieseln über die Bühne, als hätten sie Willfährigkeit und nicht anderes zu zeigen. Als Laertes ist Rosenthal auch eher zu fix in Aktion.
Hat man dagegen Hübner in der Totengräber-Rolle gesehen, ahnt man, warum er den Horatio so zurückgenommen zeigt, fast wie der steinerne Gast schreitet er umher. Er wollte sich selbst den Kontrast gönnen und es ist ihm gelungen, es überzeugt. Dass er den berühmtesten aller Monologe Shakespeares zum Schluss sprechen darf, der aus dem dritten Akt stammt, gehört zu jeden Text-Revisionen, die den Willen der Regie zeigen. Hamlet richtet seine Fragen nicht mehr an die Welt und sich, er sitzt tot auf der Treppe, nachdem er Claudius getötet hat, Gertrud starb an ihrem Gift. Fortinbras, vor Jahren in Meiningen noch in einen Helmut Kohl verwandelt, der blühende Landschaften versprach, ist in Coburg nicht mehr existent, Hamlet bezieht sich nicht auf ihn als den kommenden König. Horatio aber hört noch den Auftrag, die Geschichte Hamlets zu bewahren und weiterzusagen: Narrativ-Bildung heißt heutig der Auftrag des Frühverstorbenen. Dass auch bei Ophelia die leisen Töne die stärkeren waren, soll nicht verschwiegen werden, auf eine milde Pausbäckigkeit darf Marina Schmitz in weiteren Aufführungen durchaus verzichten. Florian Graf könnte die Art seines Umgangs mit denen, denen er sich gleichstellt, noch deutlicher von seinen sonstigen Reden absetzen. Bei Shakespeare scheiden sich die Arten des verbalen Umgangs in Prosa und Vers, was Sinn macht und trägt. Das Premierenpublikum war angetan, ich letztlich auch.
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