Schiller: Wilhelm Tell; DNT Weimar (2)

Es begab sich, dass aus dem höheren Norden Europas ein Mann in die südlicher gelegene Deutsche Demokratische Republik reiste, ein kleines Land, an das von dessen überlebenden Einwohnern etliche mit Grausen, etliche mit gespieltem Grausen und nicht wenige voller Nostalgie denken. Die jüngeren von ihnen haben nur gefilterte oder gar keine Erinnerungen mehr. Der Mann kam aus Dänemark, einem ebenfalls kleinen Land, dessen Bewohner im Gegensatz zu denen der DDR nahezu ständig geflaggt haben und dazu gar nicht der Anregung höherer Stellen und Personen bedürfen. Der Mann war ein leibhaftiger Professor der Universität Aarhus, Universitet schreiben die Dänen, und vertrat das „Institut for Germansk filologi“, was man wohl nicht übersetzen muss. Er reiste nach Jena, wo eine seit 1934 nach Friedrich Schiller benannte Universität, an der Friedrich Schiller einst eine Professur inne hatte, eine Konferenz abhielt. Sie war dem 225. Geburtstag von Friedrich Schiller gewidmet und dauerte vom 4. - 7. November 1987. Der Mann hieß Leif Ludwig Albertsen, war am 28. Januar 1936 geboren und überlebte die DDR um ein Viertel-Jahrhundert: Er starb am 30. Juli 2016. Ein komplettes Jahr brauchten die „Weimarer Beiträge“, im Untertitel „Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie“ genannt, bis sie ihren Lesern endlich einen Kongress-Bericht präsentieren konnten, verfasst von Sigrid Lange aus Jena.

Erst in der zwölften, vorletzten Spalte ihres an Korrektheit, Ausgewogenheit und deprimierender Langweiligkeit leidenden Rückblicks fällt der Name Leif Ludwig Albertsens. Seinen Beitrag ordnet Sigrid Lange den Genreuntersuchungen zu, womit sie natürlich nicht völlig unrecht hat. Zugespitzt könnte man sogar behaupten, dass Genreuntersuchungen zu den traditionellen Korsettstangen germanistischer Literatur-Schnürversuche gehören: ob etwas ein Lustspiel oder eine Komödie sei, eine Novelle nach der Falkentheorie oder ein Roman nach dem Fischgrätenmuster, das macht die Brüder und Schwestern im Geiste mobil, hält sie in Bewegung, während der Rest der Welt entweder liest oder nicht liest, hört oder nicht hört. Albertsen gab seinem Konferenz-Beitrag die Überschrift „Ein Festspiel und kein Drama. Größe und Grenzen der volkhaften Vaterlandsphilosophie in Schillers „Wilhelm Tell“. Bis ihn Leser vor Augen bekamen, die nicht Teilnehmer der Konferenz waren, vergingen weitere zwei Jahre. Und auch wenn Sigrid Lange 1985 die Publikation der etwa 90 Beiträge im Aufbau-Verlag angekündigt hatte, hielt dieser Verlag sich keineswegs an diese Ankündigung. Weniger als die Hälfte der 90 Beiträge, genau 40 nämlich, erschienen 1987 im Buch „Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs. Zugänge Dichtung Zeitgenossenschaft“. Meinem Exemplar liegt eine handschriftliche Fehlerliste bei, datiert: 28. 9. 1988, Verfasser Jochen Golz.

Golz wird im kommenden März bei hoffentlich guter Gesundheit seinen 80. Geburtstag feiern, er war lange Mitarbeiter am Institut für Klassische Deutsche Literatur der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten (NFG), nach dem Hinscheiden der DDR avancierte er zum Direktor des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar und wurde dann für zwanzig Jahre Präsident der Goethe-Gesellschaft. Wie seine Handschrift in mein Buch kam, weiß ich bis heute nicht, er würde es mir vermutlich auch nicht sagen können. Was ich aber sagen kann: Wer den dänischen Konferenz-Beitrag aus dem Jahr 1984 kennt, hat unter günstigen Umständen ein paar Schwierigkeiten weniger, mit dem „Wilhelm Tell“ Schillers umzugehen, den Mehrheiten, die darüber überhaupt reflektieren, aus ganz anderen Gründen für schwierig halten. Albertsens Kernthese steht in der Überschrift: es handle sich nicht um ein Drama, sondern um ein Festspiel. Sonderlich viele Argumente für seine These trägt er am Ende gar nicht zusammen, weil er sich viel zu lange mit einem „Tell“ befasst, den Goethe nie geschrieben hat, den er aber behandelt, als wäre er geschrieben worden und danach bei Gottfried Keller hält, der in seinem Roman „Der grüne Heinrich“ von einer „Tell“-Inszenierung berichtet (mit Unterbrechungen) und das als Kritik an Schillers „Wilhelm Tell“ deutet, was unterstellt, dass Keller einen Roman brauchte, um Schiller zu kritisieren. Nein, der Zürcher hätte direktere Wege gehabt.

Und ist sie auch gegangen, ich verweise auf Kellers kleine Schriften „Am Mythenstein“ und „Das Schillerfest am Mythenstein“ (vgl. dazu: http://www.eckhard-ullrich.de/meine-schweiz/3339-gottfried-keller-am-mythenstein). „Es geht darum, nachzuweisen, dass man Schillers „Wilhelm Tell“ gerechter betrachtet, wenn man an ihm die Elemente des Festspiels hervorhebt, als wenn man ihn betont als politisch-philosophisches Drama interpretiert. Er war von Anfang an mehr ein Festspiel als ein Drama.“ Dass diese These des Dänen, wie zu vermuten ist, nicht den rauschenden Beifall der marxistisch-leninistischen DDR-Germanistik fand, ist nachzuvollziehen. Wenn bei Schiller in der zweiten Szene des vierten Aufzugs der alte, langsam vor sich hin sterbende Attinghausen sagt: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“, dann klang das manchem DDR-Ohr wie ein Vorentwurf von Johannes R. Bechers Nationalhymne: „Auferstanden aus Ruinen“. In Weimar kriecht der sterbende Attinghausen (Sebastian Kowski) nach vorn zum Bühnenrand, gefolgt vom kleinen Walter Tell (Arjen Poller) und die sonst sehr disziplinierten, erst nach der Pause etwas schwatzhafter werdenden Schüler fanden das zum Kichern. Etliche saßen unmittelbar neben mir im Rang. Womit wir bei der Inszenierung von Jan Neumann wären, die am 1. Februar 2019 Premiere hatte und immer noch läuft. Gut?

Was aber wäre gut in Corona-Zeiten? Meine Vorstellung war ausverkauft und dennoch mindestens halb leer. Sie war auch etwa zehn Minuten kürzer als die Premiere und der freundliche junge Mann an der Garderobe warnte mich vor: es seien sehr viele Schüler da und so kamen wir ins Gespräch. Schiller und Schüler, vor allem „Kabale und Liebe“, das wohl kaum so oft inszeniert würde ohne den Bedarf der Schulen an Anschauungsunterricht. Schüler in Weimar auf alle Fälle erscheinen sehr gut angezogen, festlich geradezu – das fällt aus Sicht der Garderobe sicher noch besonders auf und ins Auge. Für mich hat ihre Anwesenheit den Vorteil, eine Einführung hören zu dürfen, munter und pädagogisch zielgruppenorientiert gesprochen von Beate Seidel, der Chefdramaturgin. Sie stellte, was mich freute, mehr das Stück als die Absichten vor, die der Haus-Regisseur Jan Neumann damit verband. Zu ihm und zum von ihm verantworteten Geschehen auf der Bühne habe ich mich anlässlich der Premiere hier geäußert, es ist noch immer nachzulesen und meinerseits weder zu revidieren noch extensiv zu erweitern. Dafür weiß ich nun, was ich vorher nicht wusste: In Schwerin anno 1989 war „Wilhelm Tell“ (oder: soll gewesen sein?!) so etwas wie ein Auslöser der Revolution; der friedlichen, wie wegen der Sprachregelung zu ergänzen wäre. Also ist, was ich in der Schule noch lernen durfte, doch wahrer als gedacht? „Kunst ist Waffe!“ schrieb Friedrich Wolf.

Nimmt man die Zahl aller zu einer Revolution animierenden Bühnenwerke und setzt sie ins Verhältnis zu allen tatsächlich angezettelten Revolutionen, dann ergibt sich ein erschütterndes Missverhältnis. Es gab in der Geschichte letztlich nur ganz wenige Revolutionen, die man ohne Bedenken solche nennen kann, da muss man die friedlichen schon einrechnen. Wir in Deutschland, das links immer „dieses Land“ genannt wird, weiter rechts ab der Mitte etwas wunderlicherweise gern „unser Land“, lieben Revolutionen um so mehr, je weiter weg sie stattfinden und wenn man ihre Nennung mit den Namen exotischer Großplätze verbinden kann. Die Revolution in Schwerin im Anschluss an „Wilhelm Tell“ passt zu Schillers Theorie von den Aufgaben der Schaubühne wie Tell selbst auf die zum See abfallende Rütli-Wiese: nämlich gar nicht. Was stimmt: Tell hatte seltsame Nebenwirkungen: Fontane erlebte, wie in den Pausen nationales Liedgut orchestriert wurde, Friedrich Torberg hörte tobenden Beifall in Wien, nicht, weil die Inszenierung auffallend gut gewesen wäre, sondern weil gerade der österreichische Staatsvertrag (noch) gescheitert war, man der Freiheit applaudierte, die, wie Torberg scherzte, alle zwanzig Verse auftritt bei diesem Schiller. Für Schüler wichtiger: Handlungsstränge: drei wahrzunehmen empfahl Beate Seidel: eine zeigt eine Schule der Demokratie, eine die verwandelnde Kraft der Liebe, und eine den Titelhelden.

Und da gehe es um gerechten und ungerechten Mord und wie politisches Handeln entstehe. Torberg hat es 1964 mild boshaft so formuliert: „So nett ist dieser zögernde Freiheitsheld nämlich nicht. Wenn man es recht bedenkt, findet er sich ja erst dann zum Eingreifen gereizt, als es ihm selbst an den Kragen und ans Familienleben geht.“ Wie viele friedliche Revolutionäre hatten vor allem kein Baumaterial für ihr Eigenheim oder keinen Studienplatz für ihren Sohn bekommen, ich kannte einen, den trieb der Mangel an Rotkraut in der Konsumkaufhalle vor der Jugendweihe der Tochter zum Ausreiseantrag? Nach der Revolution wurde er Hilfspflasterer in einer postrevolutionären Tiefbaufirma aus den uralten Bundesländern. Gut also: materielle, sprich: niedere Motive haben in Kunst und Literatur keine Lobby, weil es dort edel zugehen muss (und gut auch noch) und wenn es funktioniert, darf es zusätzlich gern schön sein. Zwei Jahre nach der Uraufführung haben die roten Basecaps, an Donald Trump erinnernd, etwas Staub angesetzt, die Herren Walter Fürst und Werner Stauffacher haben immer noch einen heftigen Stich ins Sozialdemokratische, was sie aus alter revolutionär-kommunistischer Sicht herabsetzen würde. Wer aber vertritt solche Sicht heute im Brustton der Theorie, die an der Praxis gescheitert ist? Humor versprach die Chefdramaturgin den Schülern auch: er kam, als Rudenz seiner Bertha eine Fete in Spanien ohne 2 G Plus versprach.

Er nahm die Gestalt eines Akku-Schraubers in den Händen von Tell an und in der finsteren Drohung von Mutter Tell gegen Gatten und Sohn: es gäbe sechs Wochen Veganes zu Mittag und zu Abend, wenn beide wirklich nach Altdorf gingen. Diese Lachanlässe gäbe es im Großmarkt, wenn es denn einen gäbe für dergleichen. Unklar ist mir immer noch und das ist Schillers Schuld, wie rasch vor allem Ehefrauen, aber auch andere, die nicht dabei waren, von den Details der ach so geheimen Verschwörung auf der Wiese erfahren haben müssen. So schnell ist heute in deutschen Landen immer noch nicht das Internet. Dass die Hände vorm Gesicht des Wilhelm Tell am Ende in die griechische Antike weisen, müssen womöglich die Lehrer und Lehrerinnen der Schüler und Schülerinnen diesen erklärend nachtragen, denn solche Geste hatte ikonisch-symbolischen Gehalt. Vormals. Hedwig Tell ist nicht zugegen, als Wilhelm dem Kaisermörder die Unterschiede erläutert, folglich kann er sie auch nicht auffordern, den „Attentatskollegen“ (Torberg) zu erfrischen und reich mit Gaben zu beladen, weil sein Weg weit sei. Tell als Fluchthelfer macht sich eben gerade nicht sehr gut. Als Lichtgestalt sieht er in Weimar aus wie von Fidus gezeichnet am Ende und als „Heil!“ gerufen wird, kommt man noch auf ganz andere Gedanken. Den Schülern gefiel es so, dass einer sogar buhte im Parkett, während alle anderen klatschten. Und ich? Siehe oben, siehe Februar 2019.
www.nationaltheater-weimar.de


Joomla 2.5 Templates von SiteGround