Eugene Ionesco: Die Nashörner; Staatstheater Meiningen
Vielleicht wäre das Stück „Die Nashörner“ gar kein Werk des absurden Theaters mehr, wenn es den Konsequenzen seines eigenes Spielvorwurfs hartnäckig gefolgt wäre. Wofür stehen Nashörner? Wofür können Nashörner allenfalls, bestenfalls stehen? Ionesco selbst hat Deutungen nicht widersprochen, sie sogar selbst befördert, es gehe hier um ein System, womöglich um Systeme eines bestimmten Typus. Wenn das Stück 1958 entstand, dann geisterte da insbesondere in dem Sprachraum, der der Welturaufführung in Düsseldorf Asyl gab, ein proteusartiges Schlagwort durch Köpfe und Hirne: Totalitarismus. Hannah Arendt, die Folgenreiche, die angeblich auch das nie angemeldete Patent auf die Banalität des Bösen besitzt, lieferte Theorie und Phänomenologie zum Hausgebrauch. Eine der denkbaren inneren Konsequenzen mündet in die unabweisliche Frage: War das erste Nashorn, mit einem oder zwei Hörnern, aus Afrika oder Asien, noch ein echtes Nashorn oder schon ein zum Nashorn mutierter Mensch: auf gut Goethe: das Produkt ein Eilmetamorphe sui generis? Trügen Menschen demnach den Keim, die Sequenz der DNA in sich, um angelegentlich zum Hornwuchs oberhalb der Nase zu tendieren? Dann wäre alles Biologie, gar nichts aber System.
In einem Land, in einem Staat, da der Wiedergewinn der Bürgerlichkeit als Fortschritt zur Freiheit staatsoffiziell gedeutet wird, scheint es, milde gesprochen, sehr kurios, ausgerechnet Ansätze des Antibürgerlichen aus der Mottenkiste zu klauben. Ionesco hat, als „Die Nashörner“ noch so frisch waren, dass sie dem französischen Publikum irgendwie schmackhaft gemacht werden mussten, sich dazu bekannt, ein Autor von Lehrstücken zu sein. Und weil natürlich auch damals schon hinreichend viele Menschen beim Wort Lehrstück reflexartig an Brecht denken mussten, ergänzte er mit verschmitzter Dreistigkeit: „Ich Nichtwisser kann keine Lehrstücke schreiben. … Wirklich, man kann nur Lehrstücke schreiben, wenn man alles weiß. Eine Anmaßung, Lehrstücke schreiben zu wollen, ohne alles zu kennen.“ Zwei Schlüsse: Brecht schrieb nie Lehrstücke, weil er nie im Leben alles wusste oder alles kannte. Niemand kann eigentlich je Lehrstücke schreiben. Was sofort die Frage nach sich zöge, wie es dann mit Lehrgedichten stehe. Die es ja gibt, glaubt man den Etiketten. Schlimm wäre, gäbe es gar keine asiatischen und afrikanischen Nashörner, nicht mit einem oder zwei Hörnern. Obwohl das wiederum der Absurdität des Dialoges auf der Bühne wohltätig wäre.
Mir behagt es, wenn ich im Theater sitze, was ich nun mehr als zwei Jahre leidlich vermisste, das Vorhandensein einer Idee zum Spiel vorauszusetzen. Die Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben, sagten wir früher, wenn wir den Büchern mit drei bis sieben Siegeln konfrontiert wurden: Glaub Vogel oder friss! Genossen haben sich in den Orkus der Geschichte verabschiedet, das Sich-etwas-dabei-Denken hat sich von ihnen abgelöst, ohne zum vollen Eigenleben zu geraten. Regie und Dramaturgie haben zuerst die Pflicht, eine bis drei Ideen zu haben, gleich anschließend stehen Bühnenbild und Kostüm bedarfsweise mit den Händen an der Hosennaht, mal helfen die einen den anderen, mal die anderen den einen auf die Geistesfüße und dann muss alles nur noch in eine innere Logik rutschen. Der Vorwurf ruft nach innerer Stimmigkeit, bisweilen ist der Ruf aber so leise, dass er kaum vernommen werden kann. Ich also, im Rang der Kammerspiele, Reihe 2 links so weit oben, dass Teile des Geschehens mir zum beleuchteten Hörspiel gerieten, sah zunächst Käfige und Kloschüsseln: Sieben Käfige mit sieben Kloschüsseln. Und ehe der Mann mit der Trillerpfeife am roten Band im Mund zuerst pfiff, klebte mein Gedächtnis optisch an der Schüssel.
Ich sah das Cover mit Frank Zappa. Dann meldete sich, zufällig vollendet das Werk in diesem Jahr sein fünftes Lebensjahrzehnt, der Name Luis Bunuel mit seinem Film „Das Gespenst der Freiheit“. Saßen da nicht, traut um einen Tisch versammelt, Menschen auf Kloschüsseln zur gemeinsamen Verrichtung des, nicht der Geschäfte, während das Essen dann separat verabreicht wurde? Nun hat sich nur noch die Idee der Kloschüsselreihe al la US-Gefängnis mit der Idee der Kleinsportgruppe zu verbinden, denn der schmale Mann mit der Pfeife, der wegen der Pfeife im Mund zunächst nur Unverständliches artikulieren konnte, kommandiert sechs Spielende aus insgesamt zwei Geschlechtern, die mit rein sportlichen und tendenziell auch mehr choreographierten Abläufen Bewegung auf die Spielfläche brachten. Ein leidlich altmodischer Kassettenrekorder, feierte nicht auch der gerade ein rundliches Jubiläum, brachte die Regietexte Ionescos zu Gehör, die im Buch im Kursivdruck vor den Dialogen stehen. So geriet beiläufig die Zeitangabe 9 Uhr und 3 Minuten in die Kammerspiele, dort noch weniger Sinn machend als im Drucktext. Absurdes Theater eben. Zur Zuordnung der Rolle Daisy nimmt der „Trainer“ eine Auszeit wie im Hand- oder Basketball.
Noch immer rächt sich, sehe ich nach reichlich zwei Jahren Zwangspause von zeitgenössischer Theaterpraxis, selbige an jenen Phasen der eigenen Geschichte, da Frauen nicht auf Bühnen stehen durften und folglich Männer alle Rollen zu spielen hatten. Jetzt gehört es zum Grundbestand, dass Frauen Männer spielen und Männer Frauen spielen. Es ist weder überraschend mehr noch anregend zum Nachdenken, es ist nichts mehr, schon Routine, reine Routine. Immerhin: in Meiningen spielte ein Luftballon ein Katze, vermutlich gab es das zwischen Flensburg und Konstanz noch nie. Und ein männlicher Mann mit langem Bart und langen Haaren spielte erst die Hausfrau mit der Katze, die dann platzend vom Nashorn breitgetreten wurde und später spielte er den Papillon, der in meiner alten mehrbändigen Ionesco-Werkausgabe von Luchterhand noch schnöde übersetzt Schmetterling ist. Die Sinnhaftigkeit der neuen Übertragung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel ist damit erwiesen. Die eingedeutschten Namen sind jetzt refranzösisiert, man hätte sie auch ins Rumänische schieben können, denn Ionesco war gebürtiger Rumäne, wie sein Name schon sagt. Ging als Kind nach Frankreich, später zurück, dann wieder nach Frankreich, wo er 1994 starb.
Also: in einer Stadt, nicht in einem Land, und sei es auch nur ein Bundesland, taucht plötzlich ein Nashorn auf, dann noch eins. Beide erzielen auf Wegen, die weder der Dramatiker noch die Inszenierung vorführen, eine seltsame Breitenwirkung. Menschen verwandeln sich in Nashörner, ihre einzige Betätigung in der Stadt aber besteht im Rennen. In Meiningen taucht weder je auch nur die Andeutung einer Nashornoptik noch einer Nashornakustik auf. Es gibt Geräuschkulissen, die man hinnehmen muss, zwischendurch dann tatsächlich auch kurz etwas Höcke-Akustik, brr, möchte man rufen: brr, brr. Oh Freunde, nicht diese Töne. Was macht das Dasein der plötzlich in Massen auftretenden Nashörner so attraktiv, dass selbst die Feinde der Elche, die sprichwörtlich früher selber welche waren, jetzt schnauben und trampeln wollen und das auch noch in vollkommen nashornuntypischer Manier als eine Art von dickhäutiger Gnu-Herde. Mir behagt es, sagte ich eben oben, wenn. Die Verbindung zwischen Sportgruppe auf Kloschüsseln und Büroangestellten eines Fachverlages für Rechtsliteratur, wie der Frankorumäne Ionesco sie zu seinem Personal machte, ist mir verborgen geblieben. Sie sollte das vielleicht, vermute ich heftig. Sonst wäre es ja, ja was denn?
Ist es längst mehr als altmodisch, in ein Theater zu gehen, um zu verstehen, was auf der Bühne abläuft? Das Geschehen sehe ich ja, wenn ich es denn sehe. Immer, wenn die Agierenden nahe an der ersten Parkettreihe agierten, sah ich sie vom Schlüsselbein aufwärts und bisweilen gar nicht. Aber ich hörte alles. Kannte die Dialoge aus eigener Stücklektüre. Im Druck sind es mehr als hundert Seiten, auf drei lange Akte verteilt. Ich hörte einige Kürzungen, was bei langen Stücken die Norm ist und bei kurzen keine Ausnahme. So war die Anspielung auf Ionesco selbst gestrichen im ersten Akt, dort soll bei Ionesco nämlich am Abend Ionesco gespielt werden. Gestrichen haben Regie und/oder Dramaturgie aus wohl reiner Feinfühligkeit die Maulschelle, die der in Bérenger verwandelt Behringer bei Ionesco seiner Daisy gibt, was den Schnelldurchlauf von 25 Ehejahren im Text bedeutete. Das absurde Theater lebt vom absurden Geschehen auf der Bühne oft weniger als aus den absurden Dialogen. Eine Groteske ist keine Komödie, auch nicht Fernsehtheater Moritzburg oder Komödienstadel bei Ohnsorg und/oder Peter Steiner. Man kann also die Witzchen, die sich der langhaarige und langbärtige Papillon mit den Namen der anderen machte, als grenzwertig ansehen.
Immerhin. Das Programmheft hat einen Auszug aus „Das Theater des Absurden“ von Martin Esslin, dort können Theorieproben genommen werden. Die kurze Hochblüte des absurden Theaters auf deutschen (und sonstigen) Bühnen ist so lange her, dass von einer kontinuierlichen Regietradition kaum die Rede sein darf. Regisseurin Sandra Bezler ist Jahrgang 1989, die Uraufführung in Düsseldorf unter Karlheinz Stroux gab es am 31. Oktober 1959. Dazwischen liegen Theaterwelten, Kritikerwelten. Nicht vermeintliche oder partiell tatsächliche, plötzliche oder stetig unerkannt vorhandene Aktualität sollte alten Stücken zu neuer Spielbarkeit verhelfen, sondern ihre pure Spielbarkeit. Da ist das gute alte Nachkriegsfrankreich bis weit in die sechziger Jahre ein fast unerschöpflicher Born, man braucht dazu gar nicht die Import-Franzosen aus Rumänien oder Irland zu rechnen. „Die Nashörner“ sind also jetzt wieder da, Vertreter einiger anderer Bühnen standen auf der Liste, die auch die leidigen Pressevertreter aufnimmt, vielleicht haben die Kammerspiele des Staatstheaters also in ein Horn geblasen. Es gab diverse spielerische Höhepunkte. Noemi Clerc als Logiker und später Daisy hatte gleich mehrere: vom rollenden Türmchen herunter den höchsten.
Evelyn Fuchs, im Personenverzeichnis als Madame le Peuple, die einen Herrn Boeuf heiratete und einige Nebenjobs hat, bezeichnet, starrt das Nashorn, das wir alle nicht sehen, auch die im Parkett nicht, mit aufgerissenen Augen an und identifiziert in ihm dann ihren Gatten, früher Ochs in der Eindeutschung. Sie will und kann sich nicht von ihm trennen und sie springt. Furios. Dann hat sie leider allerhand Leerlauf im Sportdress, den haben die anderen auch. Bei Ionesco bricht die Treppe nach oben, es gibt Diverses mit Feuerwehr und Dienstende unfreiwillig im Büro. Darauf ist in Meiningen großzügig verzichtet. Hoffentlich nicht, um den Heldenruf aller Feuerwehr seit Nine-Eleven nicht zu schädigen. Am schwersten hatten und haben es die beiden, die den Hauptanteil am Dialog über alle drei Akte tragen: Paul Maximilian Schulze und Pauline Gloger. Ganz früher gab es in Meiningen einmal einen Gotthold Gloger, Namenszufall vermutlich. Ihr Dialog trägt den Hauptstrom der Absurdität, die in der schieren Geschwindigkeit des Wortwechsels tendenziell droht unterzugehen. Der Gag muss sacken, sagt der Komödienaktivist, sonst ist er verschenkt. Aber: es ist ja keine Komödie. Weshalb Anja Lenßen übermäßig ernst agiert: als alter Herr, als jüngerer Dudard.
Als alter Herr, der Schmetterlinge sammelt, findet sie sich im Register, spielt krumm an der Seite des Logikers mit den Syllogismen über Katzenpfoten und füllt dann den dritten Akt bei Bérenger, bis Daisy kommt. Den Kloschüsseln hat die Regie nur bei den spielenden Damen ihre Urfunktion gelassen. Sie müssen bei aufgeklapptem Deckel auf der Klobrille mit mehr oder minder symbolisch oder tatsächlich heruntergelassen Hosen sitzen, was den Männern erspart bleibt. Anja Lenßen ordnet der Ablauf zudem Furzgeräusche zu. Am Ende müssen sich alle mit grauem Schlamm einreiben, was nicht die neue Nashornigkeit darstellt, sondern schon ihre Gewohnheit, in Schlamm zu baden. Hoffentlich verstopfen anschließend nicht die Abflüsse der Kammerspiel-Duschen. Zu den Akteuren gehörte auch Paul-Jakob Dinkelacker als ständig präsenter Live-Musiker, als Einsatz-Dirigent und Text-Minimalist. Für Bühne und Kostüme in Verantwortung: Diana Berndt. Die heute vielleicht wichtigste Frage des Stückes stellt Daisy zu dieser Welt: Wer sagt denn, dass sie gerettet werden muss? Es könnte ja, durchaus in der Logik des Stücks, auch sein, dass die Nashörner uns ablösen? Die Saurier hätten einst auch für die Rettung der Welt plädiert. Nach ihnen ging es weiter.
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