Süskind: Der Kontrabass, Landestheater Coburg

Ein-Personen-Stücke haben für den Kritiker einen unschätzbaren Vorteil: es ist kaum möglich, einen Darsteller zu vergessen. Wobei landauf, landab Regisseure daran arbeiten, auch alle anderen Stücke dem Ein-Personen-Level anzunähern. Nebenrollen, gar Statisten, werden kaum noch besetzt, der Tag ist nahe, da der Eleve sofort als Lear auf die Bühne muss, während der Textrest von sprechbegabten Minijobbern eingelesen wird. Ein Rhomboid in der Mitte der leeren Bühne erlaubt unterforderten Kritikern drei Spalten lange Erörterungen über den Symbolwert des Bühnenbilds. Und alles wird gut.

Coburg hat einen komischen Ehrgeiz. Das Landestheater will unbedingt immer wieder solide Arbeit abliefern. Und es gelingt ihnen. Immer, wenn ich da bin, sehe ich jedenfalls nichts anderes. Man könnte im Falle des Süskind-Wunderwerkes „Der Kontrabass“ einwenden: So einen Neuklassiker (Uraufführung 1981 in München) kriegt einfach keiner tot. Das ist ein Text, der fesselt wie er ist. Ich kenne einige andere Texte ähnlichen Kalibers, denen es trotzdem nicht hilft. Hier ist zusammen gekommen, was zusammen gehört. Eine genaue Regie (Matthias Straub), ein mätzchenfreies Bühnenbild und ein Darsteller (Stephan Mertl), der einfach stark war. Ich sah ihn als Rupert in „Die Familie Schroffenstein“, als Paulet in „Maria Stuart“. Ich sah ihn eher registrierend. Jetzt ist er alles. Er spricht den Textbatzen fast ohne Versprecher, er füllt die kleine Spielfläche in der Reithalle, taucht unter dem Kontrabass hinweg, lehnt sich auf den Kühlschrank, springt auf den Sessel, wo er den Urschrei des Stücks abzulassen hat. Und er setzt sich mit dem Rücken zum Publikum.

Ich habe kein Beispiel parat, das ich mit diesem sprechenden Rücken vergleichen könnte. Dieser Rücken und auch das Gesicht später kommentieren das E-Dur-Konzert des Karl Ditters von  Dittersdorf, das „Krönungskonzert für Kontrabaß“, wie es Patrick Süskind im Text nennt. Mehr geht kaum. Stephan Mertl beginnt sein Spiel wie einer, der verwundert ist, dass ihm Leute zuschauen, während er Bier trinkt in seinem schalldichten Musikzimmer, er kommt und verschwindet und die Zuschauer sind immer noch da. Erst dann hebt er an. Zuerst hebt er eine Flasche und erweckt den gluckernden Anschein, als würde er sie auf Ex austrinken. Immer wieder eine neue Flasche mit Plop. Es ist der Flüssigkeitsverlust des Kontrabassisten, erfahren wir, der diesen Dauerdurst verursacht. Am Ende ist es dem Darsteller gelungen, sein braunes langärmliges Unterhemd nass zu schwitzen. Das zur Schlabberhose an Hosenträgern gehört.

Und es kommt, was nur im Kindertheater noch schöner zu erleben ist. Während er sich umzieht für den Abend, zeigen zwei ältere Zuschauerinnen ihr Entsetzen darüber, ein blütenweißes neues Frackhemd über ein völlig verschwitztes, deutlich dunkleres Unterhemd gezogen zu sehen. Mich erinnert das an eine mir sehr nahe stehende Person weiblichen Geschlechts, leider nicht mehr unter den Lebenden weilend, die einst voll Empörung beobachtete, wie Marlon Brando in einem tollen und spannenden Film seine Schuhe zuband, indem er den Fuß auf eine Plüschsessellehne stellte. Was kann Theater für wunderbare Effekte auslösen. Und die Striche im Text? Die Aktualisierungen? Bei Süskind ist der Kontrabassist knapp 35, in Coburg 46, sein 47. Geburtstag liegt wie alle anderen im August, damit in den Theaterferien (das Publikum lacht an dieser Stelle). Bei Süskind wird das Jahr 1978 erwähnt, das war anno 81 noch gut erinnerlich. Coburg geht auf 1993. Der heute unbekannte italienische Dirigent der Vorlage (so schnell geht das mit den Superstars im Gegensatz zu den guten Theatertexten, die dagegen immun sind) wird durch Simon Rattle ersetzt, erwähnt wird Ann-Sophie Mutter, die Süskind damals noch gar nicht kennen konnte.

Hitler ist aus dem Stücktext gestrichen, auch Goethe, der bei Süskind durchaus eine Rolle spielt.  Furtwängler fehlt unter den Genannten, Henze und, vielleicht der fragwürdigste Strich, Mendelssohn. Womöglich erschienen der Dramaturgie die Debattenbezüge der Spätsiebziger für 2012 nur mit Untertiteln, also nicht auf der Bühne, spielbar. Es zieht dadurch ein wenig an Politik und Welthaltigkeit aus, das Ganze wird insgesamt privater. Es bleibt gut genug für einen sehr guten Theaterabend. Das Komödiantische steht im Vordergrund. Die Sopranistin Sarah, die geliebt wird, ohne dass sie davon erfährt, sie drängt sich immer wieder in die Gedanken und Sätze des Kontrabassisten. Um ihren Besuch eines Fischrestaurants, wo sie möglicherweise Seezunge für 52 gegessen hat mit einem Bürokraten (Coburg ersetzt die Süskind-Mark nicht durch Euro, die Währung entfällt ganz) baut der Darsteller ein Spiel im Spiel, Kabinettstück heißt das immer noch mangels neuerer Etikettierungsvorschläge. Das macht Spaß, das bringt das Publikum zum Lachen, fast wird es ein running gag. Die Phantasie des gebeutelten Mannes, der verbeamteter Staatsorchester-Musiker ist, sein Instrument nicht nur mit wenig Begeisterung spielt, sondern regelrecht zu hassen scheint, wie er den Abend mit Ministerpräsident in der ersten Reihe sprengt, sie reizt hörbar auch das Publikum. Im wirklichen Leben kommt es natürlich nicht zu solchen Aktionen, das „vielleicht“ gegen Spielende klingt in eben diese Richtung.

Mein Lieblingssatz im Text lautet: „... ich trau mich manchmal nicht mehr aus dem Haus, so sicher bin ich.“ Das Wort „Festanstellungspsychose“ erheitert zu Füßen der Veste Coburg. „Von Natur aus bin ich gezügelt. Nur wenn ich denke, werde ich triebhaft.“ Das erheitert mich. Ich werde auch den Gedanken nicht los, Nebenschaden meiner Jahre mit Kleist, dass das Reden über die überragende Rolle des Kontrabasses unter ausdrücklicher Nennung der Ära des Generalbasses davor mit Kleist zu tun haben könnte bei Süskind selbst. Kleist hat mit seiner nicht nur kruden Theorie vom Generalbass gegen Goethe gezielt und Süskind, in der Absicht, auch den Freunden des intertextuellen Bezuges für Feinschmecker zu dienen, eben diesen Bezug geliefert. Man kann ihn nicht fragen, er gibt keine Interviews, nur gesichtet wird er bisweilen in der Nähe seines Wohnortes.
„Der Kontrabass“ mit Stephan Mertl möge die Reithalle füllen, egal, was zeitgleich im Haupthaus gespielt wird. Bis Jahresende sind noch massig Termine angekündigt. Einer ist heute schon.
  www.landestheater-coburg.de


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