Martin Stephan: Weglaufen, Verstecken, Einfangen
Selten genug geschieht es, dass ein Schriftsteller einen anderen öffentlich gegen eine missratene Kritik verteidigt. Maria Seidemann war es in diesem Falle, die sich für Martin Stephans viertes Geschichten-Buch einsetzte und ich meine, sie hat recht getan. Noch immer lebt nämlich die längst totgeglaubte vornehme Enthaltsamkeit der Kritik Büchern aus dem Eulenspiegel-Verlag gegenüber, die bestenfalls die neue Form raschen Darüberhinredens angenommen hat, wenn es sich denn nicht vermeiden lässt. Ich teile Maria Seidemanns Ansicht, dass es in diesem neuen Buch des wohltuend unbeirrbaren Autors Martin Stephan ungeheuer viel zu entdecken gibt.
In manchen seiner kurzen Geschichten steckt mehr Substanz, als sie nicht wenige wohlbeleibte Romane auch eifrig besprochener Autoren aufweisen. Stephans Art ist es nie gewesen, seine Leser zu bevormunden, tiefe Psychologie wird bei ihm nicht herbei geredet, sondern sichtbar. Abgründe haben bei ihm die ihnen gemäße Dunkelheit, er hängt da keine künstlichen Lichter hinein. Fast das Wichtigste ist mir: Martin Stephan macht nur aus wirklichen Ideen Geschichten, keine aus diesem Buch möchte ich, im Nachhinein, lieber nicht gelesen haben und das ist eine Qualität, die in den wahrhaft flutartig auf uns zu kommenden Geschichten-Bänden nicht eben häufig anzutreffen ist.
Mir kommt auch der Autor selbst nahe, weil ich ahne: er steckt drin in diesem Zauberer Malkowski, der sich im dunklen Teil des Parkes vergrößert und verjüngt, um mit der Jugend im sonnigen Gefilde am Brunnen sitzen zu können. Er steckt drin in dem Mann, der fragt, wo denn die Möwen schlafen, den Prügel ereilt, weil er verdächtigt wird. Eine Geschichte wie „Der Auftrag“ ist eine herzbeklemmende Geschichte und von dieser Art gibt es mehrere in diesem schmalen Buch. „Familien-Puzzle“ hebe ich noch heraus, ebenso „Das Herz der Giraffe“.
Natürlich verleiten diese Geschichten zum raschen Lesen zwischendurch oder kurz vor dem Einschlafen. Doch wohnt ihnen auch eine unwiderstehliche Kraft inne, zu erneuter Lektüre zu verlocken. Dann offenbaren sie ihre Feinheiten, die unmerklichen Wendungen, an denen der Vordergrund durchsichtig wird. Szenen sind beschrieben, die eigentlich nicht beschreibbar sind und doch, lehnt man sich zurück und lässt sie wirken, getroffen. Was ist Kunst, wenn nicht das?
Kindliche Optik, der sich Stephan durchgängig bedient, bietet erstaunliche Möglichkeiten. Man stelle sich nur die fliegenden Kinder vor Augen aus „Ferienfeuer“, die sich am liebsten immer wieder retten lassen würden, nur um dieses unvergleichliche Gefühl zu verlängern! Oder den Bruder Hans, der sich in Rolands Bett legt in der aus den Urgründen des Menschseins kommenden magischen Hoffnung, er könne dort Rolands Träume träumen! Noch einer nun wahrlich nicht eben erst entdeckten Materie wie der des anonymen Hochhauslebens gewinnt Stephan eine urkomische Nuance ab, die er dann auch mit diabolischer Konsequenz beschreibt. Martin Stephan ist ein Erzähler in des Wortes ursprünglicher Bedeutung.
Zuerst veröffentlicht in „Tribüne“ Nr. 107 S. 13, 2. Juni 1989 unter der Überschrift „Geschichten, die es in sich haben“