Hermann Bahr: Wien

Es gibt Großbauten, deren Wirkung sich danach richtet, welchen Zugang zu ihnen man nutzt, was am Bau selbst natürlich nichts ändert. Hermann Bahr war ein Großbau in einer ganzen langen Periode der deutschsprachigen Literatur. Wer den Weg an der Pförtnerloge von Karl Kraus vorbei wählt, muss dennoch nicht zwangsweise die Überzeugung teilen, ein Namensschild an Bahrs Privatgemächern wäre nur noch peinlich. Kraus ist bekannt für seine manische Pflege von Phobien, Antipathien und Privatfeindschaften. Sie haben ihm herrliche Texte eingegeben, deren hervorstechendste Eigenschaft seltener Gerechtigkeit war. Langzeitwirkungen, die von ihnen ausgingen, würden ihn möglicherweise sogar verwundern. Der brachiale Verriss von Hans Weigel beispielsweise, publik gemacht ihm Jahr, da Bahrs hundertster Geburtstag in Österreich und anderswo recht aufwendig zelebriert wurde, ist so nahe bei Karl Kraus, dass man an Weigels Selbständigkeit zweifeln müsste, hätte er sie nicht hinreichend und anderwärts bewiesen. Weigels Tirade unter der Überschrift „Wenig Talent und kein Charakter“ endet mit einem Ausrufezeichen: „Wer sich zu ihm bekennt und ihn feiert, begeht in höherem Sinn künstlerischen, geistigen und politischen Landesverrat!“ Ich bekenne mich ausdrücklich noch einmal zu meinem auswärtigen Landesverrat, den ich bei Gelegenheit des 150. Geburtstages von Bahr an dieser Stelle mutwillig beging (siehe „Hermann Bahr: Die tiefe Natur“, in der Rubrik JAHRESTAGE, 19. Juli 2013).

Lässt man innerösterreichische Aufgeregtheiten aus 1963 beiseite, bleibt immer noch als Rest die Frage, seit wann über Literatur anhand der vermeintlichen oder tatsächlichen Charaktere ihrer Verfasser zu urteilen wäre. Warum muss der Autor einer unleugbaren Oberpeinlichkeit wie „Kriegssegen“ (1915), die Bahr weder ungeschehen machen konnte oder auch nur wollte, unter der kritischen Dampfwalze büßen, obwohl doch Autoren in knapper Bataillonsstärke zunächst oder länger in vollkommen ähnliche Kriegsbegeisterung ausgebrochen waren, als jener Krieg begann, der dem Feuilleton 2014 vom ersten Tag an die Seiten füllt. Man muss die Namen nicht aufzählen, manche lernten schnell, wenn sie als Armierungssoldat im flandrischen Schlamm schippten, manche erlebten Stahlbäder in der Etappe oder mit dem Fernglas am kavalleristischen Auge. Einige waren schon gefallen, ehe der ganze Irrsinn die Spur einer Chance hatte, ihnen irreversibel bewusst zu werden. Natürlich ist jener Brief an Hofmannsthal, an dem sich Kraus bis zum drohenden Milzriss belustigt, ein Missgriff sondergleichen. Aber war es das damit?

Man kann bei Karl Kraus und Hans Weigel bezüglich Hermann Bahr intellektuelle Rufmordtechniken studieren, in deren Vollzug ihre Ausüber sogar in Kauf nehmen, sich selbst zu besudeln. Die rotzige Arroganz gegenüber der Provinz und ihrer Oberösterreich-Hauptstadt Linz lässt sich aber auch lesen als Bestätigung genau jenes Urteils über Wien und die Wiener, das Hermann Bahr in seinem schmalen, zuerst 1907 erschienenen Buch „Wien“ mit frappierender Frischegarantie zu Papier gebracht hat. Die Neuausgabe des Büchleins in der vielbändigen Edition „Kritische Schriften in Einzelausgaben“, es ist der Band XXII (Weimar 2012), vermittelt allen, denen das kostenlose Herunterladen einer PDF-Datei aus dem wissenschaftlichen Gesamtprojekt nicht fasslich genug ist, eine sehr feine Vorstellung von Bahr. Der natürlich Sätze geschrieben hat wie den, den Weigel aus dem Bahr-Buch „Dialog vom Marsyas“ zitiert. Der Stilwille führt zuweilen in der Literatur zu Effekten wie der missratene Kunstschuss beim Freistoß auf dem Fußballfeld: Geht er rein, wird er Tor des Jahres, haut er die Hintertorkamera in den Dreck, lacht das halbe Stadion. Bahr hat seinem Stilwillen nicht selten zu viel Freiraum gelassen.

Das Buch „Wien“ aber ist eins, das die Ehrenbezeigung eines höchstamtlichen Verbots auf sich zog. Bei aller gebotenen Vorsicht in solchen Fällen, manches Verbot im Laufe der Geschichte attestiert weniger die Qualitäten ihres Gegenstandes als die zuweilen geradezu erschütternde Dummheit ihrer Urheber: hier ist ein Buch mit Potential verboten worden. Es vermittelt Wiener Geschichte, erklärt den besonderen Charakter von Wien und seinen Bewohnern, Freundlichkeit dominiert dabei nicht vordergründig, eher der Wille, Erklärungen zu liefern. Einer wie Bahr nimmt die Gelegenheit beim Schopf, in den gewählten Rahmen passende Exkurse zu setzen, wo ein anderer vielleicht keine drei Sätze verbraucht hätte. So haben wir in diesem „Wien“ eine ziemliche Grillparzer-Schlachtung zu begleiten, ausgleichend und (für mich auf alle Fälle) hoch stimmend dagegen die Hymne auf Ferdinand Nürnberger. Schande über uns, dass wir uns alle darein finden, den noch weniger als wenig zu kennen. Der belegt schlagend, dass das angeblich berüchtigte Wiener Feuilleton keineswegs nur auf Glatzen Locken drehte im Sinn von Karl Kraus. Wozu der Substanz gehabt hätte, lässt sich bei Bahr in „Wien“ nachlesen.

„Er hatte nacheinander sämtliche denkbaren Überzeugungen, aber das mag eine Art Entwicklung gewesen sein.“ Schrieb Hans Weigel. Zu Lebzeiten, also deutlich früher, Hermann Bahr selbst: „Ich habe fast jede geistige Mode dieser Zeit mitgemacht, aber vorher, nämlich als sie noch nicht Mode war.“ Es fällt ins Auge, wie ein und dasselbe Phänomen zugunsten oder gegen den Angeklagten ausgelegt werden kann. Bahr war Trendsetter, Avantgardist, Entdecker, Auf-den-Begriff-Bringer, der alles in allem betrachtet seine stärksten Leistungen wohl doch in den Texten erbracht hat, die jetzt die zwei Dutzend Bände der „Kritischen Schriften“ füllen. Man kann aber in Zeiten, da selbst ehrenwerte Verlage mit ihrer neuen Frühjahrskollektion die eigenen Hervorbringungen zur vorigen Messe aus Sortiment und Backlist kegeln, allenfalls noch nachdenken, ob das eine oder andere auf Book-on-Demand-Basis gehalten werden könne, einem großen Autor nicht das Vergessensein anlasten, das seine Dramen, Romane, Erzählungen ereilte. Vielleicht läsen wir begeistert, wenn wir dürften und nicht vom Synchron-Feuilleton von, neudeutsch, Must-Have zu Must-Have geprügelt würden. Bis die nächste Frühjahrskollektion auf den Bügeln des Massenbuchhandels baumelt.

Friedmar Apel hat im Oktober 2013 bei Gelegenheit des Briefwechsels von Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal nicht nur die Herausgeberin Elsbeth Dangel-Pelloquin in hohen Tönen gelobt, er hat auch ganz selbstverständlich die große kulturgeschichtliche Bedeutung eben beider Beteiligten gewürdigt, keine süffisanten Nebensätze. Acht Jahre zuvor, 2005, war es Helmuth Kiesel, der den beiden ersten Bänden der „Kritischen Schriften“ (Weimar 2004) ein „Endlich!“ zurief und schrieb: „Nun kann man Bahr also nicht mehr nur aus zweiter Hand zitieren, sondern wieder richtig lesen. Aber lohnt sich das auch? Jawohl, es lohnt sich.“ Und abschließend: „Bahr war nicht nur ein Meister der Beobachtung; er war auch ein Meister der Profilierung und Pointierung. Und er schrieb einen Stil, der weder etwas Biedermeierliches noch etwas Pedantisches hat, sondern ganz und gar modern wirkt und von federnder Dynamik ist, den Leser anspricht und nicht nur bei Interesse, sondern auch bei Laune hält.“ Über „Wien“ ließe sich das wiederholen, tatsächlich aber haben außer den beiden ersten Bänden, soweit ich es überschaue, alle weiteren keine eine breitere Öffentlichkeit ansprechende Resonanz mehr gehabt.

Ein längerer Satz vom Beginn sei zitiert: „Der Wiener ist ein mit sich sehr unglücklicher Mensch, der den Wiener hasst, aber ohne den Wiener nicht leben kann, der sich verachtet, aber über sich gerührt ist, der fortwährend schimpft, aber will, dass man ihn fortwährend lobt, der sich elend, aber eben darin wohl fühlt, der immer klagt, immer droht, aber sich alles gefallen lässt, nur nicht, dass man ihm hilft – dann wehrt er sich.“ Das an Substanz muss man erst einmal in einen Satz packen, es ersetzt einige, natürlich nicht alle Wien-Bücher. Bahr durchstreift die Geschichte von den Babenbergern bis zu den Habsburgern, räumt dem keltischen Element eine Rolle ein, die vielleicht bewusst übertrieben wird, aber stimmige Thesen liefert, die gern bis zum Beweis eines Gegenteils stehen bleiben dürfen. Von den Habsburgern behauptet Bahr: „... allen ist gemein, dass ihnen der Sinn für das Wirkliche fehlt. ... Sie sind unfähig, sich vorzustellen, dass irgendetwas sein muss.“ Dergleichen las man bei Kaisers natürlich nicht sonderlich gern zwischen Hofburg und Schönbrunn. Bahr zählte welthistorische Chancen auf, die von Habsburgern als solche nicht erkannt oder ausgeschlagen wurden, stolz macht das nicht.

Von einer „Nation der Hofräte“ ist die Rede, und von den Gebildeten, herrlich: „Aber mit dem Leben hat die Bildung nichts zu tun. Der Gebildete vermeidet es. Es zu vermeiden, ist ja gerade die Bildung.“ Ebenfalls herrlich, deshalb abermals zitiert: „Der Wiener geht sich begeistern oder sich entrüsten, wie man baden geht.“ Und: „So wurde sein Wesen, keines zu haben.“ Bahr schildert, wie Wien mit Beethoven umging. Und zitiert ellenlang den schon genannten Ferdinand Kürnberger (1821 – 1879), von dem sich in den vergangenen vierzig Jahren meines Wissens außer „Der Amerikamüde“ nichts in den satten Buchmarkt verirrt hat. Es wäre als Nebenwirkung dieser Bahr-Bände zu wünschen, dass irgendein tapferer Kleinverlag bei Kürnberger gründelt, Lehmstedt wäre für so etwas prädestiniert, weil der auch noch schöne Bücher macht, aber Kürnberger hat halt mit Leipzig nichts zu tun. Oder vielleicht doch? Hinten im Buch, das wie alle sehr sauber und gut mit Apparat versorgt ist, gibt es noch einen Anhang zum Verbot. Am 15. Januar 1934 starb Hermann Bahr. Der auch zu Shakespeare sehr Kluges zu schreiben wusste. Dazu gelegentlich.

P.S. Von mir neu im Buchhandel: „Meine ärgsten Freunde. Ein Vierhundert-Tage-Buch“; ISBN 978-3-95618-120-7, Softcover, 19,80 Euro.
Begrenzt lieferbar auch mein „Kulturschock NVA. Briefe eines Wehrpflichtigen 1971 – 1973, ISBN 978-3-86153-711-3, Hardcover, 19,90 Euro

 

 


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